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Die libysche Katastrophe

Graffiti von Muammar Gaddafi in Knoxville, Tennessee. Bild: Joel Kramer/CC BY 2.0

Wer etwas über den Irrationalismus europäischer Außenpolitik lernen will, muss sich mit Libyen beschäftigen. Ein Rückblick auf Libyen im letzten Jahr der Gaddafi-Herrschaft

Im März 2011 startete der Westen eine internationale Intervention in Libyen. Innerhalb eines halben Jahres wurde der autoritär verfasste Sozialstaat in Nordafrika zerstört. Seitdem befindet sich das Land in einer zivilisatorischen Abwärtsspirale. Wie auch im Sudan, bekriegen sich inzwischen die ehemaligen Alliierten aus der Allianz, die der Westen gegen den unliebsamen Herrscher bewaffnete.

Nach drei Jahren Bürgerkrieg lässt sich im libyschen Bürgerkrieg nur ein Gewinner ausmachen. Die verschiedensten islamistischen Bewegungen, darunter auch ihre jüngste Metamorphose, der "Islamische Staat", kontrollieren inzwischen große Teile des Landes. Die Schwierigkeit, mit dieser Entwicklung rational umzugehen, illustrieren Meldungen der Tagesschau.

Am 22. November 2014 veröffentlichte die Redaktion zwei Beiträge über Libyen. Volker Schwenck fragte [1] aus dem ARD-Studio in Kairo: "Erstarken die alten Gaddafi-Anhänger?" Am selben Tag berichtete [2] Peter Steffe, ebenfalls ARD-Studio Kairo: "Terrormiliz Islamischer Staat macht sich in Libyen breit." Gemeinsam werfen beide Beiträge ein bezeichnendes Licht auf die Verbündeten des Westens: Ehemalige Funktionäre der Gaddafi-Regierung und islamistische Extremisten.

Der Leidtragende der Entwicklung ist die libysche Bevölkerung. Aus dem Osten des Landes mussten nach Angaben der UNO in den vergangenen sechs Monaten etwa eine halbe Million Menschen flüchten. Seit dem Sommer bekämpfen sich die Fraktionen aus dem ehemaligen Nationalen Übergangsrat, zwei verschiedene Regierungen beanspruchen die Macht für sich. Die staatlichen Angestellten erhalten schon seit Monaten keine Löhne mehr.

Was noch funktioniert, wird von den Mitarbeitern in freiwilliger Arbeit aufrechterhalten. Große Teile der Infrastrukturen sind zerstört. Das Gesundheitswesen ist kollabiert. Unterricht finden seit Monaten nicht mehr statt. Die Versorgung mit Wasser und Strom bricht immer wieder zusammen, genau wie die Telekommunikation.

Das Leben in Libyen spielt sich unter der Willkürherrschaft verschiedener Milizen ab. Morde, Entführungen und Überfälle sind an der Tagesordnung. Alleine in Benghasi wurden in diesem Jahr mehr als 600 Menschen ermordet, berichtet [3] Astrid Frefel in der Neuen Züricher Zeitung:

Betroffen sind auch prominente Menschenrechtsaktivisten, die die Revolution angeführt hatten.

Ob sich die Vorgänge in Libyen als Revolution bezeichnen lassen, und ob ausgerechnet Menschenrechtsaktivisten in den Ereignissen eine führende Rolle spielten, bleibt allerdings zu fragen.

Sicher ist, dass mit dem Aufstieg der islamistischen Milizen, die von Saudi-Arabien und den Golfstaaten unterstützt werden, der tolerante sufistische Islam der Senussi-Bruderschaft zurückgedrängt wird. "Nur noch zwei Moscheen werden von moderaten Gemeinden geführt, meist haben konservative Wahhabiten das Kommando übernommen", schreibt [4] etwa Mirko Keilberth aus Tripolis.

Die religiösen Milizen sperrten in den letzten drei Jahren viele Sufi-Imame ein. Überall im Land flogen Sufi-Schreine in die Luft. Der Fingerabdruck der saudischen Außenpolitik - salafistische Missionierung plus Söldner unter religiöser Flagge - ist in Nordafrika genau so wenig zu übersehen wie in Syrien.

Westliches Erschrecken

Das blutige Chaos, das sich um Europa herum ausgebreitet hat, verursacht nicht mehr nur allgemeine Verunsicherung. Zunehmend geraten disponierte politische Analysten in die unangenehme Lage, eigene Positionen öffentlich revidieren zu müssen. Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des National Intelligence Council der CIA, Graham Fuller, sieht [5] in der Ausbreitung der Organisation "Islamischer Staat" das größte Chaos, das er jemals erlebt hat.

Er räumt ein, dass Saudi-Arabien und die USA die islamistischen Söldner "direkt oder indirekt" unterstützen. Mit Blick auf Syrien kommt er zu der Einschätzung: "Es ist höchste Zeit: Die USA müssen in den sauren Apfel beißen, das eigene Scheitern einräumen und Assad erlauben - oder ihm dabei helfen -, den Bürgerkrieg in Syrien rasch zu beenden und die Dschihadisten zu vertreiben."

