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Die Tyrannei des Szientismus

Fallstricke der naturwissenschaftlichen Expertenberatung der Politik in der Pandemie

Die neue Bundesregierung hat jüngst einen Expertenrat zur wissenschaftlichen Begleitung der weiteren Pandemiebewältigungspolitik ins Leben gerufen. Das neue Gremium soll die Regierung über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Coronavirus Sars-CoV-2 beraten und Empfehlungen für die Pandemiebewältigung erarbeiten, wobei "neben medizinischen und ethischen Fragestellungen insbesondere auch die Folgen von Pandemiebewältigungsmaßnahmen zu berücksichtigen" sind, wie es auf der Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit heißt.

Deshalb sei Gremium aus Wissenschaftler:innen "mit unterschiedlichem Hintergrund" zusammengesetzt. Damit sollen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz hervorhebt [1], "die verschiedenen Aspekte – insbesondere aber auch die Folgen – von Entscheidungen besser beleuchtet und in die Abwägung einbezogen werden. Zugleich sorgen wir damit für mehr Akzeptanz und Transparenz".

Sind wir damit jetzt tatsächlich auf der sichereren Seite? Ist das Gremium substanziell so viel breiter aufgestellt als die bisherigen Beratungsgremien der Regierungen, wie der Gesundheitsminister Karl Lauterbach behauptet? Werden die zukünftigen politischen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung damit wirklich wissenschaftlich solider begründet, tragfähiger und effektiver sein als bisher?

Aus wissenssoziologischer Sicht ist das allerdings höchst fragwürdig. Denn das Problem ist doch: Welche Wissenschaft kommt dabei zum Tragen? Bekanntlich gibt es die eine Wissenschaft gar nicht, so wenig wie es die absolute Wahrheit gibt.

Was aber im Hinblick auf die gesellschaftlichen Folgen einer Verwissenschaftlichung der Politik möglicherweise schwerer wiegt, ist, dass je nachdem, welche wissenschaftliche Episteme durchschlagend ist, ganz unterschiedliche Sichtweisen, Risikoeinschätzungen und Handlungskonsequenzen naheliegen.

Mit anderen Worten: In der jeweils dominierenden Expertise sind bereits eine spezifische Entscheidungsrationalität und entsprechende Regulierungs- und Steuerungsdispositive angelegt. Damit sind aber auch zugleich gesellschaftliche Spannungen und Konflikte weitgehend programmiert.

Hinsichtlich der epistemischen Grundausrichtung des neuen Expertengremiums fällt auf, dass es sich bei dessen Mitgliedern nahezu ausschließlich um Vertreter:innen der Naturwissenschaftler:innen (Medizin, Virologie, Infektiologie, Physik, Biologie, Pharmakologie) handelt.

Lediglich eine Gesundheitsökonomin, eine Medizinethikerin, ein Psychologe und ein Landrat lassen sich der Gruppe der Nicht-Naturwissenschaftler zurechnen, soweit diese nicht auch einem rein positivistischen Wissenschaftsverständnis anhängen.

Damit dominiert im wissenschaftlichen Expertengremium eindeutig die positivistische-szientifische Episteme, also jene Wissenschaftskultur, die man häufig – allerdings fälschlicherweise – mit der Wissenschaft schlechthin zu identifizieren pflegt.

Das herausragende Prestige, welches der Szientismus in unserer Gesellschaft genießt, gründet im Wesentlichen in den Erfolgen bei der rationalistisch-technologischen Beherrschbarkeit von Naturprozessen, wobei die Biowissenschaften eine herausragende Stellung einnehmen. Darauf basiert schließlich auch der quasi universale Deutungsanspruch des Szientismus.

Welches sind nun aber die spezifischen Merkmale der positivistisch-szientifischen Wissenschaftskultur? Worauf basiert ihr Wissenschaftsverständnis, ihre Epistemologie? Ihr zentraler Gegenstand bilden selbstredend Naturprozesse, mithin empirische Phänomene in erster Linie physikalischer, chemischer oder biologischer Natur.

Im Kern zielen diese Wissenschaften auf die Entdeckung – und ggf. gezielte Kontrolle – von natürlichen Gesetzmäßigkeiten, im Sinne von idealerweise experimentell reproduzierbaren, konstanten und universalen Ursache-Wirkungs-Abläufen.

Naturgesetze haben die Eigenschaft, zwingend und unabänderlich zu sein. Ihnen wohnt daher eine unabweisbare Zwangsläufigkeit inne, die selbst noch die Bedingungen ihrer Beherrschbarkeit durch menschliche Intervention diktiert.

