Die iranischen Kurden als Vorbilder des Widerstands

Bei Protesten im Iran stehen Kurden an vorderster Front. Doch es geht nicht um Separatismus. Wie Aktivisten der Volksgruppe dem übrigen Land als Vorbild dienen.

Auf den ersten Blick wirkt die Szene komisch, wie aus einem Western. Auf den Videos, die Mitte November aus der nordwestiranischen Stadt Mahabad ins Netz gelangten, tragen die jungen Männer umgedrehte Kochtöpfe auf dem Kopf, um sich vor den Kugeln zu schützen. Entlang der zentralen Flaniermeile der Stadt haben sie sich hinter selbst gebauten Schutzwällen verbarrikadiert.

Sidar Mohammadi, die wegen ihres Philosophiestudiums in Wien lebt, erkannte die Straßen ihrer Heimatstadt vor lauter Menschen kaum wieder. Sie schloss Instagram, wo die Videos kursierten, und versuchte, ihre Tanten und Cousinen in Mahabad zu erreichen. Das klappte erst nach mehreren Versuchen, die Regierung hatte das Internet in der Region drastisch gedrosselt. Ja, bestätigte die Familie, die Stadt sei vollständig in der Hand der Aufständischen.

Doch der Moment, in dem die Revolution erstmals zum Greifen nahe schien, dauerte nur wenige Stunden. Noch am Abend des 19. November erreichte Mohammadi die Nachricht, dass die iranischen Revolutionsgarden mit schwerem Kriegsgerät angriffen. Nicht nur Mahabad wurde getroffen.

Auch andere Städte im iranischen Kurdistan wurden belagert und nach und nach von den Revolutionsgarden eingenommen. In Oschnavieh und Bukan sollen die Aufständischen zeitweise die ganze Stadt einschließlich der Regierungsgebäude unter Kontrolle gehabt haben.

Am nächsten Morgen wusste Sidar Mohammadi nicht, ob ihre Verwandten noch am Leben waren. Die letzte Nachricht, die sie aus Mahabad erreichte, war der Bericht von ununterbrochenen Schüssen, Häuser seien wahllos gestürmt worden, was mit den Bewohnern geschah, war zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss.

In ihrem Studentenwohnheim in Wien lief Mohammadi unruhig durch die Gänge, versuchte vergeblich, ihre Familie zu erreichen. In der Ferne, ohnmächtig, habe sie an diesem Tag kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden, erzählt sie heute.

Schreckgespenst Separatismus

Der Widerstand im iranischen Kurdistan ist vorerst gebrochen. Mehrere Dutzend Menschen wurden bei der Belagerung durch die Revolutionsgarden getötet. Zumindest ist das von vielen befürchtete wahllose Massaker an der Zivilbevölkerung ausgeblieben. Auch die Familie von Sidar Mohammadi blieb unversehrt. Die Nachbarn wurden in jener Nacht von Agenten auf die Straße gezerrt, gleichzeitig wurde in die Luft geschossen. Sie kamen mit dem Schrecken davon.

"Das war wohl ihre Strategie, um Terror und Panik zu verbreiten. Mal sehen, wozu sie fähig sind", vermutet Mohammadi. Auf den Straßen scheint es wieder ruhig zu sein, doch mit Normalität hat das nichts zu tun.

An den Einfahrten zu den größeren Städten bilden sich wegen der Checkpoints zum Teil kilometerlange Schlangen. Autos, Taschen und Mobiltelefone werden durchsucht. Das Regime lässt weiterhin täglich Aktivisten verhaften und an unbekannte Orte verschleppen, vor allem in der Stadt Sanandadsch. "Der Druck ist enorm", berichtet ein Einwohner. Oft reiche schon ein kritisches Posting, um als Aktivist zu gelten.

Die Repression in Kurdistan ist engmaschiger und brutaler als in den zentraliranischen Städten Teheran, Maschhad, Isfahan. Die Kurden, die etwa zehn Prozent der iranischen Gesamtbevölkerung ausmachen, werden vom Regime als Separatisten dargestellt, vor allem wenn sie zu protestieren beginnen.

Das Schreckgespenst des Separatismus ist vor allem innenpolitisch nützlich. Die Angst vor Chaos und Bürgerkrieg soll die älteren Generationen, denen die Schrecken des ersten Golfkriegs noch in den Knochen stecken, davon abhalten, sich an regimekritischen Protesten zu beteiligen, schreibt der Analyst Ali Alfoneh. Dabei könnte die brutale Strategie genau das bewirken, was sie zu bekämpfen vorgibt.

Beispiellose Solidarität zwischen ethnischen Gruppen

Unmittelbar nach dem Einmarsch der Revolutionsgarden in ihre Heimatstadt erlebte Sidar Mohammadi eine Identitätskrise. So ging es vielen iranischen Kurden. Da es in anderen Teilen des Irans kaum Straßenproteste aus Solidarität gegeben habe, habe man sich der Übermacht der Revolutionsgarden ausgeliefert gefühlt. "Zum ersten Mal habe ich mich nur noch als Kurdin gesehen, nicht mehr als Iranerin", sagt Mohammadi.

