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Die kulturelle Unterscheidung

Interview mit dem Philosophen Wolfgang Fritz Haug über sein Buch sowie Kunst und Kultur zwischen Kommerzialisierung und politischer Überformung

Entgegen den allgemein gegenwärtigen und praktizierten Vorstellungen ist Kultur keine Wohlfühl-Insel für sie seelische Wellness, sondern ein von mehreren Parteien hart umkämpftes Feld, deren Deutungsebenen zunehmend ideologisch überlagert werden, deren künstlerische Tiefenschichten gleichwohl als Teil des Projekts der Humanisierung des Menschen rekonstruierbar sind. Mit Hilfe von Brecht und Gramsci und unter Bezugnahme auf Bourdieu und die Cultural-Studies unternimmt der emeritierte Philosophieprofessor [1] Wolfgang Fritz Haug mit seinem Buch Die kulturelle Unterscheidung [2] den Versuch, das Terrain semantisch zu sondern, mit den Widersprüchen die progressiven Seiten der Kunst freizulegen und auch Produkte der Jugend- und Pop-Kultur als gesellschaftliche Hieroglyphen zu lesen.

Herr Haug, bei vielen Ihrer Ausführungen zur Kultur hat man den Eindruck, dass Antonio Gramsci [3] und Bertolt Brecht [4] Pate gestanden haben ...
Wolfgang Fritz Haug: Ja, was das Denken des 20. Jahrhunderts betrifft, verdanke ich diesem ungleichen Paar vermutlich die wichtigsten Impulse. Brecht und Gramsci, der Stückeschreiber aus Augsburg und der Gründungsvorsitzende der Kommunistischen Partei Italiens wussten voneinander nichts. Was sie dennoch wie auf Verabredung verbindet, ist ein Doppeltes: beide orientierten ihr jeweiliges Wirken philosophisch, der Politiker nicht weniger als der Dichter, und beide fanden ihren Weg über Marx. Beide gehen von den marxschen Feuerbach-Thesen [5] aus und entwickeln Elemente einer Philosophie der Praxis. Ich bin überzeugt, dass nur eine solche Philosophie geeignet ist, der Besonderheit des Kulturellen gerecht zu werden.
Ein Kapitel meines Buches befasst sich mit Gramscis "Politik des Kulturellen" als Quelle von kultureller Hegemonie. Der dort aufgenommene Gedanke ist mir so wichtig, dass ich eine zeitlang schwankte, daraus den Buchtitel zu machen. Ich entschied mich schließlich für den Titel Die kulturelle Unterscheidung, weil eine der im Buch verfolgten Absichten darauf aus ist, nicht nur der Kommerzialisierung, sondern auch der bei uns Linken häufig anzutreffenden Überpolitisierung der Kultur den Boden streitig zu machen.
Was ist für Sie Kultur und was ist mit der "kulturellen Unterscheidung" gemeint?
Wolfgang Fritz Haug: Das Wort "Kultur" ist so vertraut wie undurchsichtig. Jeder glaubt zu wissen, was es meint. Doch wenn ich Wittgensteins Satz befolge, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch, dann stoße ich auf Kraut und Rüben. Die DDR unterhielt in Leipzig eine "Kulturwarenfabrik", ihr Finanzministerium verstand unter "Kulturwaren" Weihnachtsbaumschmuck, Feuerwerkskörper, Scherzartikel und dergleichen.
Der bundesdeutsche Staat vermeidet diese makabre Komik dadurch, dass zum kulturellen Inhalt schweigt und Kulturwaren in §12 des Umsatzsteuergesetzes kurzerhand als Güter bestimmt, für die der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent gilt. Die Kommunen nennen es Kulturpolitik, wenn sie in Einkaufsstraßen Blumenkübel aufstellen. Und dann ist da natürlich die Oper, in der Hamburg mit Sidney rivalisiert und die zum Standortfaktor "Kultur" rechnet, während sich, wie Rolf Lindner spottet, gewisse Kulturforscher kaum retten können vor Talkshow-Einladungen zu Themen, die von "Osterhasen über urban legends bis hin zu den neuesten Stämmen der Postmoderne reichen". Und dann ist "Kultur" natürlich das, was nicht Natur ist und was uns "über das Tier erhebt".