Schon Ende September verfasste Christiane Hoffmann, stellvertretende Leiterin des Berliner Spiegel-Büros, einen kurzen Kommentar [6]:

Diktatur kann erträglicher sein als Anarchie.

Darin argumentiert auch sie aus westlicher Zweckrationalität und geht auf gescheiterte politische Zielsetzungen ein. Nach dem schnellen Sturz von Diktatoren könne Demokratie allein nicht unbedingt eine Ordnung herstellen.

Und wenn das nächste Mal eine Intervention ansteht, sollte vorher gefragt werden, was auf den Diktator folgt.

An der mit dem Kommentar verbundenen Leserbefragung [7] nahmen innerhalb eines Monats über 30.000 Menschen teil. Nur 13 Prozent unterstützten ungeteilt den von Europa beförderten Tyrannensturz. Die deutliche Mehrheit plädierte, weitestgehend im Einklang mit dem Völkerrecht, gegen die gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Fast ein Drittel sah hinter der neuen Konjunktur des Interventionismus gar "naives Wunschdenken".

Öffentliche Dienstleistungen für alle

Dass die Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung nur ein positiver gesellschaftlicher Wert unter vielen ist, mag Menschen überraschen, deren Elektrizität schon immer aus der Steckdose und deren Wasser schon immer aus dem Wasserhahn kam. Auch das Privileg, dass sich alltägliche Handlungen wie Arzt- oder Schulbesuche nicht unmittelbar mit dem Thema Geld verbinden, wissen Kommentatoren, die es selbst nie anders erlebt haben, als solches häufig nicht zu würdigen. Insofern kann ein kleiner Rückblick auf Libyen im letzten Jahr der Gaddafi-Herrschaft vielleicht interessanten Anschauungsstoff bieten.

Das kleine nordafrikanische Land beherbergt die größten Öl- und Gasvorräte der Region. Allerdings leben in Libyen höchstens sechs Millionen Menschen. Im Jahr 2010 erreichte es als einziges afrikanisches Land den Status "hohe Entwicklung" im Human Developement Index [8]. Um zwei Positionen schlechter wurde damals Saudi-Arabien bewertet, was hauptsächlich daran lag, dass die Golf-Monarchen den gesellschaftlichen Reichtum ihres Landes nicht öffentlich verteilen. Einen kleinen Eindruck vom libyschen Alltag mag der Umstand bieten, dass auf 100 Einwohner im letzten Jahr der Gaddafi-Herrschaft etwa 180 Mobilfunkverträge kamen.

Natürlich können auch Menschen mit zwei Handys in der Tasche frühzeitig ums Leben kommen, wenn sie in einer Gesellschaft leben, in der die elementarsten öffentlichen Funktionen nicht gewährleistet sind. Dieser Fall lag in Libyen jedoch ausdrücklich nicht vor. Kriminalität existierte praktisch gar nicht, was als positiver Nebeneffekt eines manischen Kontrollstaates eingeordnet werden kann. Aber dass die durchschnittliche Lebenserwartung 74 Jahren betrug, hatte eher damit zu tun, dass sich Libyen seit 1977 als sozialistisches Land definierte. Den größten Teil der Einnahmen aus den Energieexporten investierte die libysche Regierung in Dienstleistungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugute kommen sollten.

Dass dies, im Unterschied zu vielen anderen erdölexportierenden Ländern, weitestgehend geschah, lässt sich etwa daran erkennen, dass der Alphabetisierungsgrad bei 90 Prozent liegt. Libyen verfügte über ein kostenloses Schulsystem, in dem 93 Prozent der Kinder und Jugendlichen immerhin die Sekundarstufe besuchten. Mehr als die Hälfte der libyschen Jugendlichen durchlief sogar einen dritten Ausbildungsgang, in der Regel an einer Hochschule, wobei Frauen deutlich häufiger einen entsprechenden Abschluss erreichten als Männer.

Dieses für eine konservative muslimische Gesellschaft bemerkenswert hohe Bildungsniveau von Frauen trug auch zu einer selbständigen Familienplanung bei. Im Jahr 2010 hatte eine Frau in Libyen durchschnittlich 2,4 Kinder. Der Anteil von Frauen an der im formalen Sektor erwerbstätigen Bevölkerung lag bei fast 30 Prozent - ein Wert, der für Afrikanerinnen oder Frauen in anderen muslimischen Gesellschaften völlig außerhalb des Vorstellbaren liegt.

Das gilt sicher auch für ein öffentliches und natürlich kostenloses Gesundheitssystem. Als eines der wenigen Länder hatte Libyen die WHO-Deklaration von Alma Ata [9] aus dem Jahr 1978 umgesetzt. Für die Primärversorgung existierten 1500 kleine Kliniken, die sich um Vorsorge aller Art und Impfungen kümmerten.

Hinzu kamen etwa 100 Krankenhäuser. Obwohl Verwaltung und technische Ausstattung aus nordeuropäischer Perspektive vielerorts zu wünschen übrig ließen, konnte das Land bei allen wesentlichen Indikatoren, etwa Kindersterblichkeit oder ansteckende Erkrankungen, bessere Werte vorweisen als manches Land in der Europäischen Union.

