Russlands nächster Schritt? Finnland und Baltikum im Visier
Russland könnte Nordeuropa angreifen, warnt Helsinki. Nato beobachtet verstärkte Militäraktivitäten. Wie real ist die Bedrohung? Eine Einschätzung.
Ein russischer Angriff auf Finnland, Nordnorwegen und die baltischen Staaten gilt nach Einschätzung der finnischen Regierung als möglich. Dies berichtet die finnische Boulevardzeitung Iltalehti in ihrer Ausgabe vom 25. Dezember 2024.
Bereits seit Anfang des vergangenen Jahres gebe es Warnungen vor möglichen Angriffen, schreibt die Zeitung. Der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, Micael Bydén, teilt diese Einschätzung und warnt vor einer russischen Offensive gegen Ostseeanrainer in den kommenden Jahren – eine Befürchtung, die auch von Schwedens Regierung unterstützt werde.
Konkrete russische Angriffspläne zugespielt
Von anonymen Nato-Quellen, auf die sich die Zeitung beruft, seien Iltalehti sogar konkrete russische Angriffspläne vorgelegt worden.
Dem Bericht zufolge könnte Russland mit mehreren Armeen gleichzeitig Nordeuropa attackieren: Von Murmansk aus würde das 14. Armeekorps die norwegische Küste angreifen, während Landungstruppen ins finnische Lappland entsandt würden. Geplant seien zudem Raketenangriffe von der Kola-Halbinsel aus auf Finnland.
Ziel sei die Errichtung einer Pufferzone in Lappland und der norwegischen Finnmark. Im Süden stünden Angriffe auf Finnlands Südküste und Südostfinnland durch das 44. Armeekorps im Fokus – weniger, um tiefer ins Landesinnere vorzudringen, sondern um Finnlands Verteidigung zu schwächen und Estland den Beistand zu erschweren.
Rückkehr zu den Grenzen des Vertrags von Turku (1743)
Russlands strategisches Ziel, so die Quellen, sei eine territoriale Rückkehr zu den Grenzen, wie sie im Vertrags von Turku von 1743 festgehalten wurden, mit einer möglichen Ausdehnung bis zum Fluss Kymijoki und dem See Puumalansalmi.
Auch die baltischen Staaten wären betroffen: Die 6. Russische Armee plane, mit einem massiven Einsatz von Panzern, Artillerie und Raketen nach Estland und Lettland vorzustoßen, um Tallinn und Riga einzunehmen.
Litauen wiederum würde über Belarus attackiert, um eine Landverbindung zwischen Kaliningrad und Belarus – die sogenannte Suwalki-Lücke – zu sichern. Nato-Truppen im Baltikum könnten im Falle eines erfolgreichen russischen Vorstoßes eingekesselt werden.
Militärmanöver "Zapad" und "Nordic Response"
Die Zeitung erinnert daran, dass Russland bereits 2017 im Rahmen des Militärmanövers "Zapad" Angriffe auf Norwegen, Finnland und die baltischen Staaten simuliert habe. Daraus folgern die anonymen Nato-Quellen, dass Russland entsprechende Pläne weiterhin verfolge und diese nach dem Krieg in der Ukraine umsetzen könnte.
Wörtlich zitiert Iltalehti eine Quelle mit den Worten:
Die Frage ist nicht, ob Russland angreifen wird, sondern wann. Es ist sicher, dass sie versuchen werden, uns zu überraschen. Überraschung ist Teil der strategischen Kultur Russlands.
Die Nato reagierte bereits Anfang 2023 mit dem Großmanöver "Nordic Response", an dem 20.000 Soldaten aus 13 Nationen in der Polarregion Norwegens teilnahmen, darunter 4.000 finnische Soldaten. Dies berichtete die indische Zeitung The Hindu.
Politik der "Finnlandisierung"
Dabei verpflichtete sich Finnland nach dem verlorenen Krieg gegen die Sowjetunion mit dem finnisch-sowjetischen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand von 1948 zur Neutralität und enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, um seine Unabhängigkeit zu sichern.
