Vor der US-Wahl: "Die große Mehrheit der Amerikaner sind rationale, vernünftige Menschen mit gutem Willen"
Was spricht für, was spricht gegen einen Sieg von Donald Trump? Lügen, Statistiken, Schätzungen und Prognosen. Ein Streifzug durch die Medien.
Saturn werde Donald Trump das Genick brechen. Zumindest für den Polit-Astrologen Andre Kahr steht das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl schon längst fest.
Trump werde eine katastrophale Niederlage erleiden, verkündet er in seinem neuesten Horoskop auf YouTube, und warnte Trump fürsorglich vor den Folgen des Wahlkampfs: Vor allem im Jahr 2026 würden ihm harte Konsequenzen drohen.
Vielleicht der Gang ins Gefängnis? Oder wird Trump die USA vorher verlassen? Denn die Sterne lügen nicht.
"Nostradamus" der US-Wahlforschung prophezeit Harris-Sieg
Politische Analytiker und Berichterstatter auf beiden Seiten des Atlantiks sind sich in ihren Urteilen weniger sicher. Nur wenn es nach dem "Nostradamus" der US-Wahlforschung geht, liegt die Sache am kommenden Dienstag ähnlich klar.
Allan Lichtman hatte die Ergebnisse bei neun der zehn letzten Präsidentschaftswahlen korrekt vorhergesagt, nur im Fall des Siegs George W. Bush gegen Al Gore lag er daneben. Dieses "tote Rennen" wurde allerdings nicht durch die Wähler, sondern das US-Verfassungsgericht entschieden.
Lichtman verkündete bereits im September, Kamala Harris werde die kommende Wahl gewinnen. Diese Vorstellung wiederholte er in den letzten Wochen bei diversen Auftritten in US-Fernsehsendern.
Grundlage für diese Feststellung sind Lichtmans "13 Schlüssel für das Weiße Haus". Nach dieser nicht statistischen, sondern rationalen, durch analytische Erfahrung gestützten Prognose, betonte Lichtman, auch Joe Biden hätte die Wahl gegen Trump trotz seines Umfragetiefs im Sommer am Ende gewonnen.
Wer antwortet überhaupt? Und wer sagt die Wahrheit?
Kritik und Zweifel an den Wahlforschern nehmen in den USA gerade spürbar zu. Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den unzähligen Umfragen und ihrer prognostischen Aussagekraft sowie an den für sie verantwortlichen, oft nicht gerade unparteiischen Instituten ist allgemein erkennbar.
"Ich traue niemandem, der sich im Augenblick sicher ist", so der Wahl-Statistiker Steve Kornacki.
Dabei werden nicht etwa die Umfrageergebnisse selbst bezweifelt. Vielmehr richten sich viele Einwände darauf, wie viele der von Wahlforschern Angesprochenen, sich denn überhaupt dazu bereit erklären, die Umfrage zu beantworten?
Zum Teil gibt es auf diesem Feld gerade bei vertieften Umfragen, große Probleme, viele Umfragemitarbeiter schafften es nur zwei Interviews in vier Stunden zu machen – denn gerade wer von einer anstrengenden Acht-Stunden-Schicht plus Fahrtzeit kommt, ist nicht bereit, in seiner Freizeit noch an Umfragen teilzunehmen.
So gebe es laut Kornacki "große Probleme", die klassische weiße Arbeiterschicht zu erreichen, die früher klar demokratisch gewählt hat, bei der die Trump-Wahlkampagne jedoch seit 2016 große Erfolge erzielte.
Und wie viele Menschen sagen bei den Umfragen wirklich die Wahrheit? Gerade unter Trump-Wählern gebe es einen hohen Anteil an Menschen, die ihre Präferenz nicht öffentlich bekennen möchten – sei es aus Scham, sei es, weil sie den fragenden Wahlforschern und Medien nicht trauen.
Antworten ist leichter als Wählen
Ebenfalls nicht zu unterschätzen: Der "Bias" der Wahlforscher. Jede Umfrage muss auf die Gesamtheit der Wähler umgerechnet und statistisch "kalibriert" werden, um aussagekräftig zu werden. Damit halten aber nicht nur menschliche Fehler Einzug in den Berechnungsprozess, sondern auch subjektive Ansichten, Urteile und Vorlieben der Statistiker.
