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Die Kunst der wohlgetimeten Eskalation

Die Spannungen am Golf nehmen täglich zu, gleichzeitig droht Chinas Börsenkrise die Welt mal wieder anzustecken: Warum gerade jetzt?

Vor einer Woche ließ die saudische Regierung einen schiitischen Prediger hinrichten, es folgten wütende Proteste im Iran, die wiederum für Riad der Grund oder Vorwand waren, die diplomatischen Beziehungen einzustellen. Inzwischen sind auch Flüge und der Import von iranischen Pistazien und eingelegtem Gemüse eingestellt, und zeitweise beschuldigte Teheran Riad gar, seine Botschaft im Jemen bombardiert zu haben - später hieß es jedoch, die Bomben seien "nur" in der Nachbarschaft der Botschaft detoniert.

Synchrone Zuspitzungen weltweit

Gleichzeitig in China: Nachdem es in den letzten Monaten tendenziell aufwärts ging, stürzten am Montag vergangener Woche angesichts schlechter Konjunkturdaten und eines leichten Absackens des Yuan-Kurses die Börsen mal wieder ab. In Shanghai wurde nach einem siebenprozentigen Verlust der Handel aufgrund einer neuen Regelung ("circuit breaker") für den Tag ausgesetzt, am Donnerstag passierte dasselbe - nur noch schneller. Es ist umstritten, ob die Regel die Kursstürze sogar noch begünstigt hat, bis auf weiteres wurde sie zumindest ausgesetzt.

Die Ansteckung ließ nicht lange auf sich warten, die meisten großen Aktienindizes verloren im Verlauf der Woche fünf Prozent und mehr. Unangenehm gerade insofern, als die US-Notenbank Fed erst Mitte Dezember aufgrund der "stabilen Wirtschaftslage" die Leitzinsen nach langem Zögern endlich erhöht hatte. Nun wird mit Bangen erwartet, ob die chinesische Zentralbank oder eine andere Behörde bis Montag einen Trumpf aus dem Ärmel schüttelt, um die "Märkte zu beruhigen".

Gleichzeitig in Korea: Der Norden behauptet, am Dienstag testweise eine Wasserstoffbombe gezündet zu haben. Daran gibt es trotz bestätigter Erschütterung in der Testregion international starke Zweifel, doch die öffentliche Aufregung ist da. Und es gibt natürlich eine Reaktion: Südkorea hat begonnen, den nördlichen Bruderstaat wieder mit seinen berüchtigten riesigen Propagandalautsprechern über die Grenze zu beschallen - nach offiziellen Angaben sind diese nachts noch in 24 km Entfernung zu hören.

Warum gerade jetzt? Benötigt Pjöngjang Lebensmittel oder Brennstoffe und möchte diese erpressen, wie Manche sicher wieder vermuten? Oder besteht ein Zusammenhang mit der angekündigten Eröffnung der großen neuen koreanisch-amerikanischen Marinebasis auf der Insel Jeju südwestlich der Halbinsel?

Am 14. Juli wurde das "Atomabkommen" der P5+1 mit dem Iran unterzeichnet und sechs Tage später vom UN-Sicherheitsrat bestätigt. Das bedeutete einerseits einen weitreichenden geopolitischen Umbruch, andererseits aber auch die Einigung auf ganz konkrete Maßnahmen: Der Iran verpflichtete sich auf eine Beschränkung seines Atomprogramms, was insbesondere den Verzicht auf höher angereichertes Uran (außer für den Forschungsreaktor in Teheran) und die Begrenzung der Zahl seiner Uran-Zentrifugen beinhaltet. Sobald dies von internationalen Inspektoren der IAEA bestätigt wird, heben nach dem vereinbarten Zeitplan die Vereinten Nationen sowie EU und USA die gegen das Land verhängten Sanktionen auf.

Es wurde erwartet, dass dies im Frühjahr 2016 der Fall sein würde, doch die iranische Regierung hatte es offenbar eilig: Schon im November wurde mit dem Abbau "überzähliger" Zentrifugen begonnen, Ende Dezember dann etwa 11 Tonnen höher angereichertes Uran nach Russland verschifft. Am vergangenen Donnerstag sagte US-Außenminister Kerry dann, die Umsetzung sei nur noch "Tage entfernt" - und damit könnten die Sanktionen noch rechtzeitig vor den iranischen Parlamentswahlen am 26. Februar aufgehoben werden, wovon sich Präsident Rouhani Vorteile für seine Parteigänger erhofft.

Zweimal ist Zufall - aber dreimal?

Die Vermutung, dass es den Saudis bei ihrer Eskalation darum geht, den im Juli vereinbarten Prozess doch noch zu blockieren, drängt sich förmlich auf; gleiches gilt für die jüngst in den USA laut gewordenen Forderungen nach neuen Sanktionen aufgrund eines Raketentests im Oktober. Solche Tests sind dem Land zwar laut einer Resolution des UN-Sicherheitsrats untersagt, haben jedoch nichts mit den wechselseitigen Verpflichtungen aus dem "Atomabkommen" zu tun.