Die WHO benannte [10] den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen mit der einfach zu merkenden Zahl 100 Prozent. Im Jahr 1969, als die aufständischen Offiziere um Oberst Gaddafi den König stürzten, gab es im gesamten Land sieben Ärzte.

Wirtschaftsboom im Sozialismus

In allen afrikanischen Ländern verbindet sich die Frage nach der Gesundheit mit dem Zugang zu sauberem Wasser. Seit 1984 begann Libyen ein gigantisches Vorkommen zu erschließen, das sich eigentlich nicht als Frischwasserreservoir bezeichnen lässt. Das nubische Aquifer ist etwa 35.000 Jahre alt - ein fossiles Meer aus Trinkwasser, das unter der Sahara liegt.

Bis 2010 wurden hunderte Wüstenbrunnen gebohrt und 4000 Kilometer gigantische Pipelines verlegt, um das nasse Gold in die besiedelten Küstenregion zu transportieren und unterwegs die Ackerflächen zu versorgen. Im Jahr 2010 waren alle libyschen Städte an das Netz angeschlossen. Während die Vereinten Nationen über die globale Wasserkrise diskutierten, hieß [11] es in Libyen, dessen Fläche zu 93 Prozent aus Wüste besteht:

Unsere Vorräte reichen noch für vier- bis fünftausend Jahre.

Seit Anfang der 2000er Jahre erlebte Libyen einen gigantischen Bauboom, der sich mit dem ansteigenden Weltmarktpreis für Erdöl immer weiter beschleunigte. Seitdem die UNO ihr internationales Embargo aufgehoben hatte, errichteten internationale Firmen neue Wohnanlagen und Einkaufszentren. Zum 40. Jahrestag seiner Revolution kündigte Gaddafi an, dass bis 2020 eine halbe Millionen Wohnungen neu gebaut werden sollten. Das Straßennetz und die Energieversorgung wurden instand gesetzt und ausgebaut. Chinesische Unternehmen bauten zwei Eisenbahnstrecken an der Küste des Landes.

Dass es in Libyen angesichts dieser Konjunktur überhaupt Arbeitslose gab, wirkt zunächst verwunderlich. Offiziell betrug die Arbeitslosigkeit im Jahr 2010 allerdings 8,6 Prozent. Bei 2,3 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter macht das etwa 180.000 Arbeitslose. Den größten Anteil daran stellten die Jugendlichen. Mehr als jeder fünfte libysche Jugendliche hatte keinen Job.

Obwohl die Löhne für einfache Arbeiter und Angestellte nicht besonders hoch lagen, konnten die Libyerinnen und Libyer gut Leben, da fast keinerlei Grundkosten für Wohnen, Wasser und Energie, für Bildung und Gesundheit anfielen. Mit der wirtschaftlichen Öffnung des Landes setzte allerdings eine Inflation ein, welche die Kaufkraft des libyschen Dinar und damit den Wert der Löhne spürbar reduzierte.

Eine Erklärung für die trotz Wirtschaftsboom relativ hohe Unterbeschäftigung findet sich in der Zahl der ausländischen Beschäftigten. Im letzte Jahr vor dem Umsturz arbeiteten in Libyen schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen aus mehr als 20 Ländern. Die größten Gruppen stammten aus benachbarten Ägypten, aus Bangladesch und China. Diese Zahl entspricht etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung.

Der Sozialismus des weisen Führers

Wenn die libysche Besonderheit ausschließlich in dieser erfolgreichen Sozialpolitik bestanden hätte, wäre sein politisches Modell von Johannisburg bis Kairo ein unschlagbares Exportmodell geworden. Unter Muammar al-Gaddafi hatte sich allerdings ein recht eigenwilliges politisches System etabliert. Es bestand aus einer Mischung aus direkter Demokratie und charismatischer Herrschaft eines Führers.

Auf der Grundlage seines "Grünen Buches" hatte der libysche Revolutionsführer die Arbeit von politischen Parteien als "Herrschaft eines Teils über das Ganze" beendet. Er betrachtete sie als "moderne Stammes- und Sektensysteme". Stattdessen sollte das Land von einem "allgemeinen Volkskongress" regiert werden. Dessen 2.700 Delegierte trafen sich einmal im Jahr für mehrere Wochen, regelten Alltagsprobleme, erließen Gesetze und wählten so genannte "Sekretäre", die als Minister mit einem imperativen Mandat ausgestattet waren.

Allerdings bestanden parallel zu diesen direkt-demokratischen Institutionen verschiedene "Komitees", in denen sich die politischen Eliten organisierten. Wie in fast allen Ländern, die Gewinne aus dem Rohstoffexport zu verteilen hatten, bestimmte auch in Libyen ein ausgeprägter Klientelismus den Alltag. Über die Jahre entwickelten sich vier Fraktionen innerhalb der Dschamahirija, die als politische Netzwerke funktionierten. Da war zum einen natürlich das persönliche Umfeld Gaddafis, das seine sozialistische und antiimperialistische Grundhaltung teilte.

Daneben agierte der Sicherheitsapparat mit Innensekretariat, Sicherheitsdiensten und Generalstaatsanwaltschaft als starker Machtblock. Seit den 1990er Jahren wurde eine wirtschaftsliberale Fraktion zunehmend stärker, die aus denjenigen bestand, die für den Außenhandel aber auch die Diplomatie zuständig waren.