Im Ergebnis lagen die Umfragen für Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen 2016 und 2020 jeweils relevant unter den tatsächlichen Wahlresultaten. Die Folgen dieser Statistikfehler müssen aber vor dem Hintergrund des komplizierten US-Wahlsystems das Endergebnis trotzdem nicht entscheidend beeinflussen.
Der nächste, besonders schwerwiegende Einwand: Wer unter den Antwortgebern geht überhaupt tatsächlich zur Wahl?
In den USA müssen sich Bürger für die Stimmabgabe registrieren lassen – eine Praxis, die seit jeher von vielen Seiten kritisiert wird, weil sie die sozial Schwachen, die mit den schlechten Schulabschlüssen oder gar keinen, Alleinerziehende und ethnische Minderheiten, insbesondere Schwarze strukturell benachteiligt.
In manchen "Swing States" könnte sich letzteres besonders zuungunsten von Donald Trump auswirken. Denn Beobachter registrieren, dass Trump unter männlichen Schwarzen, vor allem jüngeren, eine deutlich höhere Beliebtheit, als bei der letzten Wahl vor vier Jahren hat.
Republikaner gegen Trump
Ein ebenfalls gern zugunsten von Harris aufgeführtes Argument weist auf eine angebliche unterschiedliche Mobilisierung innerhalb der Parteien und ihrer "registrierten Wähler" hin.
Es gebe einen erheblichen Anteil an überzeugten Republikanern, die wegen ihrer Vorbehalte gegen Trump diesmal nicht zur Wahl gingen oder ungültig stimmten oder gar pragmatisch oder überzeugt für Harris.
Zuletzt hatte es öffentliche Aufforderungen prominenter Republikaner an ihre Parteigenossen gegeben, gegen Trump zu stimmen.
So etwa durch Charlie Dent, den republikanischen Kongressabgeordneten des "battleground-states" Pennsylvania, der zugleich darauf hinwies, dass viele Republikaner sich aus Furcht vor innerparteilichem Druck und Restriktionen durch das Trump-Lager nicht öffentlich gegen Trump aussprächen.
"Die Leute lügen bei ihren Wahlregistrierungen" ("People are lying at registrations"), so Dent.
Trump verschrecke gerade in den vergangenen Tagen mit spalterischer Rhetorik einige wichtige Wechselwähler. "Er hat kein gutes Finish", so der demokratische "Spin Doctor" und Obama-Wahlkampfleiter David Axelrod.
Abtreibung gegen Einwanderung
Eine eigene Gattung sind jene Wahl-Mathematiker, die für US-Fernsehsender die verschiedenen Bundesstaaten bis hinunter zu einzelnen Wahlkreisen analysieren und daraus Wenn-dann-Prognosen entwickeln, etwa der US-weit gefragte Steve Kornacki auf NBC.
Vieles werde sich entlang der Frage entscheiden, ob das wichtigere Thema für die Wählermehrheit die Abtreibungsfrage oder das Einwanderungsthema sei, so die Strategin und Wahlforscherin Rachel Bitecofer:
Abtreibung mobilisiert die Frauen und ist das wichtigste Thema, um den Demokraten Stimmen zuzuführen. Ähnlich verhält es sich spiegelverkehrt mit dem Thema Einwanderung, das die Republikaner in den Vordergrund rücken.
Damit sprechen sie vor allem junge nichtweiße Männer an.
John Mearsheimer: "Ich würde auf Trump wetten"
So schlägt gerade wieder die Stunde der Analysten, jener politischen Experten und Intellektuellen, die über die Zahlen und bloßen positivistischen Fakten hinausdenken und diese interpretieren. Einer der international bekanntesten von ihnen, nicht zuletzt durch seine Fähigkeit, sich verlässlich gegen den Mainstream der Mehrheit zu stellen, ist der Politikwissenschaftler John Mearsheimer aus Chicago.
Mearsheimer, ein scharfer Kritiker der Ukraine-Politik wie der Nahost-Politik seines Landes, gehört auch diesmal wieder zur Minderheit seiner Kollegen, die von einem knappen Sieg Donald Trumps überzeugt sind.
