Die große Ausnahme
Der französische Philosoph Pierre Bourdieu wird am 1. August 70
In den 1970er und 1980er Jahren schwappte eine Welle von französischen Theorien (vor allem) über Amerika in den Rest der Welt1: Derrida, Althusser, Lacan, Deleuze und eine ganze Reihe anderer Gesellschaftswissenschaftler, Philosophen und Psychologen durften für den Kampf gegen diverse Zentrismen ihr theoretisches Scherflein beitragen: Die Bastionen des Ethnozentrismus, Phallozentrismus und schließlich Logozentrismus wurden nacheinander gestürmt und erbarmungslos dekonstruiert. Rasse, Geschlecht und ethnische Identität hielten Einzug in die analytischen Schemata von Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaften, und ihr Wirkungsbereich ging manchmal sogar über den des Campus hinaus. Irgendwie waren wir alle "Minderheit", während Klasse als Kategorie zur Analyse sozialer Verhältnisse ganz vergessen wurde ... Ganz vergessen? Nein! Ein unbeugsamer Gallier hörte nicht auf, unter all den Minderheiten auch gesellschaftliche Klassen auszumachen: Pierre Bourdieu.
Während sich seine Kollegen in den 1960er und 70er Jahren im Umfeld der Pariser Boheme Gedanken über Schreibweisen und "organlose Körper" machten, studierte der gelernte Ethnologe statt dessen das Leben der Kabylen in Nordafrika. Und dabei vor allem, wie dieses Leben funktioniert. Es funktionierte anders, als sich dies so manche Situationisten und Hippies in Paris vorstellten mochten. Seine in Nordafrika gewonnenen Erkenntnisse hatten dafür mehr mit dem Funktionieren der industrialisierten Welt zu tun, als die Gedankenkonstruktionen des Kanons der Postmoderne –, an dem Worte wie Differenz, Pluralität, Heterogenität wie niedlicher Zierrat an einem schiefen Bauwerk von unverstandenen Zusammenhängen wirken, das wohl eher an das brüchige, graue, pilzbefallene Gemäuer eines Hauses Usher gemahnt als an ein wissenschaftliches Lehrgebäude. Schon hier entwickelte Bourdieu ein begriffliches Instrumentarium, das der Grundstein zum späteren Erfolg seiner Theorie werden sollte. Bedeutendste begriffliche Schöpfung Bourdieus war das "symbolische Kapital“. Von der Gabenökonomie bis zur Ethnizität lassen sich gesellschaftliche Phänomene heute zureichender und schlüssiger mit diesem Begriff erklären.vgl. Cybersociology
Bourdieu unterschied zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital:
"Dies besagt, dass die Theorie der eigentlich ökonomischen Handlungen nur einen besonderen Fall innerhalb der allgemeinen Theorie der Ökonomie der Handlungen darstellt. Den ethnozentristischen Naivitäten des Ökonomismus läßt sich, ohne in die volkstümelnde Begeisterung über die edle Einfalt der Ursprünge zu verfallen, nur entgehen, wenn bis zum bitteren Ende vollzogen wird, was jener nur halbherzig tut: das ökonomische Kalkül unterschiedslos auf alle sowohl materiellen wie symbolischen Güter auszudehnen, die rar scheinen und wert, innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Formation untersucht zu werden"
stellte er 1972 in seiner Schrift "Esquisse d'une Théorie de la Pratique" fest. 2
Nachdem er bei den Kabylen in einem überschaubarem Rahmen den Grundstein seiner Theorie gelegt hatte, wandte sich Bourdieu der industrialisierten Welt, sprich, dem Bereich der Soziologie zu. Zur Analyse von gesellschaftlichen Abgrenzungsmechanismen bot sich der Begriff des "symbolischen Kapitals" besonders an. In "La Distinction", einer ausführlichen und empirisch fundierten Studie über den Einsatz solcher Kapitalformen bei den verschiedenen Klassen im Frankreich der 1970er Jahre, arbeitete Bourdieu seine Theorien weiter aus. Distinktionszeichen aktivieren und reproduzieren ökonomische Unterschiede, weil Individuen in "symbolische Beziehungen" zueinander treten. In solchen Beziehungen verfügen Menschen über gemeinsame Kodes, welche die Bedeutung und den "Wert" der Distinktionszeichen regeln. Individuen drücken so mit Hilfe von signifikanten Unterscheidungsmerkmalen ihre Position aus. Zur symbolischen Unterscheidung können z.B. Sprache, Manieren, Geschmack oder Bildung dienen. Unterschiede in "Geschmack" und "Manieren" sah Bourdieu so nicht als nur subjektive, sondern als durch die ökonomischen Verhältnisse und den "Habitus" bedingte. Wobei sich Habitus und ökonomische Verhältnisse wiederum gegenseitig bedingen, insofern als der Habitus die strukturell bedingte unbewusste Versubjektivierung objektiv vorhandener und gesellschaftlich erzeugter Handlungsmenchanismen und Verhaltensmuster darstellt, die aber ihren Entstehungsort im Sozialen leugnen und nicht gerade dazu angetan sind, dem Bestehenden die Weihen des jenseits vom Menschen Beständigen zu entziehen.