Schließlich spielte über all die Jahrzehnte eine konservative religiöse Elite eine gewisse gesellschaftliche Rolle. Ein wesentlicher Teil der politischen Repression in Libyen ließ sich darauf zurückführen, dass zwischen diesen vier Gruppen Machtkämpfe ausgetragen wurden, welche die Gaddafi-Familie mit einer Mischung aus Drohungen und Zuwendungen bisher immer für sich entscheiden konnte.

Kaum ein anderes Land überwachte seine Bevölkerung derart offensichtlich wie Libyen. Ausländer, die das Land besuchten, berichteten, dass sie völlig ungeniert rund um die Uhr von Zivilisten begleitet wurden. Libyer konnten wegen geringster politischer Meinungsäußerungen im Gefängnis landen. Amnesty International begleitete etwa den Fall von Fathi al-Jahmi, der sich öffentlich über den Personenkult im Land lustig gemacht und eine Verfassung nach westlichem Vorbild verlangt hatte. Flüchtlinge, die aus Afrika kommend über Libyen nach Europa wollten, lebten völlig rechtlos.

Betrachtet man allerdings die von Amnesty genannten politischen Gefangenen in Libyen, fällt zweierlei auf. Erstens hatte die politische Verfolgung, zumindest gegen Ende des Regimes, nicht annähernd die Ausmaße wie in den Nachbarländern. In Ägypten bewegte sich die Zahl der politischen Gefangenen im letzten Jahr der Herrschaft von Husni Mubarak im Bereich mehrerer Hunderter. Allein 2009 wurden 269 Menschen in Ägypten zum Tode verurteilt, berichtet [12] Amnesty International. In Libyen lag die Zahl der politischen Gefangenen eher im Bereich der Dutzenden.

Den größten Teil der politischen Gefangenen hatte die Regierung seit dem Entspannungskurs gegenüber dem Westen ab 2002 freigelassen. Zweitens stammte die ganz überwiegende Mehrheit der politischen Gefangenen aus islamistischen Gruppen, unter denen einige Muslimbrüder die gewaltfreien Aktivisten stellten. Ein Großteil der in Libyen inhaftierten Islamisten stammte aus der "Libyschen Islamischen Kampfgruppe" (LIFG). Dazu kamen ab 2006 ehemalige Insassen des US-Gefangenenlagers Guantánamo Bay, die nach Libyen überstellt worden waren, und dort zunächst weiter in Haft blieben.

Osama bin Laden in Libyen...

Die Islamisten stellten in Libyen historisch den stärksten Teil der Opposition. Im internationalen Netzwerk der Mudschaheddin, die nach ihrem Sieg gegen die sowjetische Armee in Afghanistan in ihre Heimatländer zurückkehrten, um dort den Dschihad weiterzuführen - später bekannt als al-Qaida, die Basis - spielten die Libyer eine zentrale Rolle. Die LIFG-Aktivisten lebten in Afghanistan in den selben Camps wie die al-Qaida-Gründer, sie hingen der selben salafistischen Ideologie an. Sie waren al-Qaida. Allein in der Leitung des Netzwerks führten später drei Personen den Namenszusatz "al-Libi", der Libyer.

Nach Afghanistan hatten die arbeitslosen Söldner Gottes zwei Aktionsschwerpunkte: die südliche Grenze der auseinanderbrechenden Sowjetunion - Dagestan und Tschetschenien - sowie Nordafrika. Dort versuchten sie ab 1992 die Verhältnisse in den beiden sozialistisch regierten Ländern, in Algerien und Libyen, umzustürzen. Ab 1995 operierten die Dschihadisten hier offiziell unter dem Namen "Libysche Islamische Kampfgruppe" und starteten einen Guerillakrieg aus den Bergregionen im Osten des Landes.

Im Jahr zuvor wurde bereits ein Zwischenfall aktenkundig, der dafür gesorgt hätte, dass Osama bin-Laden im Fall einer Verhaftung an Libyen ausgeliefert hätte werden müssen - oder auch an Deutschland. Im März 1994 waren zwei deutsche Verfassungsschützer, das Ehepaar Silvan und Vera Becker, über Italien und Tunesien nach Libyen eingereist. Angeblich [13] befanden sie sich auf einer Urlaubsreise Richtung Ägypten. Silvan Becker leitete als Referent im Bundesamt für Verfassungsschutz die Abteilung 6, "Internationaler Terrorismus".

Zuvor hatte er schwerpunktmäßig das Thema "arabischer Extremismus" betreut. Am 8. März trafen die beiden deutschen Geheimdienstler auf ihre Mörder. Nach Angaben der libyschen Behörden wurden sie in der Nähe von Gaddafis Geburtsstadt Sirte in ihrem Fahrzeug überfallen. Zumindest Silvan Becker verstarb jedoch erst viel später, angeblich am 9. April, in einem Militärkrankenhaus in Tripolis.

