Die Tyrannei des Szientismus

Seite 2: Gesellschaftliche Realität folgt einer Eigengesetzlichkeit

Für diese sind nicht unabänderliche Kausalitäten, wie Instinkte, Fallgesetze, physikalische Fliehkräfte, Reiz-Reaktions-Muster oder dergleichen, sondern in erster Linie kognitive und emotionale Fähigkeiten, mithin die Sinndimension entscheidend.

Dazu bemerkt der soziologische Klassiker Weber:

Keine Erkenntnis von Kulturvorgängen (ist) anders denkbar (...), als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat.

Die transzendentale Voraussetzung jeder Sozialwissenschaft ist daher, "dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewusst zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen". Die grundlegende Differenz der sozialwissenschaftlichen gegenüber der naturwissenschaftlichen Epistemologie gründet darauf, dass "[f]ür die exakten Naturwissenschaft (...) die 'Gesetze' um so wichtiger und wertvoller (sind), je allgemeingültiger sie sind; für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung jedoch sind die allgemeinen Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten ... Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll" (Weber 1988, S. 179f.).

Die menschengemachte, die gesellschaftliche Realität folgt einer Eigengesetzlichkeit, die in unüberschaubaren Wechselwirkungen, Verkettungen und Strukturdynamiken zum Ausdruck kommt. Dabei erfährt das "Natürliche" am Menschen, sein vermeintlich unabänderliches "Wesen" eine nachhaltige soziokulturelle Durchdringung und Überformung.

Das Gefühl der Angst beispielsweise gehört als Impuls oder "Trieb", ob individuell oder kollektiv, gewiss zu den Grundbedingtheiten der human condition (vgl. Freud 1940, S. 103ff.), deren konkrete Erscheinungsformen weisen aber immer auch eine außerordentlich starke gesellschaftliche Prägung auf.

So werden die Verbreitung und Stärke von Massenängsten regelmäßig unter anderem durch religiöse Glaubensvorstellungen (z.B. Teufelsängsten, Furcht vor einem Jüngsten Gericht) oder sozialstrukturelle Faktoren – Not, Krieg, Krisen, Anarchie, Herrschaftsverhältnisse, Exklusion und dgl. – mitbestimmt (vgl. Collins 2012; Dulumeau 1978). Das wiederum bleibt selten ohne Folgen im politischen Raum (vgl. Neumann 1978).

Wer die positivistische Gesetzeswissenschaft unkritisch auf gesellschaftliche Phänomene anzuwenden gedenkt, muss folglich mit tückischen Fallstricken rechnen. Dabei offenbart sich zum einen die Paradoxie der Wissensvermehrung: Durch den immensen Zuwachs an empirischem Detailwissen wächst im gleichen Maße die Ignoranz und damit ein folgenreicher Wirklichkeitsverlust.

Schon Max Weber hatte klar erkannt, dass auf Gesellschaft und Politik angewendete naturwissenschaftliche Episteme, "uns von der Fülle der Wirklichkeit ab(führt)" (ebd.), anstatt unser Wissen über die Funktionsweisen und Mechanismen des sozialen Lebens zu erweitern. In früheren Zeiten, in denen sozialkritische Reflexion noch lebendig war, verurteilte man das als "Verdinglichung" und "Entfremdung", heute feiert man darin den Triumph der Vernunft - und zelebriert vielleicht doch nur einen Fetischismus der Fakten und des Pragmatismus.

Schwerwiegendere gesellschaftliche Konsequenzen zeitigt jedoch eine staatliche Politik, die sich der Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse verschreibt. Nicht nur droht dabei die Ausblendung der Komplexität und des Eigenlebens, des Unverfügbaren und der Ambivalenzen des Sozialen.

Das verführt nicht zuletzt zum Einsatz von Zwangsmitteln und vielleicht letztlich auch von Gewalt, wenn der lebendige Eigensinn und die Ambivalenzen des Sozialen – gleichsam die ganze bunte Blütenfülle des Gesellschaftsgartens – mit der objektiven, naturgesetzlichen "Notwendigkeit" in Übereinstimmung gebracht werden soll.

Hannah Arendt mahnt zur Wachsamkeit

Welche unmenschlichen Konsequenzen eine solche technokratischen Hybris im schlimmsten Fall haben kann, hat wohl niemand klarer erkannt als Hannah Arendt in ihrer Totalitarismusstudie. "In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht spricht sich eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und Geschichte vollzogen und das heißt hier im furchtbarsten Sinne des Wortes exekutiert werden. Diese Exekution der objektiven Gesetze von Natur und Geschichte soll schließlich eine Menschheit produzieren - sei es eine Rassengesellschaft oder eine Klassen- und nationslose Gesellschaft -, die in sich selbst nur der Exponent der Gesetze ist, die in ihr verwirklicht werden." (Arendt 1986, S. 948).

Wenn auch die gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Deutschland nicht mit denjenigen der Epoche des Faschismus vergleichbar sind (vgl. Bach 2021), so mahnt die von Arendt beschriebene historische Erfahrung doch zur Wachsamkeit.