Das änderte sich ein wenig, als Menschen aus anderen Teilen Irans Geld und Medikamente spendeten, damit die Kurden ihre Verletzten versorgen konnten - in den Krankenhäusern hätte den verletzten Demonstranten die Entführung durch Regimekräfte gedroht. Auch in den sozialen Medien loben viele Iraner die Kurden als "Vorbilder des Widerstands".

Diese Art von Zusammenhalt zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen sei neu im Iran, sagt Mohammadi. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. Das hat auch damit zu tun, dass einige ihrer Familienmitglieder Führungspositionen in der kommunistischen Komala-Partei bekleiden - einer jener verbotenen kurdischen Parteien, die das iranische Regime als separatistisch und terroristisch einstuft.

Separatismus liege den allermeisten Kurden aber fern, widerspricht Sidar Mohammadi der Darstellung des Regimes. Was die iranischen Kurden wollten, sei ein Ende der Diskriminierung, eine weitgehende Autonomie innerhalb der Grenzen eines föderalistischen Iran, sagt Mohammadi.

Diese Diskriminierung reicht derzeit vom faktischen Verbot der kurdischen Sprache bis hin zu deutlich geringeren Staatsausgaben in den kurdischen Gebieten. Die von der Sittenpolizei getötete Mahsa Amini, die selbst Kurdin war und deren Tod die aktuellen Proteste auslöste, hieß inoffiziell "Dschina" - ein verbotener kurdischer Name.

Diese Diskriminierung reicht derzeit vom faktischen Verbot der kurdischen Sprache bis hin zu deutlich geringeren Staatsausgaben in den kurdischen Gebieten. Die von der Sittenpolizei getötete Mahsa Amini, die selbst Kurdin war und deren Tod die aktuellen Proteste auslöste, hieß inoffiziell "Dschina" – ein verbotener kurdischer Name.

Dass Mahsa Amini selbst Kurdin war, ist ein Grund für die Proteste der Kurden, aber nicht der einzige: "Wir erkennen in dieser Protestbewegung zum ersten Mal eine revolutionäre Stoßrichtung. Das gibt uns Hoffnung", sagt Mohammadi. "Nur wenn es den Menschen gelingt, dieses Regime zu stürzen, haben wir eine Chance auf die Autonomie, die wir anstreben."

Eine lange Tradition des Widerstands

Die Ablehnung des Separatismus hat neben dem nationalen Selbstverständnis als "kurdische Iraner" auch ganz praktische Gründe. Die kurdischen Gebiete sind vergleichsweise arm an Rohstoffen, ein entwickeltes und prosperierendes Kurdistan ist ohne den Rest des Iran nicht möglich.

Was es heißt, sich ohne Ressourcen selbst verwalten zu müssen, erlebten die iranischen Kurden 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unter dem Schutz der UdSSR war es den Kurden damals gelungen, eine unabhängige Republik, die Republik Mahabad, zu errichten. Die Isolation führte jedoch zu Engpässen in allen Bereichen, von der militärischen Ausrüstung bis hin zu Lebensmitteln. 1946, nur ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung, wurde Mahabad von iranischen Truppen zurückerobert.

Was blieb, war die Tradition des progressiven Widerstands der Kurden. Anders als im übrigen Iran sind säkulare Positionen in der kurdischen Gesellschaft seit Langem fest verankert. Als 1979 das islamische Regime an die Macht kam, leisteten die Kurden bewaffneten Widerstand. Die neuen Machthaber brauchten zwei bis drei Jahre, um die kurdischen Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch die Netzwerke des Widerstands bestehen bis heute.

"Die Kurden im Iran sind traditionell besser organisiert. Sie bringen ihre Leute einfach schneller auf die Straße", sagt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur über die überdurchschnittliche Aktivität der Kurden in den aktuellen Aufständen.

Oppositionsparteien wie Komala oder die Demokratische Partei Kurdistan-Iran unterhalten eigene Fernsehsender, Internetseiten und Untergrundorganisationen vor Ort. Der Unterschied ist spürbar: Während im iranischen Kernland vor allem die junge Generation rebelliert, beteiligen sich in den kurdischen Städten alle Altersgruppen an den Aufständen.

Die Kurden haben, was der säkularen Demokratiebewegung im übrigen Iran noch fehlt: ein klares Programm, das die Menschen motiviert, nicht nur gegen, sondern für etwas zu kämpfen; und eine Organisation, die in der Lage ist, den kollektiven Wutausbruch in gezielte Aktionen und effektiv koordinierte Straßenproteste umzulenken. Oder auch, wenn es strategisch sinnvoll ist, sie zu beenden.

Von ihren Kontakten in der Komala-Partei weiß Sidar Mohammadi, dass die Proteste in den kurdischen Gebieten nicht nur wegen des militärischen Vorgehens der Revolutionsgarden vorerst abgeebbt sind. Die Kurden hätten einsehen müssen, dass der Rest des Irans noch nicht für einen echten Massenaufstand bereit sei.

"Bis es so weit ist, müssen wir abwarten, denn gegen die militärische Übermacht der Revolutionsgarden kommen wir alleine nicht an", sagt Mohammadi. Die leeren Straßen in Mahabad und den anderen kurdischen Städten seien deshalb kein Zeichen des Friedens. Eher ein vorübergehender Waffenstillstand.

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