Genau vier Jahre danach beantragten die libyschen Behörden bei Interpol [14] (FBI-Homepage) einen internationalen Haftbefehl gegen die mutmaßlichen Täter, nachdem sie dem deutschen Verfassungsschutz bereits zwei Jahre zuvor erklärt [15] hatten, bei den Tätern handle es sich um "religiöse Fanatiker". Ab 1998 fahndeten sie nach drei Mitgliedern der "Libyschen Islamischen Kampfgruppe", Faraj al-Alwan, Faez Abu Zeid al-Warfali und Farad al-Chalabi sowie nach einem Staatsbürger Saudi-Arabiens: Osama bin Laden.

In einem späteren Bericht an den UN-Sicherheitsrat kamen die libyschen Sicherheitsbehörden zu folgender Einschätzung [16]:

Bin Laden arbeitete abgestimmt mit der Libyschen Islamischen Kampfgruppe an der Planung und Ausführung von terroristischen Aktionen, was auch Waffentransporte über die libysche Grenze umfasste, um sie in Algerien Angehörigen der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA) zu übergeben.

... und Al-Qaida in London

Wie schon in Afghanistan und Pakistan bei der Operation Cyclone [17] funktionierte auch die Tätigkeit der LIFG in Libyen nicht ohne westliche Unterstützung. Einer ihrer Gründer, Noman Benotman, ist bis heute als Berater der britischen Regierung in Terrorismusfragen tätig. Einer der wichtigsten al Qaida-Aktivisten, Anas al-Libi, reiste aus Pakistan bereits 1992 nach Großbritannien und betätigte sich als Quartiermacher der Gruppe.

"Im Vereinigten Königreich entwickelte al-Libi eine robuste verdeckte Unterstützung für das LIFG-Netzwerk", berichtet Muhammad Kabir Isa vom Institute for Security Studies. Später wurde Anas al-Libi wegen der Anschläge in Nairobi und Daressalam international gesucht [18]. Nachdem die Gruppe im Jahr 1997 in Libyen militärisch weitgehend zerschlagen wurde, erhielten etwa 50 ihrer Mitglieder Asyl in Großbritannien. Ein Großteil der Leitungsebene, des so genannten Shura-Rates, lebte fortan in London, Birmingham und Manchester.

Der ehemalige Verantwortliche für Libyen im britischen Auslandsgeheimdienst MI6, David Shayler, beschrieb [19] schon Ende der 1990er Jahre die Verbindungen des Dienstes mit den libyschen Dschihadisten. Unter anderem soll sich der MI6 direkt an einem der gescheiterten Mordanschläge der Kampfgruppe auf Muammar al-Gaddafi beteiligt haben.

Detaillierte Informationen darüber stellte David Shayler dem parlamentarischen Intelligence and Security Committee und dem für Sicherheitsfragen zuständigen Staatsminister Jack Straw zur Verfügung. Sowohl die britische Regierung als auch die LIFG dementierten mit dramatischen Gesten ("reine Phantasie"), was für jeden Beobachter der libyschen Dschihadistenszene offensichtlich war.

Selbst nach dem 11. September 2001 bewegten sich die libyschen Al-Qaida-Leute weiter unbehelligt in Großbritannien. Bis zum Jahr 2005 unterhielt die LIFG eine offizielle Vertretung in London, dem Zentrum der libyschen Auslandsopposition. Das Shura-Mitglied Abdel Rahman al-Faqih, wohnhaft in London, wurde unterdessen in Marokko für die Selbstmordanschläge von 2003 in Casablanca in Abwesenheit verurteilt.

Bei der Bewertung der LIFG schien sich auch niemand daran zu stören, dass etwa Faez Abu Zeid al-Warfali, einer der angeblichen Becker-Mörder, unter einem seiner Decknamen auf der Liste der 19 mutmaßlichen WTC-Attentäter auftauchte, wie das FBI irgendwann herausfand [20].

Tatsächlich befand sich die Islamische Kampfgruppe bereits seit Oktober 2001 auf der Liste terroristischer Organisationen der UNO. Ihren Aufenthalt in Großbritannien beeinträchtigte das allerdings nicht. Libyen legte [21] der UNO schließlich im August 2004 eine Liste von 74 Personen vor, die Kontakt mit Osama bin Laden oder al-Qaida hatten.

Die US-Behörden behandelten diese Liste äußerst zurückhaltend und kürzten sie auf acht Namen zusammen. Angestoßen durch die UNO musste schließlich auch die britische Regierung gegen die LIFG-Strukturen aktiv werden. Vorher wendete sich der zuständige Mitarbeiter jedoch an die Amerikaner:

Cutler betont, dass das Vereinigte Königreich mit einer Vorlage an die UN nichts unternehmen wird, bevor sie nicht ein Wort von uns hören.

Das wollten [22] die USA aber nicht geben, solange sie nicht ihre "eigenen, strengen internen Verfahren" abgeschlossen hatten.

Dabei schien den US-Sicherheitsbehörden zu jedem Zeitpunkt klar zu sein, wer in Sachen LIFG federführend war. So baten [23] die Amerikaner das Vereinigte Königreich darum, "die Auswirkungen zu dämpfen", die eine unmittelbar bevorstehende Ankündigung über den Zusammenschluss von al-Qaida und der Libyschen Kampfgruppe haben werde. Auf dem Treffen am 6. September 2007 versprach der zuständige Staatssekretär, der Sache "den Stachel zu nehmen".