Es sei zwar "unmöglich vorauszusagen, wer die Wahl gewinnen wird", so Mearsheimer, aber wenn er tippen müsste, oder Geld wetten, so würde er auf Trump setzen, so Mearsheimer in der vergangenen Woche. Auch er äußerte den Eindruck, dass die Umfragen einen Teil der Trump-Unterstützer nicht erfassten.
George Conway ist einer der Gründer des Lincoln Project, einer Pro-Demokratie-Lobby von Republikanern, die sich offen gegen Trump aussprechen, auch in der Absicht, ihre Partei langfristig vor dessen rechtspopulistischen Tendenzen zu retten.
Conway zeigt sich in öffentlichen Gesprächen von einem Sieg Kamala Harris‘ überzeugt.
James Carville: Keine Angst vor dem Loser ohne Geld
Ähnlich auch Bill Clintons ehemaliger Wahlkampfleiter James Carville. In einem umfangreichen Artikel für die New York Times nannte Carville drei Gründe, warum er sicher sei, dass Kamala Harris gewinnen wird.
Erstens: Mr. Trump ist ein wiederholter Wahl-Loser. Diesmal wird es nicht anders sein.
Carvolle verweist auf die Niederlagenserie der Republikaner, "seit Trump sie übernahm". Der Ex-Präsident habe aus seinen Niederlagen nichts gelernt, kein breiteres Wählerbündnis geformt, und er sei mit 78 zu alt, um in das Amt gewählt zu werden.
Andererseits habe es Harris verstanden, eine breite gesellschaftliche Koalition zu bilden: "Von Alexandria Ocasio-Cortez bis zu Liz und Dick Cheney ist sie die breiteste Koalition der Geschichte der Neuzeit."
Zweitens: Geld ist wichtig, und Harris hat es im Überfluss.
Die Vizepräsidentin, so James Carville, habe die weitaus größeren Spenden aus allen Gesellschaftsschichten bekommen.
Mein letzter Grund ist zu 100 Prozent emotional: Ständig wird uns gesagt, Amerika sei zu gespalten, zu hoffnungslos von Stammesdenken geplagt, um zu begreifen, was auf dem Spiel steht. Das ist schlichtweg falsch.
Wenn die Cheneys und die A.O.C. begreifen, dass die Verfassung und unsere Demokratie auf dem Spiel stehen, dann sollte das jeder echte Konservative und jeder echte Progressive auch begreifen. Die große Mehrheit der Amerikaner sind rationale, vernünftige Menschen mit gutem Willen.
Ich weigere mich zu glauben, dass dasselbe Land, das immer wieder seine Fehler überwunden hat, denselben Fehler zweimal machen wird.
James Carville
Im letzten Jahrzehnt habe Trump "das amerikanische Leben mit einer bösartigen politischen Krankheit infiziert, die viele andere globale Demokratien ausgelöscht hätte". Man dürfe sich nicht länger von Angst leiten lassen.
Wetten das?
Zugleich schrumpfen die Lücken zwischen den gespaltenen Wählermilieus: Die Jungen der Gen-Z wandern nach rechts, die Alten in die Mitte, zwischen weiß und nicht-weiß sind die Unterschiede geringer als früher.
Trump sprengt auch hier viele lange gültige Regeln. Warum ist er attraktiv für die Wähler? Weil man ihn nicht mit irgendeinem anderen Kandidaten in der amerikanischen Geschichte vergleichen kann. Er ist der außergewöhnlichste Kandidat unserer Gegenwart.
So sehr die US-Präsidentschaftswahlen auch auf Messers Schneide stehen, kann das Ergebnis immer noch ein schockierender Erdrutschsieg ("landslide-victory") sein – für jeden der beiden Kandidaten.
John Mearsheimers Stichwort des "Wettens auf den Sieger", lohnt auch darum noch eine letzte Nachverfolgung. Denn oft sind die Ergebnisse von Wettbüros exakter als alle Umfragen oder menschliche Prognosen.
Und tatsächlich steht Donald Trump bei den US-Wettbüros diesmal besser da, als bei den zwei zurückliegenden Wahlen.
Jahrzehntelang haben die Führenden vier Wochen vor der Wahl diese auch am Ende gewonnen. Mit wenigen Ausnahmen. Eine davon war die Wahl 2016. Trump hat sie gewonnen – gegen jede Wette.