Die Rückkehr der Atombombe: Vom Kollaps der Vernunft
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Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter und sehen, wie der Präsident der Münchener Sicherheitskonferenz, die Atombombe als Garant des Friedens. Ähnlich sprachen sich die SPD-Politikerin Katharina Barley und der CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber für eine europäische Atombombe aus.
Fürsprecher der nuklearen Rüstung rechtfertigen sich oft mit der Theorie der Abschreckung. Demnach könnten rationale Mächte kein Interesse an einem Atomkrieg haben, da er stets auch die eigene Vernichtung bedeutet, und müssen demzufolge auf die eigene Eskalation verzichten.
Gleichzeitig aber müssen sie dem Gegner glaubhaft demonstrieren, zur nuklearen Reaktion und Vernichtung des Feindes bereit zu sein. Das Ergebnis sei dann ein durch die Hochrüstung selbst garantierter Friedenszustand.
Auf den ersten Blick scheint diese Theorie überzeugend. Hat nicht die Atombombe die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befriedet? Gut, man muss die zahlreichen Stellvertreterkriege ausblenden und den Blick auf die Industrienationen beschränken, um überhaupt von einem Kalten Krieg sprechen zu können.
Und andererseits zeigt sich im Nachhinein, dass es in den wenigen Jahrzehnten der nuklearen Abschreckung etliche Situationen gab, die nur durch das Handeln einzelner Personen oder letzter Sicherheitsmechanismen nicht zu nuklearen Krisen eskalierten.
Zu denken ist an das heldenhafte Eingreifen Stanislav Petrovs, der am 26. September 1983 als verantwortlicher Offizier einen Fehlalarm über amerikanische Angriffe erhielt, sich aber gegen den eigentlich verpflichtenden Gegenschlag entschied. Oder an die 1961 über eigenem Gebiet abgestürzte US-amerikanische Wasserstoffbombe, deren Detonation durch einen einzigen Sicherheitsschalter verhindert wurde.
Das größte Problem der Abschreckungstheorie ist, dass sie von bewusst handelnden, rationalen Spielern ausgeht. Allerdings ist die Eskalation auch dann möglich, wenn niemand sie beabsichtigt. Ein anderes Modell ist hier nützlicher: Das Schweizer-Käse-Modell aus der Katastrophenforschung.
Die Erfahrung zeigt, dass Unglücke zwar meist durch mehrere Sicherheitsvorkehrungen (Käsescheiben) verhindert werden, diese aber jeweils Löcher aufweisen. Den Eintritt einer Katastrophe kann man also als Strahl denken, der durch unglücklicherweise zusammenkommende Zufälle alle Scheiben durchkreuzen kann.
Wenn ein System häufiger Beinahe-Katastrophen erlebt, bei denen nur der letzte Sicherheitsmechanismus greift, deutet dies darauf hin, dass das System insgesamt unsicher ist. Die Tatsache, dass die letzten Verteidigungslinien eine Katastrophe verhindert haben, ist aus der Risikoperspektive quasi unerheblich. Denn letztendlich hängt alles von der Versagenswahrscheinlichkeit dieser letzten Verteidigungslinie ab; mit zunehmender Dauer wird es unweigerlich zur Katastrophe kommen.
Je höher das Ausmaß der Katastrophe im Verhältnis zur Festigkeit der letzten Instanz, umso weniger gerechtfertigt ist ein solches System. Die Laune einer einzelnen Person oder ein einziges Bauteil sollten nie zwischen der Menschheit und ihrer Vernichtung stehen.
Die Gefahr der angespannten Lage
Die gegenwärtig angespannte Lage ist dabei selbst schon ein Gefahrenfaktor. Wenn Nuklearmächte davon ausgehen, ein Gegenspieler könnte über den Einsatz von Nuklearwaffen nachdenken, ändern sie bereits ihr eigenes Verhalten. Die Erhöhung der Anspannung und der Tabubrüche müssen als Vergrößerung der Löcher im Schweizer Käse, die Verringerung der schützenden Scheiben und eine häufigere Wiederholung des Strahls verstanden werden.