Der britische Direktor für Verteidigung und strategische Bedrohungen, Simon Manley, erläuterte die spezifisch britische Sicht auf eine Vergrößerung von al-Qaida: Einerseits werde die Gruppe nun "ihre Reichweite in Nordafrika erhöhen", andererseits werde der Zusammenschluss al-Qaidas Command-and-Control-Fähigkeiten schwächen. Dem Report ist nicht eindeutig zu entnehmen, welcher der beiden Aspekte der britischen Außenpolitik stärker entgegenkommt. Genau zwei Monate später, am 3. November 2007, gaben al-Qaida und die LIFG ihren formalen Zusammenschluss öffentlich bekannt.

Erst im Februar 2008, also fast sieben Jahre, nachdem die UNO die LIFG als Terrorgruppe eingestuft hatte, setzte [24] Großbritannien schließlich drei Libyer auf die Sanktionsliste. Zwar wurden schon ab 2005, als die Blair-Regierung begann, sich um bessere Beziehungen zu Gaddafi zu bemühen, einige LIFG-Aktivisten im Königreich unter Hausarrest gestellt.

Die meisten al-Qaida- und LIFG-Aktivisten können sich jedoch bis heute unbehelligt bewegen. Der Gründer der Organisation, Abd al-Hakim Balhadsch, leitete zwischenzeitlich den Militärrat der Opposition in Tripolis. Inzwischen soll er Brigaden der "moderaten Opposition" in Syrien kommandieren. Gerade erst, im Mai 2014, besuchte [25] er Paris und traf dort mit der Nordafrika-Abteilung des Außenministeriums zusammen.

Auch Farad al-Chalabi, ein anderer mutmaßlicher Mörder des Geheimdienstpärchens Becker, pendelt bis heute weitgehend ungestört zwischen den Kriegsschauplätzen des globalen Dschihad. Nach dem Sturm auf die amerikanische Botschaft in Benghasi und der Ermordung von Botschafter Chris Stevens sowie zwei weiterer CIA-Mitarbeiter am 11. September 2012 verhörte ihn das FBI. Sein Eindruck von diesem Verhör lautete [26]:

Die Amerikaner haben keine Ahnung, wer den Angriff ausführte. Sie sind verwirrt.

Kollateralschäden: Der talentierte Mister Stevens

Ein Jahr nach dem Umsturz in Libyen, den die USA tatkräftig unterstützten, stürmte eine Gruppe schwer bewaffneter Personen die provisorische US-Vertretung in Benghasi. Bei dem Angriff starb unter anderen der frisch ernannte Botschafter des Landes, Christopher - Chris -Stevens. Von Hause aus Jurist, spezialisiert auf internationales Recht, hatte Stevens bereits seit 1991 an den Hotspots des Nahen und Mittleren Ostens gearbeitet: Israel, Syrien, Ägypten und Saudi-Arabien. In Washington leitete er unter der Clinton-Regierung die Iran-Abteilung des Außenministeriums und beriet, unmittelbar vor seinem Libyen-Einsatz, den Republikanischen Senator Richard Lugar.

Anders als andere Beamte des Außenministeriums verband Chris Stevens eine kulturelle Empathie mit der Region. Er sprach Arabisch und bereiste auch privat die arabische Welt. Zudem verfolgte er intensiv die sicherheitspolitischen Risiken in seinen Einsatzländern. So lieferte er beispielsweise als Büroleiter aus Jerusalem von Ende 2005 bis Juni 2006 genaue Analysen über die Spaltung der Palästinensischen Autonomie Behörde und die Kämpfe zwischen Fatah und Hamas. In Libyen widmete sich Chris Stevens zunächst den Friedensgesprächen der verschiedenen Konfliktparteien im Sudan, die teilweise in Tripolis stattfanden (Sudan: Die Geschichte einer gescheiterten State-Building-Mission [27]).

Sofort danach wendete er sich jedoch innenpolitischen Belangen zu. Dabei legte er, soweit es sich anhand der von Wikileaks veröffentlichten Nachrichten nachvollziehen lässt, besonderes Augenmerk auf Konflikte zwischen den Eliten des Landes sowie auf die Betätigung von militanten Islamisten. Zudem war er dafür zuständig, ehemalige Gefangene aus Guantanamo - Al-Qaida- und LIFG-Militante - nach Libyen zu überführen.

Der öffentlich verkündete Zusammenschluss der LIFG mit al-Qaida im November 2007 war Gegenstand eines ausführlichen Berichts [28]. Darin beschreibt Chris Stevens die Reaktionen in Libyen. Man erinnere sich dort noch gut an die LIFG-Angriffe in den 1990er Jahren und befürchte, dass die Ergebnisse der aktuellen wirtschaftlichen Konjunktur gefährdet seien. Stevens konnte sogar Beiträge aus dem inneren Familienkreis der Gaddafis präsentieren.

So sorgte sich die Ehefrau von Muammar al-Gaddafi, Safia Farkash, dass die Islamisten diejenigen mobilisieren könnten, die bisher vom wirtschaftlichen Aufschwung nicht profitiert hätten. Gerade die wirtschaftliche Liberalisierung, angeführt von ihrem Sohn Saif al-Islam, würde die Bevölkerung benachteiligen und "den Groll verstärken", fürchtete die First Lady.