Kritische Bezugnahme auf Pierre Bourdieu

Dieses Sammelsurium erinnert an das große Durcheinander zwischen Kyffhäuser und Kaufhäuser [6] von Karl Kraus. Jeder spürt, dass mit dem Wort Kultur etwas "Wertvolles" gemeint ist. Aber jeder wertet anders und auch anderes. Die "Gebildeten" neigen zu der Meinung, nur sie hätten Kultur und die große Masse nicht oder sei jedenfalls unkultiviert.
Dann spielt Ihr Buchtitel Die kulturelle Unterscheidung auf Pierre Bourdieus [7] Buch Die feinen Unterschiede an?
Wolfgang Fritz Haug: Ja, nur mit dem Unterschied, dass Bourdieu als Distinction einen ziemlich barbarischen Kulturgebrauch treffend beschreibt, während ich mit der "kulturellen Unterscheidung" gerade das meine, was es aus diesem barbarischen Gebrauch zurückzugewinnen gilt: kein Besser-Sein-als-andere, sondern eher jenes Besser-Werden als "zweiter Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht", in dem Herder das Wesen des Kulturprozesses gesehen hat.
In meinem Buch widme ich Bourdieus verdienstvoller Untersuchung einen eigenen Abschnitt. Am Umgang mit sogenannten "Kulturgütern" interessiert ihn vor allem deren Instrumentalisierung in der gesellschaftlichen Geltungs- und Karrierekonkurrenz. Er führt vor, wie im Gegensatz gebildet versus ungebildet der gesellschaftliche Klassengegensatz zugleich verschleiert und legitimiert wird. Kunst und Bildung, die sich spontan als Definitionsanker für Kultur anbieten, sind Klassenfragen, übrigens auch Geschlechtsfragen und Altersfragen. Das Patriarchat, der Reichtum, der Staat halten sie in Besitz. Schließlich übernimmt der Kommerz. Ich will auf eine Ebene, wo das Kulturelle Gattungseigentum ist.
Bourdieus Kritik an diesem Kult mit der "gehobenen Kultur" hat dann wohl auch zu dem Fehlschluss beigetragen, eine "demokratische" Kulturauffassung dürfe keine wertende Unterscheidung treffen. Inzwischen fassen viele Kulturwissenschaftler einfach alles, was in einer Gesellschaft vorkommt, unter "Kultur" zusammen.
In dieses Durcheinander breche ich mit der Frage ein: Was ist eigentlich kulturell an der Kultur? Wenn man nicht kulturmissionarisch an die Frage herangehen möchte, bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als an die unscheinbare Quelle im Alltag zurückzugehen, wo alle Menschen — wenigstens spurenweise — fortwährend einen Unterschied zugunsten dessen machen, worin sie nicht Instrument fremder Interessen, sondern selbst Zweck sind. Die Wertung gehört da zur Sache selbst.
Man muss sie nicht herantragen, sondern aufspüren und ihr Schicksal im Clinch mit Kommerz, Ideologie und den alltäglichen Notwendigkeiten und Niederlagen ausleuchten. Dazu braucht es einen wachen Sinn für die widerständigen Momente, aber auch für die Widersprüche, in denen sie standhalten müssen.

"Widerstreit in den Phänomenen"

Steht dafür Holbeins Kaufmannsporträt von 1532, das den Umschlag ihres Buches ziert und dem sie ein eigenes Kapitel gewidmet haben?
Wolfgang Fritz Haug: Ja. Ein Rezensent hat sich darüber gewundert, dass ich als Marxist "in der bürgerlichen Repräsentation nur distinktionsfreie Selbstverwirklichung erkennen" wolle. Aber es geht in dem Beispiel keineswegs um bürgerliche Repräsentation als solche. Und das reduktionistische Nur halte ich für ebenso sachfremd wie die Annahme, bürgerliche Individuen könnten sich einzig instrumentell zum Kulturellen verhalten. Mein Buch mutet einem zu, den Widerstreit in den Phänomenen zu erkennen. So bei Holbeins Portrait des deutschen Kaufmanns Georg Gisze in London.
Der bourdieusche Distinktionsakteur tut sich vor anderen vor; der Akteur der kulturellen Unterscheidung zieht ein konkretes Etwas oder Wie einem anderen vor. Der erste richtet sich in den Augen der Welt aus, der zweite richtet Welt in seinen Augen richtig ein. Die beiden unterscheiden sich voneinander wie instrumentelles Handeln vom Selbstzweckhandeln. Doch natürlich sind das Idealtypen. Holbeins Portrait zeigt aber keinen Idealtypus, sondern einen Menschen in seinem Widerspruch. Ich frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen Selbstzweck und Instrumentalisierung. Am Beispiel des portraitierten Georg Gisze meine ich das Überwiegen der Selbstzweckpraxis zeigen zu können.
Das nenne ich die kulturelle Unterscheidung. Und von diesem elementaren Ausgangspunkt her rolle ich die Frage nach dem Kulturellen auf. Eine Ausgrabung ist beabsichtigt, keine Verklärung, also eine philosophische Reflexion als Medium der Selbstaufklärung.