Der Forschungsprozess selbst erfolgt in aller Regel extrem spezialisiert, wobei oft isolierte Mikroprobleme im Fokus stehen, etwa die Behaarung von Insektenflügeln oder die Eiweißstruktur von Viren. Das führt nicht nur zu einer fragmentarisierten Wirklichkeitswahrnehmung, sondern auch zu einer Art künstlichen Hypertrophierung der Forschungsgegenstände und -probleme. Diese erscheinen den Forschenden dann überdimensioniert, in bestimmten Fällen sogar als furchterregend. Unter einem Mikroskop wirken winzige Insekten wie schreckliche Monster.

Soziales Leben ist komplizierter als der Naturwissenschaft lieb ist

Auch die spezialisierten naturalistischen Deutungskategorien von Mediziner:innen, so unentbehrlich deren Fachkompetenz in der klinischen Praxis natürlich ist, können leicht zu einer kontraindizierten Verzerrung der Wirklichkeitswahrnehmung führen, wenn sie auf nicht-biologische, gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeitssegmente übertragen werden.

Der Beitrag der Naturwissenschaften zur allgemeinen Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse kann freilich nicht überschätzt werden. Die exakten Wissenschaften gehören seit Jahrhunderten zu den wesentlichen Triebkräften der Modernisierung und dessen, was gemeinhin unter "Fortschritt" verstanden wird, mithin der allgemeinen Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Rationalismus.

Daher rührt das nahezu unangefochtene Deutungsmonopol des Szientismus in unserer Zivilisation, was in der verbreiteten - allerdings irrigen, weil verkürzenden – Vorstellung gipfelt, als echte Wissenschaft, als die Wissenschaft schlechthin könne nur jene gelten, die mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden arbeite.

Dass sich die Sozialwissenschaften – insbesondere die Soziologie – vielfach selbst dem Geist des Positivismus unkritisch verschrieben haben, trägt nicht nur seinen Teil zu der Hegemonie der positivistischen Episteme in unserer Gesellschaft bei, es geht auch mit einem weitgehenden Verzicht auf eine theoriegeleitete Deutung der Gesellschaft als ganzer und einer Verkümmerung der kritischen Reflexionsfähigkeit einher (vgl. Reckwitz & Rosa 2021).

Dabei drohen zwei Grundprobleme aus dem Blick zu geraten: Zum einen das, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer unter dem emblematischen Titel "Dialektik der Aufklärung" gefasst haben, nämlich die radikal enthumanisierenden und destruktiven Tendenzen, die der Universalisierung der kalten, warenförmigen, technologischen und instrumentellen Vernunft innewohnen.

Der Positivismus entpuppt sich in den Augen der Frankfurter als dunkle Kehrseite der Aufklärung. Tritt die Vernunft aus dem "kritischen Element heraus als bloßes Mittel in den Dienst des Bestehenden, so treibt sie wider Willen dazu, das Positive ... in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln ... [D]ie vollends aufgeklärte Welt strahlt im Zeichen triumphalen Unheils" (Horkheimer & Adorno 1971: S. 2 bzw. 7).

Spätestens mit den Lagern der Nationalsozialisten, der Shoah, den Genoziden und Bevölkerungsumsiedlungen im Namen vermeintlich biologischer und historischer Gesetze im zwanzigsten Jahrhundert durch die totalitären Regime haben die positiven Wissenschaften ihre Unschuld verloren.

Mit der Atombombe und dem Eintritt in das Zeitalter des Anthropozän erreichen die Katastrophen- und Selbstauslöschungspotenziale der Menschheit als Folgen der Vergötzung von Ratio und Technik einen tragischen Gipfelpunkt (Jaspers 1958; Beck 1986; Adloff & Neckel (Hrsg.) 2020).

Was mit der kulturellen Hegemonie des Szientismus aber oft noch im Verborgenen bleibt, sind die eng gesteckten Grenzen der Übertragbarkeit seiner spezifischen Wahrheitsökonomie auf das stets historische bedingte und veränderliche soziale Leben.

Kontingenz und Eigendynamik, Zufälle und nicht-intendierte Wirkungsverkettungen spielen im sozialen Leben eine weitaus größere Rolle als es dem auf umfassende Weltbeherrschung ausgerichteten Rationalismus der modernen Naturwissenschaften lieb ist.

