Die Post-Wagenknecht-Linke
- Die Post-Wagenknecht-Linke
- Auf dem Weg zur ökolibertären Partei der urbanen akademischen Mittelschichten
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Die Linke nach ihrem Bundesparteitag: Für kommende Auseinandersetzungen gut aufgestellt?
"Die linken Parteien haben ihre frühere Wählerschaft im Stich gelassen." So beschrieb Sahra Wagenknecht in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Situation der Linken:1
Was heute als links gilt, hat mit den traditionellen Anliegen linker Politik oft nicht mehr viel zu tun. Statt um soziale Ungleichheit, Armutslöhne und niedrige Renten drehen sich linke Debatten heute oft um Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestyle-Fragen. Diejenigen, für die linke Parteien eigentlich da sein sollten, also die Beschäftigten, die untere Mittelschicht, die Ärmeren, wenden sich deshalb ab. Von Arbeitern und Arbeitslosen werden linke Parteien kaum noch gewählt. Die linken Parteien sind Akademikerparteien geworden.
Linke Parteien sind heute vor allem in der urbanen akademischen Mittelschicht verankert, da kommen viele ihrer Mitglieder und Funktionsträger her. Vor allem letztere sind oft unter privilegierten Bedingungen aufgewachsen und haben kaum einen Zugang zum Leben normaler Menschen.
Sahra Wagenknecht
Ganz ähnlich formulierte es der Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Fabio de Masi, in einem Schreiben, in dem er seine Gründe dafür nannte, weshalb er nicht noch einmal für den Bundestag antritt:2
Parteien in der Tradition der Arbeiterbewegung waren immer lebensnah. Sie kannten die Lebenswirklichkeit der Menschen, die von ihrer Hände Arbeit lebten. Sie haben Grundwerte wie Solidarität durch Verankerung in der Lebenswelt der Beschäftigten verteidigt. Die Debatten der Meinungsführer in den akademischen Milieus, die Codes der digitalen Empörung und Hashtags, die häufig nur wenige Stunden überdauern und nichts kosten, sind dafür kein Ersatz. (…) Identität ist wichtig im Leben. Sie darf aber nicht dazu führen, dass nur noch Unterschiede statt Gemeinsamkeiten zwischen Menschen betont werden und sich nur noch 'woke' Akademiker in Innenstädten angesprochen fühlen. Eine Politik, die nur noch an das Ego und die individuelle Betroffenheit, aber nicht mehr an die Gemeinschaft appelliert, ist auch Donald Trump nicht fremd.
Fabio de Masi
Die so von Wagenknecht und de Masi kritisierte Partei Die Linke denkt aber nicht daran, sich dieser Sicht anzuschließen. Auf ihrem Ende Februar 2021 online abgehaltenen Bundesparteitag blickte Katja Kipping vielmehr selbstzufrieden auf fast neun Jahre Politik an der Parteispitze zurück. Unter der Überschrift "Was wir in den letzten Jahren erreicht haben" nannte sie an erster Stelle "die neuen Mitglieder".3
Der Linkspartei gehören gegenwärtig 60.350 Mitglieder an. Vergleicht man diesen Stand mit den Zahlen in den Jahren nach der Entstehung der Partei aus dem Zusammenschluss von PDS und WASG 2007, so ist offensichtlich, dass sie seitdem erheblich geschrumpft ist - damals waren es noch 76.000. Vor allem im Osten verliert sie gegenwärtig weiter an Mitgliedern. Etwa in Sachsen: Deren Zahl ging dort von 8.261 im Jahr 2017 auf 7.416 im Jahr 2020 zurück. Oder in Brandenburg: Dort schrumpfte die Partei in nur drei Jahren von 6.061 auf 5.229.
Selbst in Thüringen, wo sie unter Bodo Ramelow bei Landtagswahlen erfolgreich war, ging die Mitgliederzahl zwischen 2017 und 2020 um 398 zurück. Der Verlust im Osten konnte immerhin in einem gewissen Umfang mit Zuwächsen im Westen - mit Ausnahme des Saarlands - ausgeglichen werden, so dass seit 2018 nicht mehr Sachsen, sondern Nordrhein-Westfalen der mitgliederstärkste Landesverband ist.4
Dass es bei der Mitgliederentwicklung nicht noch schlimmer kam, lag vor allem an den Neueintritten, die für die Amtszeit von Kipping und Riexinger seit 2012 mit 27.000 angegeben wird. Die Partei gewann vor allem junge Mitglieder:
"Der Anteil von unter 35-jährigen Mitglieder stieg von 24 Prozent auf 27 Prozent der Mitgliedschaft. Bei den Neumitgliedern liegt der Anteil von unter 35-jährigen bei 63 Prozent (…), damit verjüngt sich die Mitgliedschaft weiter deutlich", heißt es im Tätigkeitsbericht des Parteivorstandes..5
Es kam zu erheblichen Verschiebungen in der Zusammensetzung der Mitgliedschaft: "In den knapp neun Jahren mit Katja Kipping und Bernd Riexinger als Vorsitzende hat sie sich stark demografisch gewandelt. (…) Das liegt daran, dass die vielfach noch DDR-geprägte Mitgliedschaft im Osten stark geschrumpft ist, und zwar weniger durch Austritte als durch Todesfälle."6
Über die Zahl der Austritte wurden auf dem Parteitag keine Angaben gemacht. Es dürften aber nicht wenige gewesen sein, die die Partei in den letzten Jahren verließen, weil sie etwa mit ihrer Arbeit in Länderregierungen nicht einverstanden waren, oder ihr Parteibuch zurückgaben, da sie nicht länger einer Organisation angehören wollten, in der führende ihrer Mitglieder die DDR zum "Unrechtsstaat" erklärten.7
Die "Emanzipatorische Linke"
Unter den Neumitgliedern dürften sich viele jener finden, die Sahra Wagenknecht in ihrem Interview als der "urbanen akademischen Mittelschicht" zugehörig ansprach, denen die Alltagssorgen der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten fremd sind. Das aber sind genau diejenigen, die von der von Katja Kipping angeführten Parteiströmung "Emanzipatorische Linke" für die Partei umworben werden, für die eben "Sprachsensibilitäten, Gendersternchen und Lifestyle-Fragen" entscheidend sind.