Instrumentalisierung der Kunst

In welcher Weise sind Ideologie, Kultur und Alltag miteinander verzahnt?
Wolfgang Fritz Haug: Alles, was Menschen anzieht, zieht in anderer Weise die gesellschaftlichen Mächte an, die die Menschen an sich ziehen wollen. So handeln Kommunen in der Standortkonkurrenz, um Unternehmen anzuziehen. Aber so handeln auf ihre Weise auch diese Unternehmen, die qualifizierte Arbeitskräfte durch Kontrapunkte zur Arbeit anzuziehen hoffen. Und so handeln schließlich auch die ideologischen Mächte, allen voran der Staat, die solche Attraktionskräfte einzuspannen versuchen. Kein Kulturelles von einiger Wirkung entgeht all diesen an der Instrumentalisierung von Kultur Interessierten. Von allen Seiten nehmen sie es für sich in Anspruch — und sei es nur als Fassade.
Dieter Bartetzko [8] hat diese Instrumentalisierung in der FAZ auf den Punkt gebracht, als er feststellte, angesichts der griechischen "Schulden-Tragödie" und der europäischen Krise kennten Politik und Medien "die Antike nur als Lieferant von Parolen. Ansonsten gilt für sie […]: "Sei schön und halt den Mund." Das lässt sich aufs Kulturelle schlechthin anwenden. Kultur in diesem Sinn, das ist die gute Miene zum bösen Spiel. Darum lassen Staat und Kapital auch etwas für sie springen.

"Kulturschutz analog zum Naturschutz"

Wollen Sie sagen, alle Kulturförderung sei Kosmetik?
Wolfgang Fritz Haug: Alle gewiss nicht. In einer der vielen geläufigen Bedeutungen ist die Kultur das dem Kommerz Abgemietete, ein Schutzsuchendes, das um den Status der kulturellen Ausnahme fleht, um Kulturschutz analog zum Naturschutz. Für die erhörten Fleher richten Stadt oder Staat oder private Mäzene kleine Kulturschutzgebiete ein.
Freilich muss man die Proportionen beachten. Die FAZ hat das sehr anschaulich getan, als sie vom Gegensatz zwischen der Kunstausstellung im Rahmen der diesjährigen Biennale und den künstlerischen Kapitalanlageobjekten berichtete, die privat in irgendeinem Palazzo ausgestellt waren. Letzteren galten die draußen ankernden Yachten, deren längste 100 Meter maß und dem russischen Oligarchen Abramovitsch gehörte. Im übrigen schlage ich dringend vor, Kunst zu sagen, wenn man Kunst meint, und nicht Kultur.
Welche Stellung nimmt bei dieser Entwicklung die Warenästhetik [9] ein?
Wolfgang Fritz Haug: In meinen Büchern über Warenästhetik und Ideologietheorie habe ich vorwiegend mit analytischen Begriffen das jeweilige Material bearbeitet. Bei der Kultur ist das nicht möglich, weil Warenästhetik und ideologische Mächte hier alles durchdringen und überdeterminieren. Ich musste Elemente einer Philosophie des Kulturellen herausdestillieren, um die Fronten in diesem Getümmel ausmachen zu können. Die Untersuchung hat zwei Ebenen: das Aktionsfeld des Kulturellen und sein Interaktionsfeld mit Warenästhetik und Ideologie.
Die Warenästhetik verhält sich gegenüber allen anderen Mächten parasitär. Sie hat keine Überzeugung, sondern bedient sich aller Überzeugungen, soweit sie sich verkaufsfördernd einspannen lassen. Sie versucht, den Menschen die Wünsche von den Augen abzulesen, um sie ihnen als Befriedigungsbilder zurückzugeben, in welche die Waren eingehüllt werden. Jeder Kaufakt, soweit er zwischen konkurrierenden Angeboten wählt, gleicht ja formal der kulturellen Unterscheidung.
Im Gegenständlichen wie im Miteinander entscheiden wir uns fortwährend für das, worin es uns geht, wenn wir uns selbst entwerfen. Darauf senken sich sogleich die Notwendigkeiten und Nöte des Lebens. Ohne ständige Erneuerung verkümmert, schrumpft, verdumpft das kulturelle Moment. Belagert von geldwerten Angeboten, befriedigt das in ihm sich ausdrückende Verlangen mit käuflichen Surrogaten. Die Warenästhetik versucht, sich in jenen elementaren Selbstbejahungsakt der Menschen einzuklinken. Sie empfiehlt den Markenturnschuh als Identitätsrequisit und Element erfüllter Lebensweise.