Diese "irrationalen", launischen Tendenzen wirken einer starren, gesetzmäßigen Rationalität beständig entgegen, unterhöhlen, irritieren, desavouieren sie und setzen subversive Gegenkräfte im Geschlinge der sozialen Realität frei.

Sinnbildlich ist die grundlegende epistemologische Differenz zwischen Natur- und Sozialwissenschaft bereits in der Gründungsepoche der Soziologie am Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich geworden. Deren Meisterdenker – allen voran Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber – stand schon früh klar vor Augen, dass sich die Strukturen und Dynamiken von sozialen Gruppen, kulturellen Phänomenen und Funktionssystemen, wie der Staat, die Wirtschaft oder sozial-moralische Strömungen, nicht auf dieselbe Weise erforscht und begriffen werden können, wie etwa biologische Organismen, chemische Affinitäten oder physikalische Kräfte – auch wenn diese als Metaphern oft erhellend sein können.

Deshalb bemühten sich die Gründungsväter der Soziologie, wie Durkheim und Max Weber, darum, eine genuin sozialwissenschaftliche Methodologie zu entwickeln, die eben gerade die spezifischen Eigenarten der dem Menschen eigentümlichen Weltbeziehung erfassen kann.

Gesellschaftliche Realität folgt einer Eigengesetzlichkeit

Für diese sind nicht unabänderliche Kausalitäten, wie Instinkte, Fallgesetze, physikalische Fliehkräfte, Reiz-Reaktions-Muster oder dergleichen, sondern in erster Linie kognitive und emotionale Fähigkeiten, mithin die Sinndimension entscheidend.

Dazu bemerkt der soziologische Klassiker Weber:

Keine Erkenntnis von Kulturvorgängen (ist) anders denkbar (...), als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat.

Die transzendentale Voraussetzung jeder Sozialwissenschaft ist daher, "dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen". Die grundlegende Differenz der sozialwissenschaftlichen gegenüber der naturwissenschaftlichen Epistemologie gründet darauf, dass "[f]ür die exakten Naturwissenschaft (...) die 'Gesetze' um so wichtiger und wertvoller (sind), je allgemeingültiger sie sind; für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung jedoch sind die allgemeinen Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten ... Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll" (Weber 1988, S. 179f.).

Die menschengemachte, die gesellschaftliche Realität folgt einer Eigengesetzlichkeit, die in unüberschaubaren Wechselwirkungen, Verkettungen und Strukturdynamiken zum Ausdruck kommt. Dabei erfährt das "Natürliche" am Menschen, sein vermeintlich unabänderliches "Wesen" eine nachhaltige soziokulturelle Durchdringung und Überformung.

Das Gefühl der Angst beispielsweise gehört als Impuls oder "Trieb", ob individuell oder kollektiv, gewiss zu den Grundbedingtheiten der human condition (vgl. Freud 1940, S. 103ff.), deren konkrete Erscheinungsformen weisen aber immer auch eine außerordentlich starke gesellschaftliche Prägung auf.

So werden die Verbreitung und Stärke von Massenängsten regelmäßig unter anderem durch religiöse Glaubensvorstellungen (z.B. Teufelsängsten, Furcht vor einem Jüngsten Gericht) oder sozialstrukturelle Faktoren – Not, Krieg, Krisen, Anarchie, Herrschaftsverhältnisse, Exklusion und dgl. – mitbestimmt (vgl. Collins 2012; Dulumeau 1978). Das wiederum bleibt selten ohne Folgen im politischen Raum (vgl. Neumann 1978).

Wer die positivistische Gesetzeswissenschaft unkritisch auf gesellschaftliche Phänomene anzuwenden gedenkt, muss folglich mit tückischen Fallstricken rechnen. Dabei offenbart sich zum einen die Paradoxie der Wissensvermehrung: Durch den immensen Zuwachs an empirischem Detailwissen wächst im gleichen Maße die Ignoranz und damit ein folgenreicher Wirklichkeitsverlust.

Schon Max Weber hatte klar erkannt, dass auf Gesellschaft und Politik angewendete naturwissenschaftliche Episteme, "uns von der Fülle der Wirklichkeit ab(führt)" (ebd.), anstatt unser Wissen über die Funktionsweisen und Mechanismen des sozialen Lebens zu erweitern. In früheren Zeiten, in denen sozialkritische Reflexion noch lebendig war, verurteilte man das als "Verdinglichung" und "Entfremdung", heute feiert man darin den Triumph der Vernunft - und zelebriert vielleicht doch nur einen Fetischismus der Fakten und des Pragmatismus.

