Die Taliban: Marginalisierte und hegemoniale Männlichkeit
Seite 2: Idealtypische Männlichkeit: Wahrhaft gläubige Momineen und Taliban
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Das Handlungsfeld der Taliban war die Nachkriegszeit, die nahtlos in einen Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden ethnischen Gruppen mündete. Die paschtunische Dominanz in Afghanistan war beendet und es gab keine Gruppe, die die Paschtunen repräsentierte.
Der Dschihad, der die Kämpfer bis 1989 geeint hatte, endete in Rivalitäten zwischen islamischen Parteien. Die kollektive Identität als Paschtunen, die Männlichkeitsideale wie Egalität zwischen Männern, Vaterschaft, Stolz und Ehre beinhaltete, war ins Hintertreffen geraten. Auch die einst ehrenwerten Mudschahedin waren jetzt schlicht Männer mit Waffen, die weder Ehre noch Tapferkeit beweisen konnten.
Während des Krieges verwaisten viele Kinder in einer harschen und von massiver Armut geprägten Umwelt, in der das Überleben ein täglicher Kampf war. In den Medressen, den Islamschulen, kamen junge Männer zusammen, von denen die meisten noch nie in Afghanistan gewesen waren oder kaum Erinnerungen an die Zeit vor dem Krieg hatten.11
Sie wurden in Seminaren, zu denen Frauen keinen Zugang hatten, sozialisiert. Kaum ein Talib war über die eigene Geschichte informiert; gefangen zwischen der globalisierten Moderne und einer ausgelöschten lokalen Kultur beschränkten sich die kollektiven Wissensbestände auf Dschihad, Märtyrertod und Gewalt.12
Als rechtschaffende Muslime, die sie nach bestem Gewissen waren, waren sie mit den Konzepten der Deobandschule, aber vor allem mit einer radikalen Auslegung der Scharia, dem Dschihad als Kampf gegen Feinde der Religion, und mit fitna (Versuchung) vertraut – das Konzept, anhand dessen Frauen in der Lehre der Medressen mit sozialer Destruktivität gleichgesetzt wurden. Nicht nur Frauen waren absent; auch die islamische Lehre wurde in den Medressen maskulinisiert.
Als Männer hatten sie das Ideal, im Dschihad zum Märtyrer (shahid) zu werden. Das eingängige Versprechen, dass Märtyrer das Paradies erwarte, reflektiert einen niedrigen sozialen Status und geschlechtsspezifische Seklusion und möglicherweise auch unbefriedigte sexuelle Wünsche der Madresse-Schüler.13 Der Ausschluss von Frauen in den Religionsschulen war auch ein starkes Symbol für männliche Superiorität.
Ihre sexuellen Erfahrungen begrenzten sich auf sexualisierte Gewalt untereinander. Ihre "männliche Schwäche" drückte sich in einer sexualisierten Wut gegen Frauenkörper oder in der Verzweiflung über eine entpersönlichte Homosexualität aus, die beide als Zwang erlebt und ausgelebt werden.14
Der männliche Kämpfertypus des Mudschahid hatte mit dem Sieg über die Kommunisten als Männlichkeitsideal abgedankt, aber auch ihre Identität als paschtunische Männer war erschüttert, seit Paschtunen die Vormachtstellung in Afghanistan eingebüßt hatten.
Ein wesentliches Charakteristikum der Taliban war zu Beginn die Jugendlichkeit der Mitglieder der Bewegung. Nur wenige ihrer Mentoren – die meisten waren Kriegsversehrte mit Behinderungen - waren älter als 30 Jahre.15 Die Rekruten aus den Medrassen waren verarmte Jungen, die einer sozialen Klasse ohne Zukunftsperspektive angehörte.