Die gegenwärtige Zuspitzung erleichtert es Missverständnissen, technischen Fehler oder einzelnen irrational Handelnden, eine katastrophale Wirkung zu entfalten. Das Anlegen von Reaktionsplänen etwa macht deren eigene Umsetzung schon wahrscheinlicher.
Der angespannte Staat nimmt seine Umwelt anders wahr, reagiert absehbar anders auf harmlose oder zufällig zweideutige Signale. Systeme neigen allgemein dazu, das zu finden, was sie suchen.
Die Enthüllungen der New York Times geben überdies Einblick in das Innenleben gleich zweier Militärorganismen in Alarmbereitschaft. Auf russischer Seite zeigt sich, dass eine mögliche konventionelle Niederlage die Versuchung erschafft, kleine Atomwaffen auf dem Schlachtfeld einzusetzen. Auf amerikanischer Seite diejenige nach adäquater Vergeltung, obwohl deren Folgen selbst für nicht beherrschbar gehalten werden.
Die paradoxerweise besonders große Gefahr von kleinen, strategischen Nuklearwaffen ist keine neue Erkenntnis. Gewöhnlich ist auch ihr Einsatz in der Abschreckungslogik tabu, aber mit dem Rücken zur Wand kann ihr Einsatz verlocken, da sie die totale Eskalation nicht völlig (sondern nur sehr sicher) garantieren. Wie die interne Kommunikation in Russland zu belegen scheint, steigt in schwierigen Situationen die Versuchung, sie einzusetzen, und damit eine kaum zu kontrollierende Dynamik in Gang zu setzen.
Auch in diesem Punkt zeigt sich die Weitsicht von "Threads". Der Film konstruierte ein realistisches Szenario der Zuspitzung einer Weltkrise. Die Supermächte geraten nach und nach in eine direkte Konfrontation.
Der entscheidende Eskalationspunkt ist der Einsatz strategischer Nuklearwaffen auf dem Schlachtfeld. Zwar enden die Kampfhandlungen vorübergehend, doch kann die Anspannung nicht mehr eingefangen werden. Aus welchen Gründen dann der sowjetische Atomschlag erfolgt, und inwieweit er beantwortet wird, bleibt im Film offen.
Der Kollaps der Rationalität
Die nukleare Abschreckung ist, für sich genommen, keine schlechte Theorie. Das Problem ist nur, dass ihre blinden Flecken im Verhältnis zum möglichen Schaden inakzeptabel sind. Spätestens mit dem Wissen über die Beinahe-Katastrophen im Kalten Krieg kann sie nicht mehr als verantwortungsvolle Strategie angesehen werden.
Hinzu kommt: Die Abschreckungslogik funktioniert am ehesten noch in einer bipolaren Weltordnung. Die unübersichtliche Weltlage heute könnte die Hemmschwelle senken, Atomwaffen begrenzt einzusetzen – in der Hoffnung, damit durchzukommen. Eine versehentliche nukleare Explosion, die nie völlig ausgeschlossen ist, könnte überdies eine Eskalationskette hervorrufen, bevor überhaupt mit allen potenziellen Akteuren Klarheit geschaffen wurde.
Es besteht wahrlich kein Mangel an Versuchen, die tödlichste Waffe der Menschheitsgeschichte als ein Produkt der Vernunft darzustellen. Die wortwörtlich hochgerüstete Hyper-Rationalität der Bombe schlägt aber in irgendeinem Ausnahmefall, der eigentlich nicht sein darf, plötzlich in ihr Gegenteil um. Die Mausefalle, die der Mensch sich baute, schnappt zu.
Die objektive Unvernunft, die in der Schaffung der nuklearen Arsenale steckt, nur zeitweise von einer engstirnigen, kurzfristigen strategischen Rationalität überdeckt, entblößt sich auf einen Schlag. Jedes einzelne Schräubchen, jede Unze Uran, jedes Raketensilo, jede Reihenhaus-Karriere in der Atomindustrie trug diese Dualität stets mit sich. Stets war sie kurzfristig, spieltheoretisch eine vernünftige Reaktion oder (Reaktion hervorrufende) taktische Provokation des Gegners.