"Flüssige Kultur"

Heißt das, der Markenturnschuh gehört für Sie nicht zur Kultur?
Wolfgang Fritz Haug: Doch, er gehört dazu. Denn was man "Kultur" nennt, ist eine Resultante der Einmischung all dieser Mächte. Nach dem Kulturellen an der Kultur ist zu fragen, weil es darin untergeht. Im Blick auf die Natur hat Spinoza unterschieden zwischen Natur als Prozess und Natur als Resultat dieses Prozess. Die prozessierende Natur nannte er natura naturans und das Prozessresultat natura naturata. Entsprechend muss es mir darum gehen, die Kultur in statu nascendi von der am Ende dabei resultierenden Kultur zu unterscheiden, um ihr Kulturelles der Indienstnahme immer wieder abzuringen. Sonderbarerweise ist mir vorgehalten worden, für mich sei das Kulturelle "außerhalb des Sozialen", obwohl ich es doch gerade als eine der Kräfte im gesellschaftlichen Kulturprozess analysiere. Die entspringende Kultur soll zu ihrem Recht kommen, die flüssige, nicht die eingespannte, von den anderen Daseinsmächten eingefangene.
Welche Verdienste haben die Vorgehensweisen und Forschungsergebnisse der Cultural-Studies-Theoretiker für die moderne Wissenschaft von der Kultur?
Wolfgang Fritz Haug: Wer Cultural Studies sagt, muss zunächst von den Studien sprechen, die am Center for Contemporary Cultural Studies [10] (CCCS) in Birmingham gemacht worden sind. Ein Gründungsimpuls kam von Raymond Williams, der die Kulturforschung von der Fixierung an sogenannte höhere Kultur gelöst und auf die Lebensweise hingelenkt hat. Seine größte Ausstrahlung erlangte das CCCS unter der Leitung von Stuart Hall. Er wusste empirische Untersuchungen mit theoretischer Grundlagenarbeit zu verbinden.
Grundlegend war die Auseinandersetzung mit Marx, aber das konkrete Gespür für die Kulturforschung und übrigens auch ein Idealbild vom Kulturforscher als organischem Intellektuellen der Popularkultur entwickelte sich vor allem in Auseinandersetzung mit den "Gefängnisheften" von Antonio Gramsci. All das brachte mich in jener Zeit mit Hall zusammen zu gemeinsamen Projekten. Er schrieb ja auch das Vorwort zur englischen Ausgabe meiner "Kritik der Warenästhetik".
Welche Rolle spielen bei der modernen Kulturentwicklung Subkulturen aus der Arbeiterklasse?
Wolfgang Fritz Haug: Eine Entdeckung war die am CCCS entstandene Studie Spaß am Widerstand von Paul Willis, die 1976 auf deutsch herausgekommen ist. Sie gilt der Subkultur englischer Arbeiterjungs, der Lads, und dokumentiert den umwerfenden Witz, mit dem sie sich der schulischen Einwirkung entzogen. In diesem Material lässt sich schlagend beobachten, was aus der kulturellen Unterscheidung wird, wenn sie nicht zwischen ideologischer Unterwerfung und sachlicher Unterweisung in kultureller Handlungsfähigkeit unterscheiden lernt. Als die Lads sich in der aussichtslosen Lage unqualifizierter Hilfsarbeiter wiederfinden, ist den ehemaligen Schulverweigerern das Lachen vergangen. Der Argument-Verlag bringt übrigens Willis’ inzwischen weltberühmte und bei uns seit langem vergriffene Studie in verbesserter Übersetzung im Herbst 2011 neu heraus.
Der Siegeszug der Cultural Studies in den USA hat sie inzwischen freilich von ihrer, wie Hall sagt, "in Hörweite von Marx" ausgebildeten kapitalismuskritischen Rahmentheorie losgerissen. Anders als Hall hat Willis sich vom Erfolg ein Stück weit vereinnahmen lassen. Wie bei nicht wenigen anderen Vertretern der Cultural Studies der Gegenwart ist bei ihm der Anspruch verblasst, das kulturelle Moment der Umarmung durch Ideologie und Unterhaltungsgeschäft zu entwinden. Mit dieser affirmativen Wende setze ich mich in dem Kapitel über "Schicksale der kulturellen Unterscheidung — Aufbegehren im Konsumismus?" detailliert auseinander.