Schwerwiegendere gesellschaftliche Konsequenzen zeitigt jedoch eine staatliche Politik, die sich der Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verschreibt. Nicht nur droht dabei die Ausblendung der Komplexität und des Eigenlebens, des Unverfügbaren und der Ambivalenzen des Sozialen.

Das verführt nicht zuletzt zum Einsatz von Zwangsmitteln und vielleicht letztlich auch von Gewalt, wenn der lebendige Eigensinn und die Ambivalenzen des Sozialen – gleichsam die ganze bunte Blütenfülle des Gesellschaftsgartens – mit der objektiven, naturgesetzlichen "Notwendigkeit" in Übereinstimmung gebracht werden soll.

Hannah Arendt mahnt zur Wachsamkeit

Welche unmenschlichen Konsequenzen eine solche technokratischen Hybris im schlimmsten Fall haben kann, hat wohl niemand klarer erkannt als Hannah Arendt in ihrer Totalitarismusstudie. "In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht spricht sich eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und Geschichte vollzogen und das heißt hier im furchtbarsten Sinne des Wortes exekutiert werden. Diese Exekution der objektiven Gesetze von Natur und Geschichte soll schließlich eine Menschheit produzieren - sei es eine Rassengesellschaft oder eine Klassen- und nationslose Gesellschaft -, die in sich selbst nur der Exponent der Gesetze ist, die in ihr verwirklicht werden." (Arendt 1986, S. 948).

Wenn auch die gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Deutschland nicht mit denjenigen der Epoche des Faschismus vergleichbar sind (vgl. Bach 2021), so mahnt die von Arendt beschriebene historische Erfahrung doch zur Wachsamkeit.

Naturgesetze besitzen außerdem die Eigenart, nicht verhandelbar zu sein, damit sind sie aber auch Kompromissen – dem fundamentalen Medium demokratischer Politik – prinzipiell nicht zugänglich; sie sperren sich von vornherein gegenüber der Logik des Interessenausgleichs und der politischen Übereinkunft.

Das inhärent Zwingende, die Hartnäckigkeit des Zwangsläufigen, die der szientifisch-positivistischen Erkenntnis – trotz aller Vorläufigkeit des Wissens, wenn nicht gar dieser zum Trotz – innewohnt, mutiert im Raum des Politischen zu einer unerbittlichen, zu einer despotischen Norm (vgl. zur "Epistemisierung" der Politik allgemein Bogner 2021).

Je solider die politischen Entscheidungen und Maßnahmen wissenschaftlich fundiert sind und je breiter sie vom Konsens der jeweils tonangebenden epistemischen Gemeinschaft getragen werden, desto voraussehbarer und unangreifbarer sind sie.

Je nach vorherrschendem Paradigma setzen sich entsprechend unilaterale Wahrheitspolitiken als handlungsleitende Prinzipien für praktische politische Entscheidungen durch.

Das zeigen die historischen Beispiele der radikalen Sittenstrenge und der "Psychiatrisierung" der Sexualität der Frauen und der Kinder durch die Medizin im 19. Jahrhundert, aber auch die Politik der Deregulierung und Marktöffnung im Falle der Diskurshoheit des ökonomischen Liberalismus im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts (vgl. Foucault 2006).

Dass in der aktuellen Pandemie von der Virologie und Epidemiologie maximale Kontaktunterbrechung gefordert wird, liegt auf der Hand, ist deren zentrales Paradigma doch die Infektion, die interkorporale Übertragung von Viren und anderen Erregern.

Überlässt man in einer Gesundheitskrise die Deutungshoheit allein der biomedizinischen Wissenschaften, dann droht mit der scheinbaren Entpolitisierung der Regierungsentscheidungen auch eine systematische Ausblendung aller nicht-biologischen Sinn-, Handlungs- und Ordnungsdimensionen des sozialen Lebens und seiner Komplexität.

Der höchst einseitige, schmale, mikrologische, wenn man so will: paradigmatisch verengte Blick auf die Realität präjudiziert dann den öffentlichen Diskurs und die Wahl und Durchsetzungsfähigkeit der zur Anwendung gelangenden Dispositive.

Je bornierter das szientifische Blickfeld, könnte man vermuten, desto einschneidender, restriktiver und unerbittlicher werden die Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen ausfallen.