Naturgesetze besitzen außerdem die Eigenart, nicht verhandelbar zu sein, damit sind sie aber auch Kompromissen – dem fundamentalen Medium demokratischer Politik – prinzipiell nicht zugänglich; sie sperren sich von vornherein gegenüber der Logik des Interessenausgleichs und der politischen Übereinkunft.

Das inhärent Zwingende, die Hartnäckigkeit des Zwangsläufigen, die der szientifisch-positivistischen Erkenntnis – trotz aller Vorläufigkeit des Wissens, wenn nicht gar dieser zum Trotz – innewohnt, mutiert im Raum des Politischen zu einer unerbittlichen, zu einer despotischen Norm (vgl. zur "Epistemisierung" der Politik allgemein Bogner 2021).

Je solider die politischen Entscheidungen und Maßnahmen wissenschaftlich fundiert sind und je breiter sie vom Konsens der jeweils tonangebenden epistemischen Gemeinschaft getragen werden, desto voraussehbarer und unangreifbarer sind sie.

Je nach vorherrschendem Paradigma setzen sich entsprechend unilaterale Wahrheitspolitiken als handlungsleitende Prinzipien für praktische politische Entscheidungen durch.

Das zeigen die historischen Beispiele der radikalen Sittenstrenge und der "Psychiatrisierung" der Sexualität der Frauen und der Kinder durch die Medizin im 19. Jahrhundert, aber auch die Politik der Deregulierung und Marktöffnung im Falle der Diskurshoheit des ökonomischen Liberalismus im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts (vgl. Foucault 2006).

Dass in der aktuellen Pandemie von der Virologie und Epidemiologie maximale Kontaktunterbrechung gefordert wird, liegt auf der Hand, ist deren zentrales Paradigma doch die Infektion, die interkorporale Übertragung von Viren und anderen Erregern.

Überlässt man in einer Gesundheitskrise die Deutungshoheit allein der biomedizinischen Wissenschaften, dann droht mit der scheinbaren Entpolitisierung der Regierungsentscheidungen auch eine systematische Ausblendung aller nicht-biologischen Sinn-, Handlungs- und Ordnungsdimensionen des sozialen Lebens und seiner Komplexität.

Der höchst einseitige, schmale, mikrologische, wenn man so will: paradigmatisch verengte Blick auf die Realität präjudiziert dann den öffentlichen Diskurs und die Wahl und Durchsetzungsfähigkeit der zur Anwendung gelangenden Dispositive.

Je bornierter das szientifische Blickfeld, könnte man vermuten, desto einschneidender, restriktiver und unerbittlicher werden die Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen ausfallen.

In besonderem Maße gilt das vom ärztlichen Blick, der sich nicht nur in diagnostischer, sondern immer auch in therapeutisch-kurativer Absicht direkt auf den menschlichen Körper richtet (Foucault 1988).

Bei akuter Gefahr für Leben und Gesundheit rechtfertigt das prinzipiell so gut wie jeden, noch so einschneidenden Eingriff sowohl in den Organismus als auch in die Persönlichkeitsrechte, im Extremfall, etwa bei Suizidabsichten oder bei Gefährdung Dritter, kann das bis zur Freiheitsberaubung gehen – dies wohlgemerkt immer zum vermeintlich Besten der Patienten und/oder der Gesellschaft.

Die medizinische Autorität ist insofern von einem intrinsischen, benevolenten oder paternalistischen Autoritarismus durchdrungen. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn bei größeren Gesundheitskrisen für Mediziner:innen nicht nur deren professionsspezifische, in sozialer und politischer Hinsicht meist höchst selektive und unterkomplexe Wirklichkeitskonstruktionen handlungsleitend werden, sondern auch ein rigider, ein obrigkeitsstaatlicher Gestus zum Tragen kommt, der in Konflikt mit grundlegenden demokratischen Normen und Praktiken gerät.

Die eingangs aufgeworfene Frage, ob das neu eingerichtete Expertengremium eine grundlegende Neuausrichtung der Pandemiepolitik bringen wird, kann im Lichte unserer Überlegungen nur mit Skepsis beantwortet werden.

Die einseitige Zusammensetzung mit Naturwissenschaftler:innen wird tendenziell eher einer rigideren und restriktiveren Maßnahmenpolitik mit weiteren unabsehbaren gesamtgesellschaftlichen Kollateralschäden zum Durchbruch verhelfen.

Wenn die sich auf einen relativ kleinen Kreis von Naturwissenschaftler:innen beruhende Pandemiebewältigungspolitik der Regierung Merkel bereits als "alternativlos "galt, so wird die der Regierung Scholz dank des nun vermeintlich breiter aufgestellten Beratungsgremiums auf "sachlicher", sprich: szientifisch-positivistischer Ebene geradezu unangreifbar sein.

Wenn dem keine starken Gegengewichte, wie etwa durch den Ethikrat oder eine Institutionalisierung von gesellschaftstheoretischer Politikberatung, gegenübergestellt werden, dann besteht die Gefahr, dass sich die Staatsräson im Namen des naturgesetzlich Notwendigen und Zwingenden dauerhaft über das Gesetz stellt und Freiheitsgarantien zum nachrangigen Gut degradiert werden (Münch 2021).

Das würde nicht nur die Demokratie bedrohen, sondern auch zu einer beispiellosen Eskalation von Konflikten in der Gesellschaft beitragen.