"Die USA beherrschen die außenpolitische und sicherheitspolitische Lage Europas"
- "Die USA beherrschen die außenpolitische und sicherheitspolitische Lage Europas"
- "Man hätte sich mit Putin verständigen können, wenn man wirklich verhandelt hätte."
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Nationale Interessen, Versäumnisse und Versagen in der Ukraine-Krise – Interview mit Klaus von Dohnanyi, Teil 1
"Nationale Interessen" ist ein Begriff, den man heute vor allem aus der Politikwissenschaft kennt. Die Schule des außenpolitischen Realismus (oder Neo-Realismus) benutzt ihn zur Lageanalyse. Und damit eher jene politischen Denker, die anti-interventionistisch gesonnen sind, und vorsichtig gegenüber militärischen Abenteuern wie gegenüber dem hohen Ton der Moral.
Diese Vorsicht teilt auch Klaus von Dohnanyi, der "Nationale Interessen" zum Titel seines neuen Buchs gewählt hat. In seinem Ende 2021 fertiggestellten Buch fasst Dohnanyi seine außen- und geopolitischen Überlegungen zur "deutschen und europäischen Politik in Zeiten globaler Umbrüche" zusammen.
Unter anderem fordert der Autor mehr politische Distanz gegenüber den USA, eine eigenständige europäische Außenpolitik, er kritisiert Illusionen des "Westens" und fordert Kurskorrekturen. Das Ziel Europas müsse eine "allianzneutrale Position" sein.
Der Deutschlandfunk nannte das Buch "eine Zumutung". Grund genug, mit Klaus von Dohnanyi zu sprechen.
"Das militärische Denken wird unsere Politik nicht auf Dauer beherrschen"
Ihr Buch ist vor Beginn des Kriegs in der Ukraine erschienen. Haben die jüngsten Ereignisse etwas Grundsätzliches an Ihren Überlegungen geändert? Haben Sie irgendetwas zurückzunehmen?
Klaus von Dohnanyi: Nicht grundsätzlich. Man lernt natürlich immer dazu. Der Krieg hat die Situation völlig verändert. Aber meine These, dass Europa am Ende nur sicher kann, wenn es eine konstruktive, positive und nach vorn gerichtete Verständigungspolitik betreibt, auch gegenüber Russland, die muss ich nicht und werde ich auch nicht ändern.
Aber die neueste Entwicklung muss Sie ja deprimieren. Auch angesichts ihrer Überlegungen zur Nato. Denn was wir gerade erleben, ist ja eine Remilitarisierung des Denkens und der Mentalität einer ganzen Generation. Es gibt eine neue Fixierung auf das Militärische. Und Sie plädieren doch gerade dafür, dass wir uns von dieser Fixierung lösen...
Klaus von Dohnanyi: Natürlich muss jede Nation auch bereit sein, sich selbst oder ein Bündnis zu verteidigen. Das betone ich auch in meinem Buch ausdrücklich. Aber ich glaube nicht, dass das militärische Denken, das gegenwärtig wegen des Ukraine-Krieges die Lage dominiert, unsere Politik auf die Dauer beherrschen wird.
Nicht nur Deutschland und Frankreich wissen, dass es notwendig bleibt, das Gespräch auch mit Russland aufrechtzuerhalten. Die Frage ist, ob wir dafür auch die USA gewinnen können. Aber solange die USA die außenpolitische und sicherheitspolitische Lage Europas beherrschen, wird das leider immer schwierig sein.
Nationale Interessen und Kompromisse
Schon im Titel Ihres Buches taucht der Begriff "Nationale Interessen" auf. Das ist kein sehr modischer Begriff. Man dachte, man hätte die nationale Perspektive verabschiedet. Können Sie skizzieren, was genau damit gemeint ist?
Klaus von Dohnanyi: Jeder Staat hat zunächst eine andere geografische Ausgangslage, schon deswegen besondere Möglichkeiten, Risiken und eine entsprechende Geschichte. Und das prägt seine Interessen. In einer Demokratie bestimmt dann das Volk durch Wahlen seine "Interessen" und diese stimmen dann zwangsläufig nicht immer mit den Interessen anderer Staaten überein.
Auch in Europa haben wir unterschiedliche Interessen. Das zeigt sich zum Beispiel heute ganz plastisch in der Energiepolitik: Frankreich will die Atomenergie ausbauen, und Deutschland will das Gegenteil tun. Dass es diese divergierenden Interessen gibt, war immer so, und das wird sich auch nicht ändern.
Was sich ändern muss, ist, dass wir noch entschlossener und mutiger bereit sind, zwischen den unterschiedlichen nationalen Interessen Kompromisse zu suchen und zu finden. Das ist die Aufgabe globaler Politik. Aber wer unterschiedliche nationale Interessen leugnet, lebt in einem Wolkenkuckucksheim.
Klaus von Dohnanyi, dessen Vater Hans von Dohnanyi und dessen Onkel Dietrich Bonhoeffer im NS-Widerstand waren und vor Kriegsende hingerichtet wurden, wurde 1928 geboren, studierte in den USA und ist seit 1957 Mitglied der SPD, für die er zwischen 1969 und 1981 im Bundestag saß. In den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt war Dohnanyi Minister, zuvor Staatssekretär für Bildung und Wissenschaft (1969-1974), und Staatsminister im Auswärtigen Amt (1976-1981). 1981-1988 war Dohnanyi Erster Bürgermeister von Hamburg.
Aber wie definiert man diese unterschiedlichen Interessen eigentlich genau? Wie trennt man sie von den universalen Werten? Das, was wir in letzter Zeit unter der Formel einer "wertegeleiteten Außenpolitik" hören, das liegt ja, wenn ich Sie richtig verstehe, nicht im nationalen Interesse...