In besonderem Maße gilt das vom ärztlichen Blick, der sich nicht nur in diagnostischer, sondern immer auch in therapeutisch-kurativer Absicht direkt auf den menschlichen Körper richtet (Foucault 1988).

Bei akuter Gefahr für Leben und Gesundheit rechtfertigt das prinzipiell so gut wie jeden, noch so einschneidenden Eingriff sowohl in den Organismus als auch in die Persönlichkeitsrechte, im Extremfall, etwa bei Suizidabsichten oder bei Gefährdung Dritter, kann das bis zur Freiheitsberaubung gehen – dies wohlgemerkt immer zum vermeintlich Besten der Patienten und/oder der Gesellschaft.

Die medizinische Autorität ist insofern von einem intrinsischen, benevolenten oder paternalistischen Autoritarismus durchdrungen. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn bei größeren Gesundheitskrisen für Mediziner:innen nicht nur deren professionsspezifische, in sozialer und politischer Hinsicht meist höchst selektive und unterkomplexe Wirklichkeitskonstruktionen handlungsleitend werden, sondern auch ein rigider, ein obrigkeitsstaatlicher Gestus zum Tragen kommt, der in Konflikt mit grundlegenden demokratischen Normen und Praktiken gerät.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob das neu eingerichtete Expertengremium eine grundlegende Neuausrichtung der Pandemiepolitik bringen wird, kann im Lichte unserer Überlegungen nur mit Skepsis beantwortet werden.

Die einseitige Zusammensetzung mit Naturwissenschaftler:innen wird tendenziell eher einer rigideren und restriktiveren Maßnahmenpolitik mit weiteren unabsehbaren gesamtgesellschaftlichen Kollateralschäden zum Durchbruch verhelfen.

Wenn die sich auf einen relativ kleinen Kreis von Naturwissenschaftler:innen beruhende Pandemiebewältigungspolitik der Regierung Merkel bereits als "alternativlos "galt, so wird die der Regierung Scholz dank des nun vermeintlich breiter aufgestellten Beratungsgremiums auf "sachlicher", sprich: szientifisch-positivistischer Ebene geradezu unangreifbar sein.

Wenn dem keine starken Gegengewichte, wie etwa durch den Ethikrat oder eine Institutionalisierung von gesellschaftstheoretischer Politikberatung, gegenübergestellt werden, dann besteht die Gefahr, dass sich die Staatsräson im Namen des naturgesetzlich Notwendigen und Zwingenden dauerhaft über das Gesetz stellt und Freiheitsgarantien zum nachrangigen Gut degradiert werden (Münch 2021).

Das würde nicht nur die Demokratie bedrohen, sondern auch zu einer beispiellosen Eskalation von Konflikten in der Gesellschaft beitragen.

Literatur

Adloff, Frank; Neckel, Sieghard (Hrsg.), 2020: Gesellschaftstheorie im Anthropozän, Frankfurt a.M./New York.

Arendt, Hannah, 1986: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München/Zürich.

Arendt, Hannah, 2013: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München/Zürich.

Bach, Maurizio, 2021: Nationalpopulismus und Faschismus im historischen Vergleich. Zur Aktualität von Max Webers Herrschaftssoziologie, in: Berliner Journal für Soziologie, Band 31, Heft 1, S. 81-100.

Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf den Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.

Bogner, Alexander, 2021: Die Epistemisierung der Politik. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Stuttgart.

Chivers , Tom; David Chivers, 2021: How to Read Numbers, London.

Collins, Randall, 2012: Schichtung, emotionale Energie und kurzzeitige Emotionen, in: ders., Konflikttheorie. Ausgewählte Schriften, Wiesbaden.

Foucault, Michel, 1976: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M.

Foucault, Michel, 1988: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main.

Foucault, Michel, 2006: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a. M.

Freud, Sigmund, 1940 (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, 13. Band, Frankfurt a. M.

Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W., 1971: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.

Jaspers, Karl, 1958: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit, München/Zürich.

Jean Delumeau, 1987: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Reinbeck bei Hamburg.

Münch, Richard, 2021: Benevolenter Paternalismus: Regieren nach Sars-Cov-2; in: Leviathan, 94. Jahrgang, Sonderband 83/2021, S. 411-432.

Neumann, Franz, 1978: Angst und Politik. In: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954. Herausgegeben von Alfons Söllner, Frankfurt ab. M., S. 424-457.

Reckwitz, Andreas; Rosa, Hartmut, 2021: Spätmoderne Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie, Berlin.

Weber, Max, 1988: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen.


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