"Das Do-it-yourself der Ideologie"

Der Neoliberalismus ist nicht nur eine bestimmte ökonomische Theorie und Praxis, sondern auch ein Kulturkampf, bei dem ein bestimmtes Menschenbild auf dem Spiel steht. Inwiefern stärkt Ihr Buch die kritische Handlungsfähigkeit in diesem Kulturkampf?
Wolfgang Fritz Haug: In der Tat hat der Neoliberalismus die Menschen an ihrem Verlangen nach Selbsttätigkeit gepackt. Im Zeichen der Privat-Individualisierung spannt er das ein, was ich das Do-It-Yourself der Ideologie nenne. Das kommt im Extrem einer Entführung der kulturellen Unterscheidung in die Subjektform des permanenten Konkurrenten und Schnäppchenjägers gleich. Obwohl das eine Karikatur kultureller Selbsttätigkeit ist, ist es noch immer Selbsttätigkeit.
Sie verbinden in Ihrem Buch den grassierenden Fitnesskult mit dem Körperlichkeits- und Askese-Kultus, der in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und besonders ausgeprägt im Faschismus zelebriert wurde. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Wolfgang Fritz Haug: Ich konnte dabei auf eine eigene historische Kulturforschung zurückgreifen, die 1986 unter dem Titel Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts erschienen ist. Was heute unter dem irreführenden Namen der Biopolitik beredet wird, die Bearbeitung des Volkskörpers zur Herrichtung eines Wirtschaftsvolks für die Volkswirtschaft, ist dort unter anderem anhand von Psychiatrie und Medizin, der Ratgeberliteratur zur Selbstperfektionierung, aber auch anhand der Vorbildproduktion seitens der bildenden Künste am historischen Material entwickelt. So fand ich mich gut vorbereitet, den in kürzester Zeit rasant sich ausbildenden Fitnessmarkt und den von diesem verstärkten Kult zu untersuchen.
Ich habe diese Erkundung unter die Überschrift "Entfremdete Handlungsfähigkeit" gestellt, weil ich darin eine ver- und entführte Form des Kulturellen sehe. Anders als oft gemeint wird, ist die Elementarform des Kulturellen, die ich "kulturelle Unterscheidung" nenne, nicht einfach der positive Held meines Buches. Mich interessieren gerade ihre Schicksale. Besonders interessieren mich die Verfolgungsjagden, die zwischen ausscherenden Subkulturen und der Industrie stattfinden. Denn sobald eine gesellschaftliche Gruppe ihre kulturelle Unterscheidung etwa durch schöpferische Abwandlungen modischer Kleidungscodes praktiziert und damit auszustrahlen beginnt, setzt die Industrie nach.
Dem gehe ich am Beispiel von Jugendkulturen nach, besonders der Jeanskultur. Dabei interessiert mich nicht, wie oft geargwöhnt wird, das Schlechtmachen des nun mal unvermeidlichen Warenkonsums als solchen, wohl aber um die unfreundliche Übernahme des Selbstverwirklichungsverlangens in der Maske seiner zuvorkommenden Bedienung.

