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Die gefährliche Ignoranz der US-Sicherheitseliten gegenüber der Klimakatastrophe

Hurrikan Sandy war der stärkste atlantische Hurrikan aller Zeiten und verursachte am 29. Oktober 2012 in New York und New Jersey die größten Schäden. Bild: Ryan J. Courtade, U.S. Navy / Public Domain

Bei schmelzender Arktis werden russische Schiffe befürchtet. Und was ist mit überschwemmten US-Städten, Migrationschaos? Über neue Prioritäten. Gastbeitrag.

Zum ersten Mal – und es ist bemerkenswert, dass es das erste Mal ist – wird auf dem Klimagipfel der Vereinten Nationen COP28, der letzte Woche in Dubai begann, eine "globale Bestandsaufnahme" [1] der Fortschritte bei der Erreichung der Ziele und der Verpflichtungen, die seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 durch globale Vereinbarungen eingegangen wurden, stattfinden.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute.

Wenn diese Bestandsaufnahme ehrlich ist, wird sie auch äußerst deprimierend sein.

Um zu verhindern, dass der Anstieg der globalen Temperaturen seit der vorindustriellen Zeit die einigermaßen sichere Grenze von 1,5 Grad Celsius überschreitet, wurde auf der COP26 in Glasgow das Ziel festgelegt [2], die Emissionen fossiler Brennstoffe bis 2030 um 45 Prozent zu reduzieren. Diese Ziele sind nun unerreichbar.

Ausgehend von den derzeitigen Prognosen werden die Emissionen bis zu diesem Zeitpunkt um neun Prozent über das Niveau von 2010 steigen [3]. Da Kohlendioxid Tausende von Jahren in der Atmosphäre verbleibt, bedeutet es, dass ein Anstieg auf über 1,5 Grad Celsius nun unvermeidlich ist und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, zumindest nicht mit den uns heute zur Verfügung stehenden Technologien.

Die unvermeidliche Folge [4] wird eine Verschärfung der Hitzewellen, Dürren, Waldbrände und Überschwemmungen sein, die große Teile der Welt – einschließlich der Vereinigten Staaten – im vergangenen Jahr heimgesucht haben. Ohne einen radikalen Kurswechsel steht jedoch noch viel Schlimmeres bevor.

Wenn die Emissionen bis 2030 weiter ansteigen, ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie bis 2050 ein "Netto-Null-Wert" (d. h. der Kohlenstoff, der der Atmosphäre entzogen wird, entspricht dem, der ihr zugeführt wird) erreicht werden kann.

Selbst mit den von den Staaten im Rahmen des Pariser Abkommens [5] eingegangenen Verpflichtungen – die als radikaler Durchbruch im Kampf gegen den Klimawandel gefeiert werden – werden die globalen Temperaturen Schätzungen zufolge [6] bis zum Ende dieses Jahrhunderts um 2,5 Grad Celsius steigen. Damit würden wir uns auf völlig unbekanntes Terrain begeben.

Die negativen Auswirkungen von Naturkatastrophen und auf die landwirtschaftlichen Erträge [7] in wichtigen Teilen der Welt werden exponenziell zunehmen. Vielleicht werden neue, gentechnisch veränderte, hitzebeständige Pflanzen die großen Hungersnöte abwenden, vielleicht aber auch nicht. Abgesehen davon können Hunderte von Millionen von Landarbeitern in Asien und anderswo nicht gentechnisch so verändert werden, dass sie dauerhaft Temperaturen standhalten, die für Menschen tödlich sind.

Dieses Szenario wird selbst dann eintreten, wenn der Temperaturanstieg wie bisher linear und allmählich erfolgt (allmählich nach den Maßstäben der Menschheit, nicht nach denen der Erde). Es besteht jedoch ein reales, wenn auch nicht quantifizierbares Risiko, dass ein solcher Anstieg zu "Kipppunkten" und "Rückkopplungsschleifen" [8] führt, wobei ein Anstieg von zwei Grad in kurzer Zeit zu drei Grad und drei Grad zu vier Grad führen.

Wenn das der Fall ist, wird die Zivilisation, wie wir sie kennen, zerstört werden. Keine organisierte Gesellschaft auf der Erde könnte sowohl den damit verbundenen physischen Störungen als auch den immensen Bewegungen verzweifelter Menschen standhalten, die sich daraus ergeben würden.

