"Die Linke hat jede Orientierung verloren"

Seite 3: "Problematisch wird es, wenn man das Ergebnis zu einer Naturalisierung macht"

Findet in diesen Politikformen eine Essentialisierung von Kategorien wie Ethnie, sexuelle Ausrichtung, Geschlecht etc. statt?

Bernhard Schindlbeck: Im Interview mit Günter Gaus sagte Hannah Arendt 1964: "Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt. Sie soll versuchen, nicht in solche Positionen zu kommen, wenn ihr daran liegt, weibliche Qualitäten zu behalten." Man kann sich vorstellen, wie wegen dieses Satzes heute von vielen Seiten über sie hergefallen würde. Dennoch: Gibt es "weibliche Qualitäten" und, falls ja, wie wichtig sind sie?

"Essentialisierung" geht ja zurück auf die Frage nach dem Wesen von etwas oder jemandem. Was immer man betrachtet, es stellt sich die Frage: "Was ist es, dies zu sein?" schreibt Aristoteles in seiner Metaphysik. Und diese Frage ist ja nicht falsch oder blöd.

Problematisch wird es, wenn man das Ergebnis – so wie Aristoteles etwa in Bezug auf Frauen oder Sklaven – zu einer Naturalisierung macht. Frauen und Sklaven haben "von Natur aus" weniger Vernunft, behauptet er. Solche auf bloßen Behauptungen beruhenden Naturalisierungen haben den Zweck, ein Merkmal als unveränderlich, weil "natürlich" und von der Natur gegeben, festzuschreiben.

Es geht dabei in der Regel um die Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung, die eben immer eine Herrschaftsordnung ist. Im christlichen Abendland wird die natürliche durch die ebenfalls unveränderliche "gottgegebene Ordnung" ersetzt. Und Kant macht dann eine "a priori vernünftige" Ordnung daraus. Es geht immer um Bewahrung der Herrschaft.

"Auch in der Demokratie muss das Ressentiment als Kitt der permanent scheiternden Klassengesellschaft bedient werden"

Was passiert nun, wenn sich identitätspolitische Akteure auf dieses Spiel einlassen?

Bernhard Schindlbeck: Nach meiner Auffassung wird dann die Sache desaströs. Was heißt schon "Ethnie" und welche Bedeutung will man ihr geben? Mit der Frage "Was ist deutsch?" ist man schon ausweglos im intellektuellen Tiefparterre gelandet. Sexuelle Orientierung ist nicht unveränderlich. Ist die Pigmentierung der Haut von Bedeutung?

Definitiv ja, wenn etwa Eldrige Cleaver in Soul on Ice sagt: "Wir werden Menschen sein. Wir werden es sein, oder die Welt wird dem Erdboden gleichgemacht bei unserem Versuch, es zu werden." Definitiv nein, wenn Kinder im Kindergarten gemeinsam spielen.

Sie lernen dann gar nicht erst, dass die Hautfarbe von Bedeutung ist. Aber sie wird dann doch wieder von Bedeutung, wenn People of Color sich selber (Stichwort Postkolonialismus) in Beziehung setzen zu den von fast allen europäischen Nationen begangenen Menschheitsverbrechen des Kolonialismus, der Genozide und der Sklaverei.

Der Hautfarbenrassismus wurde ja erfunden, um die Sklaven als Menschen abzuwerten und wie Gegenstände behandeln zu können, nur um billige Arbeitskräfte zu bekommen. Das ist der Ursprungszusammenhang von Ökonomie und Rassismus.

Man hat zwar aufklärerisch von universellen Menschenrechten gesprochen, trotzdem waren viele der Aufklärung verpflichtete große Männer, z.B. Thomas Jefferson, George Washington, Benjamin Franklin und viele weitere Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Sklavenhalter.

Das ist alles noch nicht "aufgearbeitet", und der Rassismus ist (obwohl man das N-Wort im öffentlichen Diskurs nicht mehr hört) keineswegs – so wenig wie der Antisemitismus – verschwunden. Auch in der Demokratie muss das Ressentiment als Kitt der permanent scheiternden Klassengesellschaft bedient werden; dass der Rassismus immer mehr diskreditiert wird, das geschieht noch nicht sehr lange.

Aber nach den Juden und Schwarzen nimmt das brave Bürgertum jetzt die Fremden und Flüchtlinge ins Visier. Aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft kommt ja ursprünglich die Essentialisierung im Sinne einer ideologischen, naturalisierenden Fremdzuschreibung. Die wird dann von betroffenen Gruppen manchmal übernommen und positiv umgemünzt (black is beautiful) um sich zu wehren.

Das funktioniert aber nicht immer so ohne weiteres, und dann kommt der Angriff anderer "linker" Gruppen mit dem Vorwurf, eine solche vermeintlich "kämpferische" Selbst-Essentialisierung sei grundfalsch. Dann ist der Schlamassel wieder fertig und das Durcheinander (wer mit wem gegen wen?) wieder da.

"Grundsätzlich sollte man mit der Wendung von Natur aus sehr vorsichtig sein"

Das erinnert mich an die Entwicklung des Feminismus…

Bernhard Schindlbeck: An diesem Beispiel sieht man es mustergültig. Irgendwann haben manche unter den damals progressivsten Vertreterinnen der Frauenbewegung das "natürliche Frausein" entdeckt und ideologisch festgeschrieben, dann die nächsten die "Mütterlichkeit" – und fanden sich schnell im konservativ-reaktionären Familienbild der politischen Rechten wieder.

Dass (mit Schiller) die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder im Heim und am Herd waltet, ist natürlich eine essentialistische Dummheit; das aber bedeutet nicht, dass jede Frau, die sagt "Ich bleibe lieber zu Hause und kümmere mich um die Kinder, statt bei Penny an der Kasse etwas hinzuzuverdienen" vom Patriarchat resp. ihrem Mann gehirngewaschen ist.

Dass man Selbstverwirklichung ausgerechnet in der Tretmühle täglicher Maloche findet, stimmt nämlich auch nicht so ganz. Die Welt und das Leben sind also oft dialektischer, als wir es uns zu denken trauen.

Der schwule katholische Kommunist Pasolini, by the way, war einer der wenigen, die das überrissen haben. Grundsätzlich sollte man mit der Wendung "von Natur aus" sehr vorsichtig sein. Das Wenigste ist "von Natur aus" so, wie es ist; Natur wird immer kulturell und gesellschaftlich überformt. Und genau so vorsichtig sollte man sein, wenn etwas – egal ob von den Eltern oder den Lehrern oder Jürgen Habermas – als "vernünftig" deklariert wird.

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