Diese Politik der "Finnlandisierung" bedeutete, dass Finnland seine Außenpolitik vorsichtig an sowjetischen Interessen ausrichtete und die Mitgliedschaft in westlichen Bündnissen wie der Nato vermied.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wandelte sich die finnische Außenpolitik grundlegend. Der Vertrag von 1948 wurde 1992 durch ein neues Abkommen mit Russland ersetzt, das auf Gleichberechtigung und friedliche Nachbarschaft abzielte.
Gleichzeitig orientierte sich Finnland stärker nach Westen: 1995 trat das Land der Europäischen Union bei.
Finnlands Nato-Beitritt
Mit der zunehmenden Verschärfung der Spannungen zwischen dem Westen und Russland, geprägt durch unterschiedliche geopolitische Interessen und wachsende Konflikte wie den Ukraine-Krieg ab 2014, entschied sich Finnland, seine außenpolitische Ausrichtung zu überdenken. Finnland ist seit dem 4. April 2023 Mitglied der Nato.
Dabei achtete Russland stets darauf, Finnland als neutralen Pufferstaat zwischen sich und den oft als bedrohlich empfundenen Westmächten zu etablieren.
Aus russischer Sicht wirft die Nato-Präsenz in Finnland zahlreiche Probleme auf.
Probleme für Russland: Murmansk und Kola-Halbinsel
Zum einen können der finnische Meerbusen und die baltischen Staaten als ein Einfallstor angesehen werden, St. Petersburg, die zweitgrößte Stadt Russlands, zu bedrohen. Zudem wird mit der Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten, Schwedens und Finnlands die Aktionsfähigkeit der russischen baltischen Flotte eingeschränkt.
Die größten Probleme für Russland sind aber im hohen Norden zu finden: Sie heißen Murmansk und die Kola-Halbinsel.
Finnland und Russland teilen eine grob 1.300 Kilometer lange Grenze. Und es gibt aus russischer Sicht eine gefährliche Nähe zu logistischen Engstellen, über die die Versorgung von Murmansk und der Kola läuft. Diese sind nur etwas mehr als 100 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt.
Denn Murmansk ist der wichtigste Hafen der russischen Nordflotte. Diese spielt eine zentrale Rolle in der Nuklearstrategie des Landes.
Der Fachblog War on the Rocks führt das aus:
Die verstärkte Exposition der russischen Militäreinrichtungen auf der Kola-Halbinsel ist für die russische Bedrohungswahrnehmung von besonderer Bedeutung. Die östlich von Nordnorwegen und Finnland gelegene Kola-Halbinsel ist von zentraler Bedeutung für die nationale Sicherheit Russlands.
Sie beherbergt die russische Nordflotte, zu der U-Boote mit ballistischen Raketen gehören, die die nukleare Zweitschlagskapazität des Landes garantieren, sowie Angriffs-U-Boote und mit Marschflugkörpern ausgerüstete Überwasserschiffe, die Russland dabei helfen würden, US-Verstärkungskonvois auf ihrem Weg nach Europa abzufangen. (...)
Jede neue Nato-Infrastruktur in Schweden und Finnland – wie z.B. modernisierte Flugplätze, nachrichtendienstliche Einrichtungen oder vor allem Atomwaffen – wird Russlands aggressive Haltung in der nordisch-baltisch-arktischen Region nur noch verstärken. Finnland hat bereits angekündigt, dass es ab 2026 F-35-Kampfjets in Lappland stationieren wird, und in den kommenden Jahren ist mit häufigeren groß angelegten Nato-Übungen in Nordeuropa zu rechnen.
War on the Rocks
Laut dem Center for Strategic and International Studies (CSIS) hat Russland in den vergangenen Jahren erhebliche Modernisierungs- und Ausbauarbeiten unternommen, etwa an der Luftwaffenbasis Severomorsk-1 sowie weiteren Einrichtungen.
