Die Tyrannei des Szientismus
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Fallstricke der naturwissenschaftlichen Expertenberatung der Politik in der Pandemie
Die neue Bundesregierung hat jüngst einen Expertenrat zur wissenschaftlichen Begleitung der weiteren Pandemiebewältigungspolitik ins Leben gerufen. Das neue Gremium soll die Regierung über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Coronavirus Sars-CoV-2 beraten und Empfehlungen für die Pandemiebewältigung erarbeiten, wobei "neben medizinischen und ethischen Fragestellungen insbesondere auch die Folgen von Pandemiebewältigungsmaßnahmen zu berücksichtigen" sind, wie es auf der Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit heißt.
Deshalb sei Gremium aus Wissenschaftler:innen "mit unterschiedlichem Hintergrund" zusammengesetzt. Damit sollen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz hervorhebt, "die verschiedenen Aspekte – insbesondere aber auch die Folgen – von Entscheidungen besser beleuchtet und in die Abwägung einbezogen werden. Zugleich sorgen wir damit für mehr Akzeptanz und Transparenz".
Sind wir damit jetzt tatsächlich auf der sichereren Seite? Ist das Gremium substanziell so viel breiter aufgestellt als die bisherigen Beratungsgremien der Regierungen, wie der Gesundheitsminister Karl Lauterbach behauptet? Werden die zukünftigen politischen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung damit wirklich wissenschaftlich solider begründet, tragfähiger und effektiver sein als bisher?
Aus wissenssoziologischer Sicht ist das allerdings höchst fragwürdig. Denn das Problem ist doch: Welche Wissenschaft kommt dabei zum Tragen? Bekanntlich gibt es die eine Wissenschaft gar nicht, so wenig wie es die absolute Wahrheit gibt.
Was aber im Hinblick auf die gesellschaftlichen Folgen einer Verwissenschaftlichung der Politik möglicherweise schwerer wiegt, ist, dass je nachdem, welche wissenschaftliche Episteme durchschlagend ist, ganz unterschiedliche Sichtweisen, Risikoeinschätzungen und Handlungskonsequenzen naheliegen.
Mit anderen Worten: In der jeweils dominierenden Expertise sind bereits eine spezifische Entscheidungsrationalität und entsprechende Regulierungs- und Steuerungsdispositive angelegt. Damit sind aber auch zugleich gesellschaftliche Spannungen und Konflikte weitgehend programmiert.
Hinsichtlich der epistemischen Grundausrichtung des neuen Expertengremiums fällt auf, dass es sich bei dessen Mitgliedern nahezu ausschließlich um Vertreter:innen der Naturwissenschaftler:innen (Medizin, Virologie, Infektiologie, Physik, Biologie, Pharmakologie) handelt.
Lediglich eine Gesundheitsökonomin, eine Medizinethikerin, ein Psychologe und ein Landrat lassen sich der Gruppe der Nicht-Naturwissenschaftler zurechnen, soweit diese nicht auch einem rein positivistischen Wissenschaftsverständnis anhängen.
Damit dominiert im wissenschaftlichen Expertengremium eindeutig die positivistische-szientifische Episteme, also jene Wissenschaftskultur, die man häufig – allerdings fälschlicherweise – mit der Wissenschaft schlechthin zu identifizieren pflegt.
Das herausragende Prestige, welches der Szientismus in unserer Gesellschaft genießt, gründet im Wesentlichen in den Erfolgen bei der rationalistisch-technologischen Beherrschbarkeit von Naturprozessen, wobei die Biowissenschaften eine herausragende Stellung einnehmen. Darauf basiert schließlich auch der quasi universale Deutungsanspruch des Szientismus.
Welches sind nun aber die spezifischen Merkmale der positivistisch-szientifischen Wissenschaftskultur? Worauf basiert ihr Wissenschaftsverständnis, ihre Epistemologie? Ihr zentraler Gegenstand bilden selbstredend Naturprozesse, mithin empirische Phänomene in erster Linie physikalischer, chemischer oder biologischer Natur.
Im Kern zielen diese Wissenschaften auf die Entdeckung – und ggf. gezielte Kontrolle – von natürlichen Gesetzmäßigkeiten, im Sinne von idealerweise experimentell reproduzierbaren, konstanten und universalen Ursache-Wirkungs-Abläufen.
Naturgesetze haben die Eigenschaft, zwingend und unabänderlich zu sein. Ihnen wohnt daher eine unabweisbare Zwangsläufigkeit inne, die selbst noch die Bedingungen ihrer Beherrschbarkeit durch menschliche Intervention diktiert.
Der Forschungsprozess selbst erfolgt in aller Regel extrem spezialisiert, wobei oft isolierte Mikroprobleme im Fokus stehen, etwa die Behaarung von Insektenflügeln oder die Eiweißstruktur von Viren. Das führt nicht nur zu einer fragmentarisierten Wirklichkeitswahrnehmung, sondern auch zu einer Art künstlichen Hypertrophierung der Forschungsgegenstände und -probleme. Diese erscheinen den Forschenden dann überdimensioniert, in bestimmten Fällen sogar als furchterregend. Unter einem Mikroskop wirken winzige Insekten wie schreckliche Monster.