Sie besaßen keine Erinnerung und Bindung an die Ahnen ihres Stammes, und vor allem kein Erbe (Land), mit dem sie ihre ökonomische Existenz hätten bestreiten oder eine Familie gründen können. Entwurzelt und ohne Berufsausbildung war der Krieg die einzige Erfahrung in ihrem Leben:
Ihr schlichter Glaube an einen messianischen, puritanischen Islam, eingetrichtert von einfachen Dorfmullahs, war ihr einziger Halt und gab ihrem Leben eine gewisse Bedeutung. Ohne Ausbildung und ohne Kenntnis traditioneller Beschäftigungen wie Ackerbau, Viehzucht oder Handwerkskunst waren sie, was Karl Marx Lumpenproletariat nannte.
Rashid 2001: 76f
Die Religionsschüler verfügten nicht über die erforderlichen Ressourcen, eine machtvolle gesellschaftliche Position und Anerkennung als Männer zu erreichen.
Die einzigen Ressourcen der Taliban zur Herstellung eines neuen hegemonialen Entwurfs waren neben der Bereitschaft, als Shahid die Welt zu verlassen und ihrer spartanischen Bescheidenheit, ihr religiöses Wissen.
Ihren Machtzuwachs erreichten sie durch die islamisch begründete Verweigerung aller Dispositive: Sie schlossen keine Allianzen, lehnten alles ‚Andere‘ ab, z.B. alle Männer, die ihrer Doktrin nicht folgten: Kommunisten, traditionelle Khane, Städter, Schiiten, Nicht-Paschtunen, Ausländer, Familienväter, Mudschahedin, Homosexuelle – und verweigerten die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen.
Indem sie sich in jeder Äußerung auf die Religion beriefen, und damit auch eine Ermächtigungsstrategie formulierten, demonstrierten sie auch ihre Distanz zu weltlichen Begehrlichkeiten. Die vergleichsweise geringfügige materielle Unterstützung durch den pakistanischen Staat interpretierten sie als göttliche Unterstützung für die erwiesenen Dienste.
Ich versichere Ihnen, dass die Studenten der Deobandi-Sekte, die dem Weg Gottes folgen, von Gott ernährt werden. Wenn Gott seine Feinde ernähren kann, wie kann er dann seine Gläubigen nicht ernähren? Bitte dienen Sie entschlossen der Sache der Religion und Sie werden sehen, dass Sie so viel weltlichen Erfolg und Ressourcen erhalten werden, dass andere neidisch sein werden. Sie können den Erfolg der Madrassa-Schüler in der Gestalt von Mullah Omar, dem Amir-ul-Momineen, sehen. Früher sagte man, dass die Madrassas die Persönlichkeit der Schüler ruiniert haben und dass sie nicht einmal als Büroangestellte arbeiten könnten.
Talib, In: Murshed 2003: 418
Autorität und Machtverschiebungen innerhalb der Familien
Mit der Selbstbezeichnung Talib – ein nach Wissen Strebender und nicht Lehrender wie der Alim (Pl. ulama) - grenzten sich die Kämpfer der neuen militärischen Bewegung von den Mudschahedin ab, die im Dienst machtgieriger Parteien standen.16 Die Betonung auf Jugend war in der strikt gerontokratischen Gesellschaftsordnung ebenfalls neu.
Viele der jungen Männer, die sich dem Siegeszug der Taliban in Afghanistan anschlossen, waren ökonomisch unproduktive Mitglieder einkommensschwacher Familien. Das religiöse Bekenntnis steigerte ihren Status innerhalb der Familie.
Junge Männer konnten auf der Basis ihrer neu erworbenen religiösen Ethik als Taliban die Autorität ihrer Väter herausfordern, indem sie ihre überlegene Moralität der ‚degenerierten‘ Ethik ihrer Eltern gegenüberstellten und auf diese Weise auf andere Familienmitglieder Einfluss ausüben konnten.
Das religiöse Wissen war ein dienliches Vehikel, um eine autoritäre Position innerhalb der Familie einzunehmen, die Söhnen zuvor nicht zugestanden wurde.