Besonders hervorzuheben sind die Raketenstützpunkte der Region. Auf der Kola-Halbinsel befindet sich etwa das RS-24-Yars-System am Plesetsk-Weltraumbahnhof, Russlands nukleare Interkontinentalraketen.
Nato-Erweiterung: Bedeutung für Russland
Die strategische Bedeutung der Region für Russland ist immens. Dabei erscheint die eigene strategische Position aus Moskaus Sicht zunehmend prekär:
Die Nato-Osterweiterung drängt das Land in die Defensive, während westliche Akteure keinerlei Bereitschaft zeigen, russische Sicherheitsinteressen – insbesondere den Wunsch nach einer Pufferzone zwischen Nato und russischen Militärinstallationen – zu berücksichtigen.
Die vom Westen unterstützten antidemokratischen Aktivitäten in Georgien unterstreichen nach Einschätzung des Autors das Bestreben, weiter in die traditionell russische Einflusssphäre vorzudringen.
Während ein möglicher Nato-Beitritt der Ukraine von Russland als Gefährdung der eigenen Sicherheit wahrgenommen wird, muss der bereits vollzogene Nato-Beitritt Finnlands aus russischer Perspektive als strategische Katastrophe erscheinen – und kann aus Sicht des Autors tatsächlich zu einem russischen Versuch führen, Finnland als neutralen Pufferstaat wieder herzustellen, und das auch mit militärischen Mitteln.
Aber liegt das überhaupt im Bereich des militärisch Möglichen für Russland?
Ein genauerer Blick auf gängige westliche Russland-Analysen offenbart zwei fundamentale Schwächen.
Der Ukraine-Krieg und Russlands militärische Adaption
Zum einen könnte sich die vorherrschende westliche Einschätzung, Russlands militärische Schlagkraft sei durch den Ukraine-Krieg nachhaltig geschwächt, als folgenschwere Fehleinschätzung erweisen.
Vielmehr deutet vieles auf eine paradoxe Entwicklung hin: Die fragmentierte und oftmals zögerliche westliche Militärhilfe an die Ukraine könnte einen ähnlichen Effekt haben wie der alltägliche Einsatz von Antibiotika in unserer Lebensmittelproduktion – etwa wenn Natamyzin zur Käsekonservierung eingesetzt wird.
So wie diese konstante, niedrigdosierte Exposition nicht etwa das menschliche Immunsystem stärkt, sondern zur Entwicklung resistenter Erreger führt, könnte die unkoordinierte und niedrigdosierte Militärunterstützung Russland ermöglichen, seine militärischen Fähigkeiten anzupassen und sogar zu verstärken.
Die an den Grenzen der EU verteilte Militärhilfe wirkt dabei wie eine kontinuierliche, aber nicht durchschlagskräftige Dosis, die Russland Zeit und Möglichkeiten zur Anpassung gibt.
Zum anderen wird offenbar die aus russischer Sicht existenzielle Notwendigkeit unterschätzt, die als bedrohlich wahrgenommene Nato auf Abstand zu halten. Es liegt daher im Bereich des Möglichen, dass die russischen Eliten ihre Entscheidungen nicht ausschließlich auf der Grundlage einer rein militärischen Machbarkeitsanalyse treffen.
Was der Westen nicht sieht
Ramzy Mardini schreibt für das US-Onlinemagazin The National Interest, eine Publikation der US-Denkfabrik Center for National Interest:
Doch trotz der eindeutigen Beweise für Russlands Entschlossenheit verharren die Vereinigten Staaten und Europa in überholten Annahmen, die das Land immer noch unterschätzen.
Zum Nachteil ihrer eigenen Zwangsstrategien versäumen es westliche Politiker, immer wieder anzuerkennen, geschweige denn zu akzeptieren, dass Russlands Entschlossenheit nicht von imperialen Ambitionen angetrieben wird, sondern von der Überzeugung, dass die sich vertiefenden Beziehungen der Nato zur Ukraine – und das Bestreben, sie in das Bündnis einzugliedern – eine Bedrohung für seine nationale Sicherheit darstellen.
