Von Ukraine bis Gaza: Wann verteidigen Staaten sich selbst?
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Handeln Russland und Israel defensiv? Im Westen scheint die Sache klar: Moskau nein, Tel Aviv ja. Ein völkerrechtlicher Stresstest der Kriegsrechtfertigungen.
Wenn Regierungen in Konflikten zu militärischer Gewalt greifen, beanspruchen sie fast durchgängig ihr Selbstverteidigungsrecht. Es wird auf die Angriffe der gegnerischen Partei verwiesen, gegen die man sich nur wehre, um die eigene Bevölkerung und das Territorium zu schützen.
Das hat seinen Grund. Nach der UN-Charta ist Gewalt in internationalen Beziehungen verboten. Es gibt nur zwei Ausnahmen.
Ius ad bellum
Formal kann eine Resolution des UN-Sicherheitsrats eine militärische Reaktion legitimieren. In der Sache selbst erlaubt das Völkerrecht einem Staat lediglich, den Einsatz von Waffengewalt zu initiieren und den Krieg zu erklären, wenn es um den konkreten Fall der unmittelbaren Selbstverteidigung geht.
Das wird als "Ius ad bellum" bezeichnet, was so viel bedeutet wie "das Recht zur Anwendung von Gewalt". Das Recht, sich kämpferisch selbst zu verteidigen, unterscheidet sich vom "Ius in bello", den Grundsätzen und Gesetzen, die die Mittel und Methoden der Kriegsführung selbst regeln.
Anders als im allgemeinen Sprachgebrauch, bei dem Selbstverteidigung eine große Spannweite von Reaktionsweisen umfassen kann, ist das internationale Recht sehr einschränkend. Hier eine nicht vollständige Auflistung einiger Prinzipien, die Experten für internationales Recht zusammengestellt haben:
Die engen Schranken der Selbstverteidigung
1. Es muss sich um einen imminenten bzw. stattfindenden Angriff von außerhalb handeln, der nur noch mit militärischen Mitteln abgewehrt werden kann. Es muss zudem mehr sein als reine Grenzvorkommnisse ("large scale").
2. Ausschließlich die Abwehr von evidenten ("crystallized") Angriffen bzw. Angriffsbedrohungen ist rechtmäßig. Präventive ("pre-emptive") Gewalt bzw. Gewalt gegen eine "wachsende Bedrohung" fallen nicht unter das Recht gewaltsamer Selbstverteidigung.
3. Alle friedlichen Lösungen müssen ausgeschöpft worden sein. Die daraus resultierende Notwendigkeit muss belegt und bewiesen werden.
4. Die Selbstverteidigung ist begrenzt auf proportionale Mittelanwendung im Verhältnis zur Abwehr konkreter Angriffe. Zugleich muss der UN-Sicherheitsrat informiert werden. Nach der Abwehr des Angriffs geht die Verantwortung zum Konfliktmanagement an die Vereinten Nationen ("kollektive Selbstverteidigung").
5. Von rechtmäßiger Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung kann nur dann gesprochen werden, wenn belastbare Evidenz vorliegt. Die Hürden dafür sind hoch (steigend mit der Ausweitung der Gewaltanwendung). Die Belege müssen zudem öffentlich präsentiert werden können.
Russland "militärische Spezialoperation"
Als Russland die Ukraine angriff und Israel Gaza bombardierte, erklärten beide Regierungen, dass es Akte der Selbstverteidigung seien und im Einklang mit dem Völkerrecht abliefen. Schauen wir uns die Sachlage genauer an.
Während Russland seine "militärische Spezialoperation" am 24. Februar 2022 startete, teilte sein Ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen dem UN-Generalsekretär mit, dass die Militäraktion "in Übereinstimmung mit Artikel 51 der UN-Charta in Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung" erfolgte. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte zuvor in seiner Rede ebenfalls darauf abgehoben.
Doch die Erklärungen, die die russische Regierung für den Einmarsch in die Ukraine gab, rechtfertigen den Krieg nicht als Akt der Selbstverteidigung nach dem Völkerrecht. Denn es fand gar kein Angriff auf einen Staat statt, den das russische Militär abwehrte.
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Putin bezieht sich zwar auf das Näherrücken der Nato und der USA an die russische Grenze bis in die Ukraine, wogegen Russland sich verteidige. Doch die Länder hatten keinen Angriff auf Russland gestartet, und eine reine antizipierte Bedrohung, siehe oben, reicht nicht aus, um Artikel 51 der Charta in Anspruch nehmen zu können. Der Angriff muss bereits ablaufen, um sich rechtmäßig verteidigen zu dürfen.
Kein Angriff
Selbst wenn man unterstellt, dass die Krim, die von Russland seit 2014 bei Ausbruch der Krise besetzt wird, russisches Hoheitsgebiet ist, wie von Moskau nach der Besatzung und dem Referendum 2014 erklärt – international gilt die Annexion als illegal und Russland als Besatzungsmacht, während die Krim als russisches Gebiet nur von wenigen Staaten anerkannt wird und die meisten Länder sowie die UN-Generalversammlung die Halbinsel als ukrainisches Territorium ansehen –, verteidigte Russland sich nicht gegen einen Angriff von außen. So schreibt Michael N. Schmitt, Professor für internationales Recht:
Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Nato oder auch nur die Ukraine beschlossen hatten, einen Angriff zur Rückeroberung der Krim zu starten. Ferner waren die Streitkräfte, die dazu in der Lage gewesen wären, nicht vor Ort; somit lag keine Situation der "letzten Chance" vor. Im Gegenteil führten Russland und der Westen eine Reihe von Verhandlungen über die Situation, in der Russland militärisch die Oberhand behielt.
Die russische Regierung machte noch ein zweites Kernargument geltend, um den Ukraine-Einmarsch als Akt der Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Man sei gemäß dem kollektiven Selbstverteidigungsrecht, so Putin, den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine zu Hilfe gekommen.
In den Regionen war es seit 2014 immer wieder zu Kämpfen zwischen Separatistengruppen und ukrainischem Militär gekommen, die von Waffenstillständen und Verhandlungen unterbrochen wurden. Putin sprach in seiner Rede von einem Genozid gegen die russischsprachige Bevölkerung.
Wer Hilfe rufen kann
Aber das Recht kollektiver Selbstverteidigung gemäß Völkerrecht, also das Recht, militärische Hilfe von außen anzufragen, ist auf Staaten begrenzt. Nicht-staatliche bzw. Oppositionsgruppen in einem Land haben diesen Anspruch nicht. Aus gutem Grund. Denn das würde militärischen Interventionen von außen in die inneren Angelegenheiten von Ländern Tür und Tor öffnen.
Die Volksrepubliken werden nun aber von der internationalen Gemeinschaft als Teil der Ukraine angesehen. Nur Russland, Syrien und Nordkorea haben im Zuge des Ukraine-Kriegs ihre Staatlichkeit anerkannt.
Es gab zudem nicht einmal die vom Völkerrecht geforderte zwingende Notwendigkeit einer gewaltsamen Intervention aus Verteidigungszwecken, da Verhandlungen über den Konflikt weiter liefen (Minsk II) und es keine Verschlechterung der Situation in der Region gab, während russischen Friedenstruppen in der Region ankamen.
Dass Russland Kiew und andere Gebiete der Ukraine angriff, hat natürlich nichts mit einer imminenten Verteidigung von Angriffen in den besetzten Gebieten im Osten zu tun.