Das Zusammentreffen dieser Entwicklungen kann natürlich bloßer Zufall sein, aber ein Blick zurück in die jüngere Geschichte macht skeptisch. Am 14. Juli wurde das Abkommen mit 14-tägiger Verspätung feierlich unterzeichnet, am 2. September war seine Unterstützung durch eine ausreichend große Minderheit im US-Senat sichergestellt, und vom 10. bis 17. September scheiterten erwartungsgemäß drei Anläufe, es zu Fall zu bringen. Vor jedem wichtigen Etappenziel dieses Prozesses war eine starke Zunahme der Spannungen auf der Arabischen und/ oder der koreanischen Halbinsel zu beobachten. Und vor jedem der drei entscheidenden Schritte gab es starke Turbulenzen an Chinas Finanzmärkten, die sich mehr oder minder stark global ausbreiteten.

Schrittweise Ausweitung des Krieges im Jemen

Nachdem am 19. Juni die Friedensgespräche für den Jemen an offensichtlichem saudischen Unwillen gescheitert waren, intensivierte Riads arabische Koalition die Angriffe auf das Land in Vorbereitung der Besetzung (oder ‘Befreiung’, je nach Perspektive) von Aden, die Mitte Juli begann. Auch kurz vor dem erfolgreichen Abschluss der "Atomverhandlungen" ging also von Saudi-Arabien eine Eskalation in der Region aus. Die Bombardierung Jemens hatte nebenbei bemerkt am 25. März begonnen, eine Woche vor der Einigung auf die Eckpunkte eines Abkommens in Lausanne.

Ende August, also während der entscheidenden Phase der US-Debatten um den Wiener "Irandeal", marschierten die Saudis angeblich mit Bodentruppen in die nordwestliche Provinz Saada ein - diese Information ist jedoch höchst umstritten. Sicher ist hingegen, dass am 4. September eine Rakete in Safir (Provinz Marib, östlich von Sana'a) zahlreiche Soldaten der Golfkoalition tötete, die sich dort offenbar auf einen Vorstoß auf die Hauptstadt vorbereiteten. Daraufhin weiteten die Saudis ihre Luftangriffe noch einmal massiv aus.

Bereits am 20. August war es außerdem an der innerkoreanischen Grenze nach wochenlangen Auseinandersetzungen zu einem Artilleriefeuerwechsel gekommen, für den sich beide Staaten gegenseitig verantwortlich machten. Nachdem dies einige Tage lang für extreme Spannungen gesorgt hatte, einigte man sich jedoch auf eine Deeskalation.

Drei Börsencrashs zur rechten Zeit

In den Wochen vor der denkwürdigen Übereinkunft von Wien waren aller Augen schon einmal auf Chinas Börsen gerichtet: Am 16. Juni platzte dort eine Blase, die in den Monaten zuvor epische Ausmaße angenommen hatte. Die internationalen Finanzmärkte reagierten nervös, auch wenn sich die sichtbare Ansteckung in Grenzen hielt, so gaben andere größere Börsen während Chinas mehrwöchigen Kurssturz zwischen 3 und 5 Prozent nach. Lediglich der Ölpreis zeigte eine deutlichere Reaktion: Der Preis für die US-Sorte WTO fiel bis Ende August von etwa 60 auf 38 Dollar, vermutlich ausgelöst durch die Aussicht auf einen geringeren Bedarf in Fernost.

Nachdem erste Gegenmaßnahmen der Zentralbank kaum Wirkung zeigten, fuhr Beijing am 8. Juli schwereres Geschütz auf, verbot größeren Anteilseignern für sechs Monate, diese zu verkaufen; auch wurden juristische Untersuchungen gegen "bösartige" Leerverkäufer angekündigt. Das zeigte Wirkung. Ab dem Folgetag zeigten die Kurven weltweit wieder nach oben. Was wäre passiert, wenn Beijing nicht derart robust eingegriffen hätte?

Nachdem sich die Märkte von diesen Ereignissen einigermaßen erholt hatten, folgte am 11. August der nächste Schock - und wieder kam er aus China: Beijings Zentralbank führte ein neues Wechselkursregime ein, das innerhalb von drei Tagen zu einem fünfprozentigen Fall des Yuankurses führte (in Dollar). Obwohl dieser Schritt oft als reine Abwertung interpretiert wurde, sollte nicht übersehen werden, dass die Liberalisierung des Yuans eine wichtige Voraussetzung für die Aufnahme in den Währungskorb der Sonderziehungsrechte des IWF war. Was immer die Motivation war, der Schritt führte jedenfalls zu einiger Verunsicherung, und am 18. August stürzte die Shanghaier Börse erneut ab.