Diese Gefahr von Rückkopplungsschleifen besteht vor allem in der Arktis, wo das Schmelzen des Meereises die Reflexivität des Sonnenlichts in den Weltraum verringert und das Schmelzen des arktischen Permafrostes enorme Mengen an Methan aus gefrorenen, verrotteten Pflanzen freizusetzen droht.

Obwohl Methan weit weniger langlebig ist als Kohlendioxid, ist seine Treibhauswirkung fast 40 Mal stärker. Und die Arktis erwärmt sich fast dreimal so schnell wie der Durchschnitt auf der Erde.

Deshalb ist der Umgang des US-amerikanischen Sicherheitsestablishments mit der Erwärmung der Arktis so frappierend. Hunderte, vielleicht Tausende von Papieren, Briefings und Artikeln fokussieren auf die vermeintliche Bedrohung [9], die dadurch entstehen soll, dass das Schmelzen des arktischen Meereises Russland und China erlauben wird, mehr Schiffe durch die Region zu navigieren.

Darauf sollte die einzig vernünftige Antwort lauten: na und? Russland und China können über die Arktis nicht in Alaska oder Kanada einmarschieren, und die Gefahr, die von Atomraketen oder Bombern ausgeht, die die Region überfliegen, besteht schon seit mehr als sechzig Jahren und wird durch den Klimawandel überhaupt nicht beeinflusst.

In der Zwischenzeit scheinen die Autoren völlig gleichgültig gegenüber der Wahrscheinlichkeit zu sein, dass der Klimawandel in der Arktis amerikanische Städte überschwemmen, einen Großteil der US-Landwirtschaft zerstören und dem Leben und der Gesundheit von Hunderten von Millionen US-Bürgern schweren Schaden zufügen wird.

Klimakrisenfolgen werden alles in den Schatten stellen

Wir leiden an einem schweren Fall von "zurückgebliebenen Eliten". Sie sind in außen- und sicherheitspolitische Einrichtungen, die für eine bestimmte Art von Herausforderungen – im Falle der USA der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg – groß geworden, deren Strukturen, Ideologien und wirtschaftliche Interessen sie jedoch unfähig machen, einer ganz anderen Art von Herausforderungen zu begegnen.

Man könnte eine Parallele zu den "konfuzianischen" Eliten im China des 19. Jahrhunderts ziehen. Sie repräsentierten die bei Weitem älteste und erfolgreichste Regierungstradition der Geschichte, die jedoch auf die völlig neue Herausforderung des westlichen imperialen Kapitalismus nicht vorbereitet war.

Natürlich gilt diese Kritik genauso oder noch mehr für die Sicherheitseliten anderer Großmächte, einschließlich der Inder und Chinesen, die sich ebenfalls auf geopolitische Ambitionen und Risiken konzentrieren, die auf Kosten von Maßnahmen gegen den Klimawandel gehen.

Man kann sie sogar als noch törichter bezeichnen. Während die entwickelten Gesellschaften im Westen noch lange Zeit in der Lage sein werden, den direkten physischen Auswirkungen des Klimawandels zu widerstehen oder sich an sie anzupassen, sind Teile Asiens viel unmittelbarer bedroht. Dies gilt insbesondere für Südasien, wo selbst ein relativ geringer Temperaturanstieg katastrophale Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion haben könnte.

Dennoch scheint der indische Ansatz für die COP28 mehr aus diplomatischem Imponiergehabe [10] zu bestehen, um Indiens Status und Prestige zu steigern, indem man sich als Anführer des "Globalen Südens" ausgibt und von den westlichen Ländern Reparationen und eine beträchtliche Aufstockung der Hilfe fordert, um sie für ihre Emissionen seit der industriellen Revolution zu entschädigen.

Das mag gerecht sein. Aber es geht an der Tatsache vorbei, dass es heute die Pflicht der indischen Behörden ist, alles zu tun, um den Schaden für Indien zu minimieren, vor allem durch die Verringerung der steil ansteigenden indischen Emissionen aus der Kohle.

Das andere Problem, das sich insbesondere in Südasien stellen wird, besteht darin, dass der rasche Klimawandel die Migration radikal befördern [11] wird. Westliche Kommentatoren und Analysten konzentrieren sich verständlicherweise auf die illegale Migration nach Europa und in die USA, auf das damit verbundene menschliche Leid und die politischen Gefahren.