Die Geschichte hat wiederholt gezeigt, dass ein Staat, der seine Sicherheit bedroht sieht, seine Entschlossenheit verstärkt.
Die russischen Ziele in Finnland
Bei der Analyse möglicher russischer Aktionen ist ein wichtiger Unterschied zu beachten: Die russischen Ziele in Finnland würden sich fundamental von denen in der Ukraine unterscheiden. In der Ukraine verfolgt Moskau vermutlich eine Strategie der vollständigen staatlichen Neuordnung.
Die vorwiegend russischsprachigen Gebiete könnten in die Russische Föderation integriert werden, während die westlichen Regionen mit ihrer stark nationalistisch geprägten Bevölkerung einer kontrollierten Restukraine zugeschlagen würden.
Im Falle Finnlands läge das primäre Ziel hingegen in der Wiederherstellung des Status quo ante – der Neutralität vor dem Nato-Beitritt. Ferner könnte Russland eine weiterreichende Strategie verfolgen.
Neben der Neutralisierung Finnlands als potenzieller Bedrohung für die Kola-Halbinsel könnte eine erzwungene Neutralität der baltischen Staaten angestrebt werden. Dies würde Nato-Truppen von russischen Grenzen zurückdrängen und zugleich einen gesicherten Landkorridor nach Kaliningrad ermöglichen.
Einschätzung der Risiken
Ein solcher militärischer Schritt wäre für Russland höchst riskant, da er die Nato-Beistandspflicht nach Artikel 5 auslösen würde.
Doch Russland könnte zu dem Schluss kommen, dass die eigene strategische Lage bereits so kritisch ist, dass hochriskantes Handeln unvermeidbar erscheint – weil Nichthandeln noch größere Gefahren mit sich bringen könnte. Mit anderen Worten: Aus russischer Sicht könnten unwiderruflich rote Linien überschritten worden sein.
Hinzu kommt, dass Russland möglicherweise ein Zeitfenster von fünf bis acht Jahren hätte, um militärisch gegen eine durch den Ukraine-Krieg geschwächte und teilweise desorganisierte Nato vorzugehen. Im Gegensatz zur Nato hat Russland bereits begonnen, seine Industrie auf die Anforderungen eines Hochintensivkonflikts umzustellen.
Eine militärische Reaktion des Westens auf eine solche Dynamik scheint vorhersehbar: verstärkte Aufrüstung. Doch diese Logik offenbart sich als endlose Spirale – jeder Aufrüstung geht eine empfundene Bedrohung voraus, die wiederum nur Reaktion auf eine vorherige Bedrohung ist: ein Teufelskreis, in dem sich Aktion und Reaktion gegenseitig bedingen und verstärken.
Wille zur Abrüstung?
Abhilfe kann nur der ernste und feste Wille zur Abrüstung und Frieden schaffen. Und dies würde eine ernsthafte Dialogbereitschaft erfordern, bei der auch die bisherigen Nato-Erweiterungen auf den Verhandlungstisch kommen müssten.
Weiter vorwiegend eine Rückkehr zum ABM- sowie zum INF-Vertrag. Beide Verträge sind von der USA einseitig und fahrlässig aufgekündigt worden. Russland hat das als Bedrohung aufgefasst und entsprechend mit Aufrüstung reagiert.
Zudem wäre es sehr zentral, einen Vertrag über das Verbot von Hyperschallwaffen zu nennen. Diese potenzieren die Gefahr eines Atomkrieges aufgrund der dramatisch verengten Vorwarnzeiten und Entscheidungsräume.
Wer jetzt stattdessen Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit und Zeitenwende predigt, gießt weiteres Öl ins Feuer, erhöht den Angstraum in Europa und bereitet den Boden für einen Krieg. Einen Krieg, der, egal wie er ausgehen mag, Europa fundamental verändern würde.