Bourdieu leistete damit einen wichtigen Beitrag zum modernen Ideologiebegriff und wendete sich sowohl gegen subjektivistische, als auch gegen objektivistische Ansätze. Die subjektbezogene Soziologie verglich er mit dem Substanzdenken in der Mathematik - er hielt sie für veraltet. Gleichzeitig kritisierte er objektiv-empirische Ansätze, bei denen "Objektivität" nur die schlichte Unterwerfung unter gegebene Tatsachen bedeutete. Seine Analyse sollte ein "System objektiver Beziehungen" untersuchen, welches wiederum sowohl durch die Ökonomie, als auch durch die soziale Morphologie (im Sinne Durkheims) bestimmt war.
In seiner Analyse der französischen Gesellschaft der 1970er Jahre stellte Bourdieu (quer durch alle Schichten) vor allem die Verwendung von durch Bildung vermitteltem symbolischem Kapital fest. Beispiele hierfür waren die Kenntnis von Kunst, Musik oder Literatur: Bourdieu schilderte für Frankreich typische Beispiele wie den Ingenieur, der ein paar treffende Worte zu Eisenstein findet, oder den mittelständischen Unternehmer, der etwas Gescheites über (den - nicht das) Buffet zu sagen weiß. Er stellte fest, dass Zeichen der Distinktion nicht statisch bei einer Klasse festgeschrieben sind, sondern sich in einem ständigen Abgrenzungskampf von oben nach unten (und umgekehrt) bewegen: Wenn sich das Kleinbürgertum Symbole des Großbürgertums angeeignet hat, so stellte Bourdieu fest, konnte das Großbürgertum diese ablegen und sich neue suchen. Diese neuen Stile des Großbürgertums wiederum konnten sich aus, von Subkulturen der Arbeiterklasse (zu welcher der gesellschaftliche Abstand groß genug ist) geschaffenen Stilen bedienen, 3 wie sich die haute couture des Punk oder des Hip Hop bedienen konnte (was hierzulande anhand der traurigen Auftritten der Fürstin Gloria von Thurn und Taxis eingehend dokumentiert wurde. (vgl. Der Spiegel). Bourdieus Erkenntnisse bildeten so ein wertvolles Korrektiv zu den in Birmingham entstandenen Cultural Studies, die den Stil von Subkulturen wesentlich als Element der Rebellion gegen Kulturhegemonie werteten, ohne der stetigen Veränderung der Distinktionszeichen und ihrer sich damit ständig verändernden Rollen Rechnung zu tragen.
Die praktische Konsequenz seines Denken war für Bourdieu nicht der für französische Geisteswissenschaftler nahezu obligatorisch scheinende Selbst- bzw. Ehefrauenmord (als Louis Althusser seine Frau erwürgte, sollen einige seiner Freunde gesagt haben, es sei wohl das erstemal, dass die französische Arbeiterklasse Louis verstand), sondern gesellschaftlich-praktisches und also politisches Handeln. Im Laufe der 1990er Jahre zum akademischen Popstar geworden, wandte er sich mit verschiedenen Projekten wie einer "Internationale der Intellektuellen" und der Zeitschrift "Liber" vor allem dem Kampf gegen die Ideologie des Neoliberalismus zu. 1995 forderte er vor streikenden Eisenbahnarbeitern auf dem Gare de Lyon in Paris:
"Was heute auf dem Spiel steht, ist die Wiedereroberung der Demokratie gegen die Technokratie. Es muss Schluss sein mit der sachverständigen Tyrannei vom Typ Weltbank, die ohne Widerrede die Entscheidungen des neuen Leviathan, genannt 'Finanzmarkt', aufzwingen, und die statt zu verhandeln, zu 'erklären' gedenken."4
So mag uns Pierre Bourdieu auch weiterhin ein Beispiel und ein Vorbild dafür sein, dass es noch etwas anderes gibt, als einem nicht gerade vor Scharfsinn und Esprit sprühenden Zeitgeist seine mickrigen Apportierstöckchen hinterherzutragen.