Doch eine der am heftigsten verteidigten Anti-Migrationsgrenzen der Welt ist die indische Grenze zu Bangladesch, an der in den letzten zehn Jahren mehr als 1100 Bangladescher [12] von indischen Sicherheitskräften erschossen wurden.

Die indische Besorgnis über die Migration aus Bangladesch wird durch die Tatsache verstärkt, dass Bangladesch eines der am stärksten überbevölkerten Länder ist, das gleichzeitig am stärksten durch den Klimawandel und den damit verbundenen Anstieg des Meeresspiegels gefährdet ist.

Darüber hinaus hat die Massenmigration von Bengalen in das umliegende Bergland in den letzten Jahrzehnten zahlreiche blutige ethnische Konflikte in Ostindien ausgelöst und zur Feindseligkeit der Burmesen gegenüber der bengalisch sprechenden Rohingya-Minderheit in Myanmar beigetragen.

Nach einer langen Reihe von Rekordjahren wird das Jahr 2023 das wärmste [13] seit Beginn der Aufzeichnungen sein. Überall in den USA wurden lokale Hitzerekorde gebrochen. Massive Waldbrände haben Gebiete im Norden Kanadas verwüstet, in denen solche Ereignisse in der Vergangenheit undenkbar gewesen wären.

Die US-Nachbarn in Mittelamerika, die bereits unter schwerem sozialem, wirtschaftlichem, Kriminalitäts- und ökologischem Stress stehen, sehen einer Zukunft entgegen, in der ihre Regierungen durch die zusätzlichen Auswirkungen des Klimawandels völlig überfordert sein werden.

Das sind Bedrohungen für die US-amerikanische Gesellschaft und die einfachen Amerikaner, die alles in den Schatten stellen, was China und Russland tun können (außer einem Atomkrieg). Obwohl die Biden-Regierung rhetorisch erklärt hat, dass der Klimawandel eine "existenzielle Bedrohung" darstellt, hat das Sicherheitsestablishment des Landes es immer noch versäumt, seine Prioritäten entsprechend neu zu ordnen.

Wenn die US-Eliten wirklich glauben, dass Vereinigten Staaten die "unverzichtbare Nation" ist, sollten sie sich gezwungen sehen, eine Neubewertung vorzunehmen. Denn wenn wir weiterhin ein internationales "Abkommen" nach dem anderen abschließen, das seine eigenen erklärten Ziele nicht erreicht, dann werden die Historiker der Zukunft feststellen, dass die globale Führungsrolle der USA bei ihrer wichtigsten Prüfung versagt hat.

Sophia Ampgkarian hat zur Recherche für diesen Artikel beigetragen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier [14]. Übersetzung: David Goeßmann [15].

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9548286

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mckinsey.com/featured-insights/mckinsey-explainers/what-is-the-global-stocktake
[2] https://www.un.org/en/climatechange/cop26
[3] https://www.un.org/en/climatechange/net-zero-coalition
[4] https://cleantechnica.com/2023/11/25/cop-28-is-humanitys-last-clear-chance-to-avoid-a-climate-catastrophe-un-chief/
[5] https://www.un.org/en/climatechange/paris-agreement
[6] https://www.unep.org/news-and-stories/press-release/nations-must-go-further-current-paris-pledges-or-face-global-warming
[7] https://www.unep.org/news-and-stories/story/south-asia-record-heat-threatens-future-farming#:~:text=Scientists%20have%20long%20warned%20that,exacerbate%20water%20scarcity%20for%20irrigation.
[8] https://edition.cnn.com/2023/02/17/world/climate-feedback-loops-tipping-points-arctic-ice-intl/index.html
[9] https://www.washingtonpost.com/graphics/2018/world/arctic-climate-change-military-russia-china/
[10] https://foreignpolicy.com/2023/11/29/india-cop28-climate-un-summit-modi-global-south/?tpcc=recirc_expanded_nav111523
[11] https://www.nytimes.com/interactive/2020/07/23/magazine/climate-migration.html
[12] https://www.visapourlimage.com/en/festival/exhibitions/inde-bangladesh-le-mur-et-la-peur
[13] https://abcnews.go.com/International/2023-set-hottest-year-record-united-nations/story?id=105268460#
[14] https://responsiblestatecraft.org/cop28-climate-change-national-security/
[15] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html