Der Topos "Dorf" als idyllische Utopie
Die Taliban verstanden sich als islamische Puristen, die die afghanische Kultur und Tradition wiederherzustellen beabsichtigten:
Unsere Kultur hat sich in den letzten 40 oder 50 Jahren stark verändert, vor allem in Kabul. In den Dörfern hat sich die Kultur nicht sehr verändert. [...] Die Taliban versuchen, unsere Kultur zu säubern. Wir versuchen, eine puristische islamische Kultur und Tradition wiederherzustellen.
Talibansprecher, Edwards 2002: 294
Dabei spielten die Taliban regionale und tribale Identitäten herunter zugunsten einer fiktiven idealisierten ‚Dorfidentität‘ - obwohl die meisten von ihnen ihr bisheriges Leben zwischen bewaffneten Mudschahedin-Kämpfern in Flüchtlingslagern und in Medressen verbracht hatten und das Dorfleben nicht kannten. Dennoch war das "Dorf" ein rhetorisch effektiver Topos angesichts der Nostalgie der Menschen, die das Dorfleben vor dem Krieg selbst erlebt hatten oder es sich zumindest vorstellten.17 Indem sie puristische Kultur mit ihrer Vorstellung vom Dorfislam gleichsetzten, stocherten die Taliban auch indirekt gegen den Islam der Parteien im pakistanischen Exil (meist in Peschawar) - die meisten Parteispitzen kamen aus der Universität Kabul und anderen staatlich geförderten Institutionen.
Ihre Machttechnik war die sture Beanspruchung der Deutungshoheit über den Islam, womit sie jeden Diskurs kontrollierten bzw. im Keim erstickten. Sie hatten keine Familie und verfügten nicht über einflussreiche Netzwerke, und akzeptierten keine Partei, keine Ideologie und keinen Patron. Als Institutionen zur Sicherung ihrer Herrschaft setzten sie die öffentlichen Scharia-Prozesse, die Religionspolizei und vor allem sich selbst ein.
Vorteilsnahme durch Bereicherung, Posten und Patronage lehnten sie entschieden ab. Beute und Eroberungen interessierten die Taliban (zumindest in den ersten Jahren) nicht: "Märtyrertum ist der einzige Wunsch eines Momin (guter Muslim). Beute oder Eroberungen kümmern ihn nicht."18 Anders als den Gefolgschaften der früheren Warlords waren den Taliban-Kämpfern Beutezüge untersagt, woran sie sich zumindest in paschtunischen Provinzen diszipliniert hielten.
Durch das Kreieren eines gesellschaftlichen Ordnungsentwurfs, den sie glaubhaft durchsetzten, ermöglichten sie sich ihren sozialen Aufstieg. Der Erfolg der Taliban-Bewegung und die neue Regierung von Mullah Omar, selbst Absolvent einer Madressa, festigten den Glauben der Religionsschüler, dass sie einen modernen Staat regieren und weltliche Angelegenheiten erfolgreich regeln könnten. Die Taliban beanspruchten, dass auch ihnen die Fähigkeit zur Führerschaft zuerkannt würde, wie zuvor im Kriegsverlauf den Stammesälteren, den Parteiführern der Tanzimat oder den Warlords.
Diejenigen, die ihnen "Unfähigkeit in weltlichen Angelegenheiten" unterstellten, belehrten sie eines Besseren, indem sie ihren eigenen Entwurf von Männlichkeit als den einzig richtigen zuließen und nicht nur Frauen, sondern auch alternative männliche Identitäten extrem marginalisierten.
Die Taliban können als Modernisierungsbewegung auch in dem Sinne verstanden werden, als dass sie Identitäten neu ordneten und Männlichkeit neu konzipierten. Sie transformierten von gesellschaftlichen "Nicht-Entitäten" zu selbsternannten Gestaltern der Zukunft Afghanistans.
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