"Unfreundliche Übernahme des Selbstverwirklichungsverlangens"

Wie wird die gegenwärtige Kulturentwicklung von den Massenmedien beeinflusst und ist diese Einwirkung nur negativ zu sehen?
Wolfgang Fritz Haug: Das epochal dominante Massenmedium, das Fernsehen, dessen Tage Siegfried Zielinski etwas vorschnell gezählt findet, ist in einer Hinsicht ambivalent, also nicht nur negativ. In einer anderen Hinsicht lähmt es. Und zwar überwältigt es bei vielen viele Formen möglicher Selbsttätigkeit. Insofern stimmt McLuhans These vom bloßen Medium, das the message ist. Das ist oft kritisiert worden. Aber auf der anderen Seite ist dieses Zirkulationsmittel genau so widersprüchlich, wie die in ihm zirkulierenden Gehalte es sind. Das Genre spielt keine Rolle. Das können Diskussionen oder Reportagen oder Filme sein.
Als die Herrschaft der SED gebrochen war, kam es zu einer hinreißenden Freisetzung der Möglichkeiten, die Fernsehen bietet. Mitzukriegen, wie die Menschen sich damals über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse unterhielten, war auf überraschende Weise unterhaltend. Plötzlich wurde das Massenmedium zum Medium der Massen selbst. Als der Anschluss der DDR perfekt war, ging diese nur wenige Monate dauernde Freizeit zu Ende, und die kulturindustrielle Unterhaltung übernahm.
Stört Sie nicht der idealistische Ton, der bei Ihrer Bestimmung des Kulturen als Selbstzweckhandeln mitschwingt?
Wolfgang Fritz Haug: Im Gegenteil, der idealistische Gedanke von der Kunst als Selbstzweck geht bei mir an die geschichtsmaterialistische Basis. Jeder Mensch behandelt — wie immer marginalisiert oder kompromittiert, verschoben oder verschüttet — sich als Selbstzweck. Jeder verfolgt den Anspruch auf erfülltes Leben. Die Frage ist nur, in welche Gesellschaft er auf diesem Weg gerät und was dabei unversehens aus ihm wird. Mir schwebt Gramscis Aufnahme der uralten delphischen Maxime Erkenne dich selbst vor. Er lädt dazu ein, die Gesellschaft zu besichtigen, in die wir gleichsam hinterrücks geraten sind. Ohne ins Gesellschaftliche einzugreifen, finden wir keine Kohärenz. Oder um es noch einmal mit Herder zu sagen: "Sich allein kann kein Mensch leben, wenn er auch wollte".
Insgesamt versuche ich, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den Ansatz einer geschichtsmaterialistischen Kulturtheorie zu umreißen und darin zugleich den Impuls des Idealismus, das Moment der Freiheit und damit des Subjekts aufzuheben, das darin verschlüsselte Gestaltungsverlangen zu beflügeln. Daher sind die in der Welt tätigen Individuen und Gruppen mein methodischer Ausgangspunkt. Sie sind vom Grundgedanken her als gegenständlich Tätige im Bild. Um ihre kulturelle Handlungsfähigkeit geht es. Eine Philosophie des Kulturellen in diesem Sinn kann nicht anders als kritisch sein.

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/
[2] http://www.argument.de/wissenschaft/wfh_kulturelle.html
[3] http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/documents/GR-PolKult-X.pdf
[4] http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/documents/PrechtlsBrecht.pdf
[5] http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1845/thesen/thesfeue-or.htm
[6] http://www.balladen.de/web/sites/balladen_gedichte/autoren.php?b05=29&b16=659
[7] https://www.heise.de/tp/features/Die-grosse-Ausnahme-3450411.html
[8] http://www.faz.net/artikel/C30351/eine-epoche-als-spiegel-und-richter-unsere-antike-ist-unverkaeuflich-30453025.html
[9] http://offene-uni.de/archiv/textz/textz_phil/warenaesthetik.pdf
[10] http://www.cjc-online.ca/index.php/journal/article/view/717/623