Stets enthielt sie aber eine allgemeine Dummheit, die so profund und barbarisch ist, dass sie jede Rohheit der vorzivilisatorischen Zeit, an deren Gewaltexzesse wir so gerne mit Schaudern erinnern, übertrifft. Die Rationalität der Bombe ist eine Rationalität mit Schwellwert. Das Diesseits, in dem die Abschreckungslogik (überwiegend) gültig ist, ist eine paradoxe Welt ohne sie.
In diesem Moment des Kollapses ist es auch gleichgültig, ob die nukleare Kapazität lediglich aus politischen Gründen geschaffen wurde; mit dem aufrichtigen Ziel, sie nie einzusetzen. Die Moralität verschiedener politischer Systeme, selbst wenn vorher tatsächlich ungleich verteilt, gleicht sich im Moment aus, in dem die Raketen gestartet werden.
Atomwaffen als Friedensbringer?
Nein, die Atombombe hat die Welt kein bisschen sicherer gemacht. Sie hat der Menschheit eine Schlinge um den Hals gelegt, die jederzeit zuziehen kann. Ob eine Welt ohne Nuklearwaffen jemals möglich ist, ist wiederum fraglich. Zu groß die Verlockung, eines derartigen Machtmittels, noch dazu alleinig, habhaft zu werden. Zudem ist sie (neben Bedeutungslosigkeit) wohl die einzige Währung für wirkliche Souveränität auf der Weltbühne.
Zwischen dem erneuten Bejubeln der atomaren Rationalität, dem Wahnsinn der Verleugnung der nuklearen Gefahr und der völlig atomwaffenfreien Utopie ist jedoch ordentlich Spielraum vorhanden. Die Schritte zur Abschwächung der nuklearen Gefahr sind historisch erprobt und entspringen dem Zeitgeist, in dem auch "Threads" entstand. Wenn man Atomwaffen schon nicht wirkungsvoll verbieten kann, gilt es, ihren Einsatz zu jedem Zeitpunkt so unwahrscheinlich wie möglich zu machen.
Zunächst muss die existenzielle Gefahr anerkannt werden, anstatt sie zu rationalisieren oder zu verleugnen. Dann: auf allen Seiten eine massive Abrüstung. Dies verringert die Gefahr von Unfällen und, ab einem gewissen Punkt, auch das Ausmaß möglicher Schäden im Ernstfall.
Das Verbot großer taktischer Arsenale sollten sich Atommächte gegenseitig auferlegen, in Rüstungskontrollverträgen, wie sie auch im Kalten Krieg zustande kamen.
Nukleares Säbelrasseln und Produktionen müssen aufhören, riskante Strategien in der Schublade verschwinden. Und schließlich, so schmerzhaft es sein kann, ist die Aufrechterhaltung diplomatischer Bemühungen und friedlicher Konfliktlösungen auch im Angesicht unlösbar scheinender Verwerfungen unabdingbar. Denn jede Moral, die in der unerbittlichen Konfrontation zu retten versucht wird, verdampft im Zweifel bedeutungslos in der nuklearen Pilzwolke.
Möchte man der Atombombe unbedingt etwas Positives abgewinnen, dann, dass sie die Menschen zur Kooperation zwingt? Der Geist ist aus der Flasche. Die Frage ist, ob die Menschheit die sich selbst gestellte Prüfung hinreichend versteht. Es ist nicht ausgemacht, dass wir sie meistern. Hoffen und kämpfen wir dafür, dass das große Jubiläumsfeuerwerk zum 40. Geburtstag des Films "Threads" ausbleibt, und er als Mahnung noch weitere runde Geburtstage feiern darf. Er ist in deutscher wie in englischer Fassung über die Websuche ihrer Wahl zu finden.