Soziales Leben ist komplizierter als der Naturwissenschaft lieb ist
Auch die spezialisierten naturalistischen Deutungskategorien von Mediziner:innen, so unentbehrlich deren Fachkompetenz in der klinischen Praxis natürlich ist, können leicht zu einer kontraindizierten Verzerrung der Wirklichkeitswahrnehmung führen, wenn sie auf nicht-biologische, gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeitssegmente übertragen werden.
Der Beitrag der Naturwissenschaften zur allgemeinen Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse kann freilich nicht überschätzt werden. Die exakten Wissenschaften gehören seit Jahrhunderten zu den wesentlichen Triebkräften der Modernisierung und dessen, was gemeinhin unter "Fortschritt" verstanden wird, mithin der allgemeinen Durchsetzung des wissenschaftlich-technischen Rationalismus.
Daher rührt das nahezu unangefochtene Deutungsmonopol des Szientismus in unserer Zivilisation, was in der verbreiteten - allerdings irrigen, weil verkürzenden – Vorstellung gipfelt, als echte Wissenschaft, als die Wissenschaft schlechthin könne nur jene gelten, die mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden arbeite.
Dass sich die Sozialwissenschaften – insbesondere die Soziologie – vielfach selbst dem Geist des Positivismus unkritisch verschrieben haben, trägt nicht nur seinen Teil zu der Hegemonie der positivistischen Episteme in unserer Gesellschaft bei, es geht auch mit einem weitgehenden Verzicht auf eine theoriegeleitete Deutung der Gesellschaft als ganzer und einer Verkümmerung der kritischen Reflexionsfähigkeit einher (vgl. Reckwitz & Rosa 2021).
Dabei drohen zwei Grundprobleme aus dem Blick zu geraten: Zum einen das, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer unter dem emblematischen Titel "Dialektik der Aufklärung" gefasst haben, nämlich die radikal enthumanisierenden und destruktiven Tendenzen, die der Universalisierung der kalten, warenförmigen, technologischen und instrumentellen Vernunft innewohnen.
Der Positivismus entpuppt sich in den Augen der Frankfurter als dunkle Kehrseite der Aufklärung. Tritt die Vernunft aus dem "kritischen Element heraus als bloßes Mittel in den Dienst des Bestehenden, so treibt sie wider Willen dazu, das Positive ... in ein Negatives, Zerstörerisches zu verwandeln ... [D]ie vollends aufgeklärte Welt strahlt im Zeichen triumphalen Unheils" (Horkheimer & Adorno 1971: S. 2 bzw. 7).
Spätestens mit den Lagern der Nationalsozialisten, der Shoah, den Genoziden und Bevölkerungsumsiedlungen im Namen vermeintlich biologischer und historischer Gesetze im zwanzigsten Jahrhundert durch die totalitären Regime haben die positiven Wissenschaften ihre Unschuld verloren.
Mit der Atombombe und dem Eintritt in das Zeitalter des Anthropozän erreichen die Katastrophen- und Selbstauslöschungspotenziale der Menschheit als Folgen der Vergötzung von Ratio und Technik einen tragischen Gipfelpunkt (Jaspers 1958; Beck 1986; Adloff & Neckel (Hrsg.) 2020).
Was mit der kulturellen Hegemonie des Szientismus aber oft noch im Verborgenen bleibt, sind die eng gesteckten Grenzen der Übertragbarkeit seiner spezifischen Wahrheitsökonomie auf das stets historische bedingte und veränderliche soziale Leben.
Kontingenz und Eigendynamik, Zufälle und nicht-intendierte Wirkungsverkettungen spielen im sozialen Leben eine weitaus größere Rolle als es dem auf umfassende Weltbeherrschung ausgerichteten Rationalismus der modernen Naturwissenschaften lieb ist.
Diese "irrationalen", launischen Tendenzen wirken einer starren, gesetzmäßigen Rationalität beständig entgegen, unterhöhlen, irritieren, desavouieren sie und setzen subversive Gegenkräfte im Geschlinge der sozialen Realität frei.
Sinnbildlich ist die grundlegende epistemologische Differenz zwischen Natur- und Sozialwissenschaft bereits in der Gründungsepoche der Soziologie am Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich geworden. Deren Meisterdenker – allen voran Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber – stand schon früh klar vor Augen, dass sich die Strukturen und Dynamiken von sozialen Gruppen, kulturellen Phänomenen und Funktionssystemen, wie der Staat, die Wirtschaft oder sozial-moralische Strömungen, nicht auf dieselbe Weise erforscht und begriffen werden können, wie etwa biologische Organismen, chemische Affinitäten oder physikalische Kräfte – auch wenn diese als Metaphern oft erhellend sein können.
Deshalb bemühten sich die Gründungsväter der Soziologie, wie Durkheim und Max Weber, darum, eine genuin sozialwissenschaftliche Methodologie zu entwickeln, die eben gerade die spezifischen Eigenarten der dem Menschen eigentümlichen Weltbeziehung erfassen kann.