Die große Täuschung: Wie Armut Deutschlands Mittelschicht bedroht

Mann mit leeren Hosentaschen, dahinter Deutschlandfahne

Bild: lunopark/ Shutterstock.com

Zahl der Millionäre steigt, aber die Armut wächst noch schneller. Studie mit alarmierenden Zahlen. Warum selbst die obere Mittelschicht zittert.

Während in Deutschland die Zahl der Millionäre immer weiter steigt, verhält es sich auf der ärmeren Seite der Einkommens- und Vermögensverteilung deutlich anders, wie der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt.

Die Studienleiter Dorothee Spannagel und Jan Brülle haben hierfür die aktuellsten Daten zweier Befragungen genutzt. Zum einen das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), für das jährlich etwa 13.000 Haushalte interviewt werden und das bis 2022 reicht (wobei sich die Einkommensdaten auf das Jahr 2021 beziehen). Zum anderen wurde die Lebenslagenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung verwendet. Hierfür wurden in zwei Wellen 2020 und 2023 jeweils mehr als 4.000 Personen repräsentativ befragt.

Die Erklärung der Hans-Böckler-Stiftung präsentiert die entscheidenden Ergebnisse der Studie:

Seit 2010 ist die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland deutlich gestiegen und in den letzten Jahren haben sich Ängste, den eigenen Lebensstandard nicht mehr halten zu können, in der Bevölkerung stark ausgebreitet. Die Quote der Menschen, die in Armut leben, hat nach den neuesten verfügbaren Daten ebenfalls erheblich zugenommen und liegt auf einem Höchststand.

Die Armut nimmt zu

Im Jahr 2021 lebten nach den Daten des SOEP 17,8 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut (Personen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben), 11,3 Prozent sogar in strenger Armut (Personen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben). 2010 lagen die beiden Quoten noch mit 14,2 oder 7,8 Prozent deutlich niedriger.

Während man bei den reichsten Deutschen immer auf den Unterschied zwischen Einkommens- und Vermögensreichtum hinweisen sollte, erübrigt sich das bei leider naturgemäß den Armen. Bereits im Jahr 2021, vor dem Beginn der Inflationswelle, besaßen mehr als 42,8 Prozent der Armen überhaupt kein Finanzpolster, um kurzfristige finanzielle Probleme zu überbrücken (auch 21,3 Prozent der Menschen in der Gruppe mit Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze verfügten über keinerlei Rücklagen).

Die Konsequenz: Bereits im Jahr 2021, also noch vor der massiven Teuerungswelle, konnten sich knapp 10 Prozent der Menschen in Armut nicht leisten, abgetragene Kleidung durch neue zu ersetzen. Knapp 17 Prozent der Armen haben auch nicht das Geld, um sich Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch einmal pro Monat oder den Besuch einer Sportveranstaltung zu gönnen.

Zunahme der Ungleichheit

Um das Ausmaß der Ungleichheit zu ermitteln, wird häufig der sogenannte Gini-Koeffizient verwendet. Der "Gini" reicht theoretisch von null (alle Menschen haben das gleiche Einkommen) bis eins (das gesamte Einkommen entfällt auf eine einzige Person). Die Auswertung der neuesten SOEP-Daten zeigt, dass sich der Anstieg der Ungleichheit ab 2010 weiter fortgesetzt hat: Lag der Gini-Wert damals noch bei 0,282, stieg er bis 2021, dem letzten Jahr der Daten, auf einen neuen Höchststand von 0,310.

Zunahme der Sorge

Aufgrund der Zunahme der Armut und der Ungleichheit kann es kaum überraschen, dass auch die Sorgen vor der Zukunft gerade in diesen Teilen der Gesellschaft zunehmen. Die Daten aus der Böckler-Lebenslagenbefragung für die Jahre 2020 und 2023 unterstreichen dies deutlich.

Im vergangenen Jahr äußerten fast 55 Prozent der Menschen in Armut große oder sehr große Sorgen, ob sie in Zukunft ihren – ohnehin sehr niedrigen – Lebensstandard auf Dauer würden halten können. Dies sind sechs Prozent mehr als noch drei Jahre zuvor.

Unter den Befragten in prekären Einkommensverhältnissen befürchteten 2023 sogar 58 Prozent, wirtschaftlich abzurutschen. Dies ist eine Zunahme von ganzen 14 Prozentpunkten. Auch die untere Mitte der Gesellschaft lebt in Zukunftsangst.

Mehr als die Hälfte – 52 Prozent – sorgen sich vor einem eigenen wirtschaftlichen Abstieg. Ein Anstieg um 15 Prozentpunkte. Sogar die obere Mittelschicht macht sich starke Sorgen. Fast die Hälfte (47 Prozent) hat Angst, ob sie ihren Lebensstandard werden halten können. Auch hier eine satte Zunahme von 15 Prozent in nur drei Jahren.