Und so orientiert sich die Alltagspolitik der Linken mehr und mehr an Jugendbewegungen wie Fridays for Future und an Demonstrationen von Black Lives Matter. Die Partei beteiligt sich an Aktionen für das Recht auf Migration, an Kampagnen gegen Nazis und alle die, die man für Rechtsradikale hält, schließlich engagiert man sich vor allem für die Freiheiten der unter LGBTQ versammelten Gruppen.
Zwar wird immer wieder darauf verwiesen, dass sich die politische Arbeit nicht allein auf "Identitätspolitik" zugunsten einzelner gesellschaftlicher Gruppen verenge, sie sich vielmehr auch an Aktionen der Mieterbewegung, etwa mit der Kampagne "Bezahlbare Miete statt fetter Rendite", und mit der Aktion "Pflegenotstand stoppen" auch an gewerkschaftlichen Kämpfen beteilige. Doch diese Aktivitäten stehen nicht im Mittelpunkt ihrer Politik, sie beschränken sich in der Regel auf Auftritte im Internet und auf Unterschriftenlisten.
Gut gemeinte Kampagnen für mehr soziale Gerechtigkeit wie die auf dem Bielefelder Parteitag 2015 beschlossene Aktion "Das muss drin sein" blieben folgenlos. Der vor allem vom Co-Vorsitzenden Bernd Riexinger unternommene Versuch, identitäre Politik mit dem Eintreten für soziale Forderungen unter dem Label "verbindende Klassenpolitik" zusammenzubringen, fand allein auf dem Papier statt.
Viele der neuen, meist jungen Mitglieder dürften hinzugekommen sein, um die Partei nach ihrem Bilde zu formen. Ihnen geht es darum, aus der sich einstmals als sozialistische Kraft verstehenden Linkspartei eine ökolibertäre, an identitären Themen orientierte Partei zu machen. Man orientiert sich dabei an den Grünen und neuerdings auch an den Jungsozialisten, die sich unter Kevin Kühnert ebenfalls auf diesen Weg begeben haben.
Für Kritiker dieses Kurses wird der Raum zunehmend enger
Die beiden jetzt so selbstzufrieden auf ihre Amtszeit zurückblickenden Katja Kipping und Bernd Riexinger vergaßen in ihrer Bilanz anzuführen, dass sich Sahra Wagenknecht 2019 nach einer beispiellosen Ausgrenzungs- und Diffamierungskampagne, an der beide Parteivorsitzende ihren entscheidenden Anteil hatten, entnervt vom Posten der Fraktionsvorsitzenden zurückzogen hat.
Gegenwärtig kämpft sie in Nordrhein-Westfalen um ihre Wiederaufstellung als Kandidatin für den Bundestag - mit ungewissen Ausgang. Fabio de Masi hat mit seinem Rückzug aus dem Bundestag bereits resigniert.
In dieses Bild passt auch, dass bei den Wahlen für den Parteivorstand auf dem Februar-Parteitag prominente Kritiker durchfielen, etwa der Gewerkschaftssekretär und führende Repräsentant der Sozialistischen Linken in der Partei, Ralf Krämer. Nicht gewählt wurde auch Harri Grünberg von Cuba Si.
Die Parteiführung wird es dadurch künftig leichter haben, sich von der bisherigen, gegenüber Kuba solidarischen Politik zu verabschieden. Bei einem kurz vor dem Parteitag bereits unternommenen Absetzungsversuch von Kuba, musste man am Ende noch Kompromisse im Parteivorstand eingehen. Nun ist das nicht mehr länger notwendig.
In einer Stellungnahme der Sozialistischen Linken (SL) in der Partei heißt es zu den Wahlen zum Parteivorstand:8
Die Strömung der "Bewegungslinken", die gemeinsam mit der Antikapitalistischen Linken (AKL) und dem linksliberalen Lager der Partei ein paar Dutzend Stimmen mehr mobilisieren konnte, konnte alle ihre 20 KandidatInnen für den Parteivorstand durchsetzen. Dem gegenüber sind die Vertreter der Sozialistischen Linken, der Kommunistischen Plattform oder der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Hartz IV sowie von Cuba Si nicht mehr in dem 44-köpfigen Gremium des Parteivorstands vertreten.
Sozialistische Linke (SL)
Es spricht viel dafür, dass diese beispiellose Niederlage der sozialistischen Kräfte auf einem Bundesparteitag einen Wendepunkt in Politik und Ausrichtung der Partei darstellt, ist sie doch Ausdruck einer tiefgreifenden demografischen Veränderung der Mitgliederstruktur.