Klaus von Dohnanyi: Aber natürlich liegt das in unserem Interesse! Natürlich haben wir ein Interesse daran, dass wenn irgend' möglich, auch Russland demokratisch organisiert und geführt wird, und China auch. Nur: Es ist eben gegenwärtig nicht so und wir müssen gegenwärtig Politik machen.
Aber unser Interesse ist es natürlich durchaus, dass eine Wertestruktur in der Welt entsteht, die die Länder friedlich miteinander umgehen lässt. Doch unsere Werte sind eben nicht universell, nicht einmal innerhalb der EU. Auch die USA leben doch ganz andere "Werte" als wir Europäer.
Und auf Basis dieser Erkenntnis sollten wir auch unsere Außenpolitik führen. Wir brauchen zum Beispiel eine außenpolitische Verständigung mit China, obwohl unsere Wertevorstellungen gegenwärtig so grundverschieden sind.
"Es lohnt sich, sie darauf aufmerksam zu machen, dass autoritäre Systeme am Ende keinen Bestand haben"
Das heißt, dass Außenpolitik in der Regel zwar darauf hinwirken kann, dass sich autoritäre Staaten demokratisieren, dass man aber die Beziehungen nicht direkt damit verbinden sollte? Verstehe ich Sie so richtig?
Dass wir nicht versuchen sollten, Ländern, die unsere "Verbündete" sind, aber nicht gerade in unserem Sinn demokratisch – man könnte jetzt von den Saudis sprechen oder von Ägypten – demokratische Werte zu predigen, sondern sie zu einem realistischen Interessenausgleich führen. Ist es das, was Sie wollen?
Klaus von Dohnanyi: Beides ist richtig. Ich stimme Ihnen zu, dass man anderen Ländern unsere Demokratie nicht aufzwingen kann. Aber es lohnt sich schon, sie darauf aufmerksam zu machen, dass autoritäre Systeme am Ende keinen Bestand haben werden. Und es lohnt sich auch, über Einzelfälle von politisch Verfolgten immer wieder zu sprechen.
Ich habe in Hamburg in meiner Amtszeit als Bürgermeister eine kleine "Stiftung für politisch Verfolgte" geschaffen. Da holen wir jedes Jahr fünf, sechs politisch Verfolgte aus der ganzen Welt nach Hamburg und geben ihnen Unterschlupf und Unterhalt.
Ich bin also sehr für eine aktive Menschenrechtspolitik, doch zugleich der Meinung, dass wir mit Sanktionen oder ähnlichen Maßnahmen diese Systeme nicht ändern können; doch wir sollten mit den Regierungen offen über einzelne Fälle reden. Aber Kriege und Sanktionen verbessern die Lage Verfolgter nicht!
Ansonsten bin ich auf der Seite von Helmut Schmidt, der einmal gesagt hat: Wir müssen unsere eigenen moralischen Werte bewahren, aber sie anderen aufzudrängen, ist nicht unsere Aufgabe.
Sanktionen und Verhärtungen
Wie schätzen Sie die Rolle von Sanktionen in unseren öffentlichen Diskursen ein? Ist das Symbolpolitik, die vor allem innenpolitischen Zielen dient? Oder kennen Sie Beispiele, in denen Sanktionen etwas bewirkt haben?
Klaus von Dohnanyi: Sanktionen haben natürlich Wirkungen, leider oft auch völkerrechtswidrig auf Drittstaaten, wie die Iran-Sanktionen der USA gegenwärtig auf Deutschland. Und da Deutschland auch ökonomisch so abhängig von den USA ist – übrigens unendlich viel abhängiger als von Russland! – können und wollen die USA uns oft zu einem Verhalten zwingen, das überhaupt nicht in unserem Interesse ist: siehe Nord Stream 2!
Aber ich glaube nicht, dass Sanktionen eine verändernde Wirkung auf Staatssysteme haben, ein Beispiel dafür habe ich jedenfalls noch nie gesehen. Im Allgemeinen führen Sanktionen eher dazu, dass diese Systeme ihre Politik verhärten und die Bevölkerung sinnlos leidet. Das gilt zum Beispiel gegenwärtig für den Iran, das gilt vermutlich auch für Russland. Wir werden diese Systeme so nicht ändern. Im Ganzen denke ich, dass Sanktionen oft nur dazu dienen, dem eigenen Lager sagen zu können: "Wir tun doch was."
Politik ist ein Handwerk
Zurzeit wird in der Ukraine-Krise die auch von Ihnen favorisierte Politik der Diplomatie und der Entspannung gern als "Appeasement" diskreditiert, vor allem von jenen, die angeblich schon immer alle bösen Absichten Russlands vorausgeahnt haben. Ist "Appeasement" ein Begriff, der diese Politik richtig beschreibt?
Klaus von Dohnanyi: Politik ist ein Handwerk und muss deswegen immer auch am Ergebnis beurteilt werden: Hat sie der handelnden Nation geholfen, die auftauchenden Probleme zu lösen? Ich glaube deswegen nicht, dass wir grundsätzlich sehr viel weiterkommen, wenn wir Nachgeben immer herablassend als Appeasement bezeichnen. Nicht immer sollte "der Klügere nachgeben", aber Politik muss, wie jede andere praktische Tätigkeit, eben auch am Ergebnis beurteilt werden.
Und wenn man diesen Maßstab an die Führungsmacht des Westens, die USA, anlegt, dann haben diese doch weitgehend versagt: Sie haben im Nahen Osten und in Afghanistan nur Chaos hinterlassen, weder den Frieden mit Russland sichern noch die Ukraine schützen können. Und sie laufen heute mit China, wie Henry Kissinger befürchtet, in die Gefahren eines 3. Weltkrieges. Da sind doch nicht immer nur die anderen schuld!