Die Ukraine könnte einen Sieg erringen, wenn auch nicht auf dem Schlachtfeld

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besucht einen Checkpoint nahe der Stadt Awdijiwka in der Ukraine, 29. Dezember 2023. Bild: Ukrainische Regierung

Zunehmend schwinden die militärischen Chancen für Kiew. Russland sitzt am längeren Hebel, der Westen sollte das sehen. Was strategisch klug wäre. Gastbeitrag.

Das militärische und wirtschaftliche Gleichgewicht im Krieg hat sich stark gegen die Ukraine verschoben, und es ist sehr schwer zu erkennen, wie sich diese Tendenz jetzt umkehren lässt. Noch kann die Ukraine einen eingeschränkten Sieg über Russland erringen, aber nur, wenn sich die Vereinigten Staaten nachdrücklich für einen Kompromissfrieden einsetzen.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute.

Russland hat mindestens die vierfache Bevölkerung und ein 14-mal größeres BIP als die Ukraine. Die Versuche des Westens, Russland durch Wirtschaftssanktionen lahmzulegen, sind gescheitert.

Die russische Wirtschaft wuchs im Jahr 2023 um etwa drei Prozent, was auf erhöhte Energieexporte in nicht-westliche Länder und massive und erfolgreiche Investitionen in die militärische Industrieproduktion zurückzuführen ist. Die Ukraine unternimmt verzweifelte Versuche, ihre eigene Militärproduktion anzukurbeln, allerdings auf einer weitaus geringeren industriellen Basis und mit einem akuten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften.

Westen verfehlt Ziele

Die Biden-Regierung warnt daher zu Recht, dass Russland ohne fortgesetzte und massive US-Militärhilfe für die Ukraine schnell den Sieg davontragen wird. Es ist jedoch ebenso klar, dass die US-Hilfe – vor allem nicht in der bisherigen Höhe – nicht einmal mittelfristig garantiert werden kann.

Zum Teil aufgrund des neuen US-Engagements für Israel, das durch den Gaza-Krieg und die Gefahr seiner Ausweitung entstanden ist, versäumen es die USA auch, die schwindenden ukrainischen Bestände an Luftabwehrraketen, die sowohl auf dem Schlachtfeld als auch für den Schutz der ukrainischen Infrastruktur und Industrie von entscheidender Bedeutung sind, angemessen aufzufüllen.

Sowohl die Vereinigten Staaten als auch Europa verfehlen ihr Ziel, die Produktion von Artilleriegranaten zu erhöhen, die Russland drei- bis fünfmal so häufig abfeuert wie die ukrainische Armee.

Und selbst wenn der Westen seine Militärproduktion erheblich steigern könnte (was angesichts des Drucks auf die westlichen Staatshaushalte, der Lieferkettenprobleme und des Fachkräftemangels höchst zweifelhaft ist), können wir der Ukraine nicht mehr Soldaten zur Verfügung stellen.

Mangel an Soldaten

Der ukrainische Personalmangel wird immer akuter und führt zu immer drakonischeren Wehrpflichtmaßnahmen und erbitterten Streitigkeiten innerhalb der ukrainischen Regierung über die Durchsetzung der Wehrpflicht, die angesichts des wachsenden öffentlichen Widerstands ins Wanken gerät.

Nach dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive im letzten Jahr sind die Biden-Regierung sowie die ukrainische Regierung und das ukrainische Militär zu einer defensiven Strategie übergegangen und versuchen, die lange Nordgrenze der Ukraine zu Russland und Weißrussland zu befestigen.

In dieser Region ist es ruhig geworden, seit Moskau seine Truppen im Frühjahr 2022 nach dem Scheitern der ersten Invasion aus dem Norden abgezogen hat. Der wachsende zahlenmäßige Vorsprung Russlands bedeutet jedoch, dass seine Armee irgendwann in der Zukunft in der Lage sein könnte, entlang dieser Front erneut anzugreifen.

Eine Strategie, die zwar klug und kurzfristig erfolgreich ist, für die Ukraine aber zwei enorme Nachteile mit sich bringt. Politisch bringt sie die offensichtliche Konsequenz mit sich, dass Russland die Gebiete, die es jetzt kontrolliert, auch weiterhin halten wird.

Defensivstrategie

Unter diesen Umständen werden natürlich immer mehr Ukrainer und Westler nach einem Kompromissfrieden rufen. Die Gefahr besteht darin, dass sich das Gleichgewicht so stark gegen die Ukraine verschiebt, dass Russland kaum noch Anreize für einen Kompromiss hat, wenn wir uns zu lange Zeit lassen.

Denn militärisch gesehen verpflichtet eine permanente Defensivstrategie die Ukraine zu einem Zermürbungskrieg auf unbestimmte Zeit, in dem Russland langfristig große Vorteile hat. Es ist richtig, dass wie im Ersten Weltkrieg die jüngsten Entwicklungen in der Militärtechnologie die Defensive stark begünstigen.

Das zeigte sich in der Niederlage der russischen Offensive 2022 und der ukrainischen Offensive 2023 sowie in den stockenden Fortschritten, die Russland bei seinen Bemühungen um die Einnahme von Kleinstädten wie Awdijiwka im Donbass gemacht hat. Wir sollten uns aber auch daran erinnern, dass im Ersten Weltkrieg die zahlenmäßige, munitionstechnische und wirtschaftliche Überlegenheit der Alliierten schließlich zum Sieg führte.

Angesichts dieser Realität greifen die ukrainische Regierung und die westlichen Befürworter eines vollständigen ukrainischen Sieges auf eine Reihe von optimistischen Szenarien zurück, die bei Lichte besehen den Charakter von wenig glaubwürdig bis magisch besitzen.