"Die Linke hat jede Orientierung verloren"

Seite 2: "Okzidentales Herrschaftsmodell, das zur Ruinierung des Planeten geführt hat"

Inwiefern haben rationales Denken, Gerechtigkeit, Autonomie und Wissenschaft überhaupt etwas mit dem "männlichen Blick" zu tun?

Bernhard Schindlbeck: Dass wir in einer grundsätzlich patriarchalisch geprägten Gesellschaft leben, ist kein Geheimnis. Dass die meisten gesellschaftlichen Prozesse, also auch die Wissenschaftsorganisation, das herrschende Rationalitätsverständnis, das Recht etc. dementsprechend gefärbt sind, ist nur logisch.

Was aber rationales Denken, Gerechtigkeit und Autonomie wirklich sind, ist – obwohl sie alle generell gerne in Anspruch genommen werden – doch sehr umstritten. Wenn jemand sagt, dass der plausibelste Autonomiebegriff (wörtlich: Selbstgesetzgebung als Freiheit) von Kant stammt, wird er oder sie sofort unter "Idealismus" einsortiert.

Wenn man Rationalität als die bloße Fähigkeit, Syllogismen nachzuvollziehen, oder mit Max Weber als Adäquatheit von Mitteln für einen gesetzten Zweck begreift, steht hinter ihr auch das okzidentale Lebens- und Herrschaftsmodell, das zur Ruinierung des Planeten geführt hat, weil die gesetzten materiellen Zwecke meist an Macht und Profit orientiert, also egoistisch, blind und borniert waren.

Habermas nimmt immer die Vernunft für sein Denken in Anspruch, aber ist es wirklich so vernünftig, das demokratische Herrschaftsmodell des Lobbyismus und der Hegemonie des Geldes zu verteidigen, das in Wahrheit eine oligarchische Plutokratie ist und mit Deliberation herzlich wenig zu tun hat?

Unter Gerechtigkeit versteht vermutlich jeder Mensch also etwas anderes. Hans Kelsen sagt, sie (vor allem ihr Gegenteil: Ungerechtigkeit) sei ein subjektives individuelles Gefühl, für das es keine Möglichkeit der Objektivierung gebe. Es gibt in der Tat keine Kriterien und Prinzipen der Gerechtigkeit, die allgemein anerkannt wären. Das suum cuique ist eine Leerformel, die nach Belieben gefüllt werden kann.

"Frauen in Konzernvorständen agieren nicht anders als Männer"

Und wie kommt hier explizit der "männliche Blick" ins Spiel?

Bernhard Schindlbeck: Dieser zieht sich von Aristoteles ("Frauen verfügen über weniger Vernunft als Männer") über Paulus ("Mulier taceat in eccleasia") bis Kant ("Alles Frauenzimmer, Gesinde und Kinder können in der Republik kein Stimmrecht haben") und in das 20. Jahrhunderts. (Kommt Freuds Theorie vom Penisneid etwa nicht durch den männlichen Blick zustande?)

Klar war er von Anfang an auch in den modernen Wissenschaften am Werk, schon in der verbreiteten Auffassung, dass Frauen dort am falschen Platz seien. Das hat sich geändert, aber nur 24 Prozent der Lehrstühle in Deutschland sind von Frauen besetzt. Beim Nobelpreis für Physik gibt es bislang 214 Preisträger und 4 Preisträgerinnen. Wie sollte ein jahrhundertealter männlicher Blick in wenigen Jahrzehnten korrigiert oder ersetzt werden?

Die Frage ist, wieviel mit Quoten und der Auflösung des gender pay gap erreicht wird. In der so genannten zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre, hatten nicht nur Frauen die Hoffnung, dass Frauen, so sie einmal "an der Macht" wären, die Sache ganz anders und besser machen würden. Aber Thatcher, Merkel, May, Lagarde, Hilary Clinton, von der Leyen usw. haben das dann schnell widerlegt, und eigentlich schon Golda Meir und Indira Gandhi, die alle mit einem sehr männlichen Blick und Herrschaftsregime regierten.

Frauen in Konzernvorständen agieren nicht anders als Männer. Die nicht-dogmatische Antwort auf die (nicht essentialistisch gemeinte) Frage: "Wie sieht denn ein weiblicher Blick aus?" steht bisher aus. Oder nicht?

Aber vielleicht ist auch die Rede vom "männlichen Blick" schon eine unzulässige Essentialisierung. Wenn das Wort erst einmal pauschal negativ konnotiert ist, wird es zu einer Art selbstklebendem Etikett.

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