Andere Gesprächspartner bestärkten Stevens in der Sicht, dass große Teile der Bevölkerung unzufrieden mit dem Gaddafi-Regime waren und zudem die "meisten Libyer fundamentalistische Muslims" seien, oder sogar mit der "Idee eines islamischen Kalifats sympathisieren". Er kommentierte, dass eine "gewisse Unterstützung für al-Qaida und die LIFG" besteht. Schwieriger sei es jedoch einzuschätzen, ob diese einer "echten Affinität zu einer islamistischen Agenda" entspringt, oder einfach dem Wunsch, das "Gaddafi-Regime um jeden Preis loszuwerden".

Einige Wochen später legte Chris Stevens einen ausführlichen Bericht [29] über den "Extremismus im Osten Libyen" vor. In der Region um Derna und Benghasi bestehe zum einen ein Bewusstsein über eine strukturelle Benachteiligung. Andererseits finde sich ein großes Netzwerk von radikalen Moscheen "zusammen mit engen sozialen Netzwerken", die es der Regierung erschweren, die Region zu kontrollieren.

Bereits Ende 2007 kam es zu zahlreichen gewalttätigen, teilweise bewaffneten Zusammenstößen mit Kräften der Regierung, die mit der LIFG in Verbindung gebracht wurden. Zusätzlich würde "der Einfluss von Libyern, die in Afghanistan gekämpft haben" und das "arabische Satellitenfernsehen" die Bereitschaft junger Libyer fördern, in den Dschihad zu ziehen, so sein Gesprächspartner.

Zwar diskutiert Chris Stevens die islamistische Szene in Ostlibyen zu diesem Zeitpunkt vor allem mit Blick auf die libyschen Militanten, die im Irak gegen die Besatzungsmächte kämpfen. Gleichwohl zeigt sein Interesse dafür, wie die Regierung - hier vor allem Saif al-Islam - versucht, diesen regional etablierten Extremismus politisch aufzufangen, dass er sich der innenpolitischen Dimension bewusst ist.

Im April 2008 berichtet [30] Stevens etwa davon, dass in Derna ein "hoher Sicherheitsoffizier" erschossen wurde. Während unter den Diplomaten anderer Länder noch Wochen später spekuliert wurde, ob es sich um einen Terroranschlag handelt, vermerkt der US-Beamte:

Die seit 2002 in London erscheinende Website al-Manara veröffentlichte innerhalb eines Tages einen Bericht über die Schießerei, was nahelegt, dass enge und gut etablierte Kontakte zwischen den Ost-Libyern und Mitgliedern der libyschen Diaspora in Großbritannien bestehen.

Einen Monat später nimmt Chris Stevens die Region persönlich in Augenschein und verfasste einen Bericht mit dem Titel "Die Hard in Derna" [31]. Ein Vertreter der lokalen Stämme, Nouri al-Mansuri, stellte ihm gegenüber die dschihadistischen Aktivitäten aus der Region, auch den Kampf im Irak, als Opposition gegen Gaddafi dar, der seiner Ansicht nach mit den USA und Israel zusammenarbeite.

Er beschrieb die Rückkehr der Dschihadisten von den internationalen Schlachtfeldern als eine "bewusste und koordinierte Kampagne", um wahhabitische Auslegungen des Islam zu verbreiten und als Grundlage für den Kampf der LIFG gegen die Regierung. Aus seinen Gesprächen und Beobachtungen zog Chris Stevens den Schluss, dass die libysche Regierung ein manifestes Problem in der Region hat:

Das deutet stark darauf hin, dass die Behauptung von hochrangigen libyschen Beamten, wonach der Osten unter Kontrolle ist, übertrieben ist.

Am Ende sollte dieses Problem ihn selber das Leben kosten.

Palastrevolte mit islamistischer Unterstützung

Mit seiner Einschätzung bezüglich des Osten des Landes sollte der Mitarbeiter der US-Botschaft zwar richtig liegen. Dass in Libyen insgesamt eine allgemeine Unzufriedenheit herrscht und die ganze Bevölkerung nur darauf wartet, die Gaddafis loszuwerden, das bestätigte sich in dieser Form allerdings nicht. Tatsächlich kostete es den Westen am Ende einige Mühe, die Regierung zu stürzen.

Die ersten Proteste begannen am 17. Februar 2011 im Osten des Landes, genau in den historischen Hochburgen der Islamisten, in Derna, Al-Baida und später in Benghasi. Vom ersten Tag an hatten sie eher den Charakter eines bewaffneten Aufstands. In Derna griffen Aktivisten mit Schusswaffen und Panzerfäusten die Polizeistationen an.

Wer die Region kennt, konnte anhand der ersten Bilder [32] schnell einschätzen, welche Art von Leuten dort auf den Strandpromenaden im Osten Libyens auftrat. Bärtige Aktivisten, teilweise mit dem Kufiya vermummt, trugen unterschiedlichste Bilder von Gaddafi mit einem Judenstern auf der Stirn.