Nach einer schwammigen Erklärung der amerikanischen Fed zur anstehenden Zinserhöhung wurden am Folgetag sämtliche großen Handelsplätze vom Abwärtstrend erfasst: Innerhalb weniger Tage verloren ihre Indizes über 10 Prozent, der Shanghai Composite sogar 25. Auch dieses Mal legte sich jedoch der Sturm, nachdem die Zentralbank durch Geldzufuhr interveniert und Chinas Behörden fast 200 Personen wegen des "Verbreitens von Gerüchten" inhaftiert hatten, darunter mindestens einen Finanzjournalisten. Wieder hatte Beijing die Märkte der Welt vermutlich vor größerem Schaden bewahrt infolge einer Krise, die sein eigenes Finanzsystem ausgelöst hatte.

Tauziehen um das Iran-Abkommen zwischen Beijing und Riad

Auch wenn alles immer noch eine Verkettung merkwürdiger Zufälle sein kann: Es entsteht der Eindruck, dass die chinesische Regierung die Drohung mit einer Kernschmelze des Weltfinanzsystems als politisches Druckmittel benutzt, um Schritt für Schritt die Umsetzung des "Atomabkommens" mit dem Iran zu erzwingen. Gleichzeitig versuchen Saudi-Arabien und seine Verbündeten offenbar weiterhin mit aller Kraft, ebendieses Abkommen zum Scheitern zu bringen.

Dazu betreibt Riad die ständige Verschärfung militärischer und diplomatischer Spannungen, vermutlich in der Hoffnung, dass die Gegner irgendwann die Nerven verlieren und überreagieren: Wenn der Iran plötzlich in der Weltöffentlichkeit als "Aggressor" dastünde, ließe sich eine Aufhebung der Sanktionen kaum durchsetzen - schon gar nicht kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen. Alternativ wäre aus Sicht der Saudis sicher auch ein inner-iranischer Konflikt wünschenswert, bei dem die rechten Hardliner den Präsidenten zwingen, den Annäherungsprozess an den Westen abzubrechen.

Unklar bleibt dabei, welche Rolle Nordkorea in dieser Inszenierung spielt - wenn überhaupt. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass das Regime in Pjöngjang international weitgehend isoliert und dem Anschein nach auch ziemlich paranoid ist. Das macht es zum leicht manipulierbaren Spielball, der einerseits aus den ihm verfügbaren Informationen seine Schlüsse ziehen muss, dem andererseits aber in Verhandlungen wenig Glauben geschenkt wird. Ein ideales Opfer also für gezielte Fehlinformationen und geheimdienstliche Fälschungen.

Die Zeichen stehen auf (kontrollierter?) Eskalation

Wenn nunmehr, wie John Kerry sagt, die vollständige Umsetzung der Bedingungen seitens des Iran und damit auch die Aufhebung der Sanktionen eine Sache von wenigen Tagen sind, dann kann es kaum verwundern, dass in Riad alle Alarmglocken schrillen. Das bedeutet, dass eine weitere deutliche Eskalation in allernächster Zukunft niemanden überraschen sollte, ob nun im Jemen, in Saudi-Arabien selbst oder anderswo.

War am Ende der vor wenigen Tagen geäußerte Plan, den staatlichen Ölriesen Saudi Aramco - das vermutlich bei weitem wertvollste Unternehmen der Welt - an die Börse zu bringen, eine versuchte Bestechung der westlichen Staaten? Für deren Finanzmärkte wäre diese unverhoffte Chance zur Expansion wie Weihnachten und Ostern an einem Tag.

Doch auch Chinas Regierung schläft nicht und hat mit Sicherheit Möglichkeiten, die aktuelle Finanzmarktschwäche zu verschärfen - und sei es nur, indem sie die Märkte unangenehm überrascht und dieses Mal einfach zusieht und abwartet. Die sechsmonatige Frist, innerhalb derer Inhaber großer Aktienpakete nicht verkaufen durften, endete just am Freitag, allerdings wurde am Vortag bereits eine ähnliche, wenn auch deutlich abgeschwächte Regelung beschlossen.

Ob dies ausreichend ist und ob weitere Maßnahmen zur Stabilisierung beschlossen werden, werden wir wohl schon sehr bald erfahren. Eines dürfte zumindest allen Beobachtern klar sein: Im Gegensatz zu den westlichen Zentralbanken hat die chinesische PBoC noch ausreichend Pulver, um die Märkte in ihrem Sinne zu beeinflussen. Und um dem Nachdruck zu verleihen, scheut Beijing auch nicht vor autoritären Eingriffen in das Marktgeschehen zurück, die der (Finanz-)Wirtschaft verdeutlichen, wer in China an den entscheidenden Hebeln sitzt.

Dieser Artikel ist der erste einer Serie über Saudi-Arabiens Rolle in der Welt. Im zweiten Teil "Die Saudis rüsten zur letzten Schlacht" wird es um die aktuelle Kriegsstrategie des Königreichs gehen.

Der Autor beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen der Geopolitik und Geoökonomie sowie des europäischen Einigungsprozesses, seit Kurzem betreibt er den Blog geopolitikblog.wordpress.com [1]. Auf Twitter kommentiert er als @smukster.


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