Geringere Teilhabe und Demokratie

Die oben beschriebenen geringeren finanziellen Teilhabemöglichkeiten lassen sich für arme Menschen auch nicht durch engere persönliche Kontakte ausgleichen. In Wirklichkeit sind Menschen mit sehr niedrigen Einkommen häufiger alleinstehend und nach ihrer eigenen Einschätzung haben sie auch seltener enge Freunde (wobei der Unterschied gegenüber den anderen Gruppen eher gering ist).

Arme Menschen haben zudem das Problem geringer politischer Teilhabe. Nur 44 Prozent der Armen glauben, politisch auf die eigenen Anliegen aufmerksam machen zu können. In der oberen Mitte der Gesellschaft hingegen sind es knapp 52 Prozent.

Mit diesem Unterschied korrespondiert auch die Zufriedenheit mit der Demokratie. Nur knapp 50 Prozent der Armen und der Menschen mit prekären Einkommen sind mit der Demokratie im Wesentlichen zufrieden. In der oberen Mitte sind es knapp 60 Prozent.

Auch die Zustimmung zu der Aussage "Die regierenden Parteien betrügen das Volk" variiert deutlich entlang der Einkommensgruppen: Mehr als ein Drittel der Menschen in Armut und mit prekären Einkommen teilen diese Einschätzung. In der oberen Mitte sind es nur etwas mehr als ein Viertel. Ähnlich sieht es auch beim Misstrauen gegenüber der Polizei oder Gerichten aus.

Der problematische Zusammenhang zwischen Armut, fehlender Teilhabe und Misstrauen gegenüber Demokratie und staatlichen Institutionen zeigt sich nicht zuletzt bei der Ausübung des Wahlrechts. Knapp 20 Prozent erklären, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen gehen zu wollen. Es gibt darüber hinaus auch gefährliche Verbindungen zwischen Armut, Ungleichheit und Demokratie, wie der Autor auf Telepolis beschrieben hat.

Auf lange Sicht führt zunehmende Armut nicht nur zu geringer politischer Beteiligung, sondern auch zur Stärkung des rechtsextremen Spektrums. Aktuell kommt das Ifo-Institut zum Ergebnis: "Wenn der Anteil von Haushalten unter der Armutsgrenze um einen Prozentpunkt steigt, steigt der Stimmenanteil von rechtsextremen Parteien um 0,5 Prozentpunkte bei Bundestagswahlen."

Problematischer Kreislauf

Ganz in diesem Sinne fasst die Pressemitteilung eine Warnung der Studienleiter zusammen: "Reduzierte Teilhabe, Misstrauen in staatliche Institutionen und Verzicht auf politische Partizipation könnten in einen hochproblematischen Kreislauf münden", warnen Spannagel und Brülle:

Es verdeutlicht auch, wie schwer es ist, Menschen in Armut oder prekären Lebenslagen zu mobilisieren, wenn es darum geht, ihre Situation im Rahmen demokratischer Prozesse zu verbessern.

Zwar habe sich auch in der untersuchten Hälfte der Bevölkerung mit niedrigeren Einkommen bislang "nur eine Minderheit von der Demokratie verabschiedet". Doch die Distanz sei erheblich und drücke sich längst nicht nur in Wahlabstinenz aus, schreiben die Forschenden.

"Dies deckt sich auch mit zahlreichen Studien, die aufzeigen, dass rechtspopulistische Einstellungen und die Unterstützung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien nicht (nur) bei Menschen mit sehr niedrigen Einkommen zu finden sind, sondern auch gerade in der unteren Mitte ein Problem sind.‘"

Mögliche Lösungen

Die Mitteilung schließt mit einigen grundlegenden Lösungsmöglichkeiten der Studienleiter ab, um der Gefahr von Armut, Ungleichheit und Demokratieverlust verantwortungsvoll entgegenzuwirken: "Eine verantwortungsvolle Politik müsse auf jeden Fall darauf verzichten, verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen.

Als warnendes Beispiel nennen sie die Debatte um das Bürgergeld in den vergangenen Monaten. "Indem immer wieder angebliche Anreizprobleme der Grundsicherung in den Mittelpunkt gestellt werden, werden Bürgergeldbeziehende implizit als faul und arbeitsunwillig dahingestellt. Dies greift auch verbreitete Stigmata und abwertende Einstellungen gegenüber Leistungsbeziehenden auf", kritisieren Brülle und Spannagel.

Statt die ohnehin zu knappen Leistungen für Bürgergeldempfängerinnen- und -empfänger weiter zu kürzen, um den Abstand zwischen Sozialleistungen und Erwerbseinkommen zu erhöhen, sei es "viel sinnvoller, Niedriglöhne wirksam zu bekämpfen und Tarifbindung zu stärken – Maßnahmen, die auch Menschen außerhalb des Grundsicherungsbezugs zugutekommen".

Und: "Eine volle, sichere, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist in unserer Gesellschaft einer der Schlüssel für eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe. Menschen mit soliden, nachhaltig abgesicherten Teilhabemöglichkeiten haben auch eine höhere politische Teilhabe", betonen die Forschenden.