Ein Großteil der mehr als 200 LIFG-Militanten, die auf Betreiben von Saif al-Islam in den vergangenen Jahren aus den Haftanstalten entlassen worden waren, beteiligte sich sofort am Aufstand, darunter auch die Personen, welche die USA gerade aus Guantanamo nach Libyen überstellt hatten. Damit bestätigte sich die Befürchtung des libyschen Außenministers Musa Kusa, der noch Anfang 2009 gewarnt [33] hatte, dass "einige der Gefangenen zur Gewalt zurückkehren, wenn sie entlassen werden".

Den deutlichsten Fall stellt sicher der Emir der Islamischen Kampfgruppe, Abd al-Hakim Balhadsch. Zusammen mit fünf anderen LIFG-Führungskadern war er erst 2009 im Rahmen eines De-Radikalisierungsprozesses [34] entlassen worden. Wie früher schon, hießen diese Leute in westlichen Medien nun [35] wieder Freiheitskämpfer.

Im fernen Tripolis spielte sich zu diesem Zeitpunkt eine Entwicklung ab, die anders als die Proteste disparater Gruppen, das politische Zentrum Libyens empfindlich traf. Unmittelbar mit Beginn der Proteste, in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar, verschwand Innenminister Abdulfattah Junis aus der Hauptstadt.

Vier Tage später tauchte er in Benghasi wieder auf und erklärte [36] nun seine Unterstützung für die Opposition. Am 20. und 21. Februar folgten der Justizminister Mustafa Abdul Jalil, der in den vergangenen Jahren bereits enge Verbindungen zur US-Botschaft gehalten hatte, sowie Generalstaatsanwalt Abdul-Rahman al-Abbar und erklärten, dass sie nunmehr die Opposition unterstützen.

Nachdem zentrale Vertreter des wichtigen innenpolitischen Machtblocks sich gegen Gaddafi gestellt hatten, folgten auch zahlreiche Vertreter der westlich orientierten, wirtschaftsliberalen Fraktion. Die Machtbalance des Gaddafi-Regime war zerstört.

Der letzte Befehl, den Abdulfattah Junis aus Tripolis erteilt hatte, betraf die Einsatzkräfte der Polizei. Bereits am 17. Februar sei der Befehl vom Hauptquartier in Tripolis gekommen, die Polizeistationen zu verlassen, erklärt ein hochrangiger Polizist aus Tobruk der Reporterin Amira El Ahl [37].

Wir wurden aufgefordert, unsere Uniformen auszuziehen und nach Hause zu gehen.

Aus zahlreichen libyschen Städten, auch aus Derna und Benghasi, kamen entsprechende Berichte. Die Polizei war kaum in den Straßen präsent, sondern verschanzte sich bestenfalls in den Polizeistationen und Kasernen.

So kam es, dass in den Bergen rund um Derna Ende 2011 diejenigen zusammentrafen, die als "ehemalige Anhänger Gaddafis" noch kurz zuvor für die Bekämpfung der Opposition zuständig waren und eben islamistische Extremisten, die historisch den stärksten Teil dieser Opposition stellten. Unterstützt wurden sie - praktisch sofort mit Beginn des Aufstands - von Spezialeinheiten der britischen Armee.

Seit Ende Februar hatte Großbritannien bereits eine kleine Armee aus 250 Spezialkräften des Special Boat Service (SBS) in Libyen im Einsatz, die - wie Ende März durchsickerte [38] - bereits seit mehr als einem Monat Angriffe auf Panzer und Kommunikationsanlagen der Regierung ausführten.

In den nächsten Wochen, und lange vor Beginn der westlichen Luftangriffe, wurden sie mit weiteren 100 britischen Fallschirmjägern sowie mit US-Navy Seals verstärkt, die in den Nafusa-Bergen die Aufständischen ausbildeten und mit Waffen versorgten.

Übergang ins Chaos

Betrachtet man diese in der westlichen Öffentlichkeit weniger diskutierten Aspekte des Umsturzes in Libyen, gestaltet sich die weitere Entwicklung wenig überraschend. Zum einen vereinte der im März gebildete Nationale Übergangsrat politische Kräfte, die völlig unterschiedliche Interessen und Zukunftsvorstellungen hatten.

Zu diesen inneren Widersprüchen gesellten sich äußere Interessen, repräsentiert etwa durch Kräfte aus der Auslandsopposition wie den ehemaligen General und CIA-Mitarbeiter Chalifa Haftar. Aus der US-Botschaft blieb nur ein einziger Mitarbeiter zurück, der als westlicher Ansprechpartner für die Aufständischen im Nationalen Übergangsrat fungierte: Christopher Stevens.

Zum anderen fand der Aufstand anfänglich keineswegs die erhoffte landesweite Unterstützung. Zwar kam es mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in vielen Landesteilen zu Plünderungen und Pogromen gegen Ausländer und ausländische Arbeiter.

Eine politisch artikulierte Opposition zeigte sich aber zunächst nur im Osten des Landes. Nachdem die Regierung in Tripolis sich von der ersten Überraschung erholt hatte, wurde der Nationale Sicherheitsrat unter der Leitung von einem der Gaddafi-Söhne aktiv und begann eine militärische Gegenoffensive, die ohne die westliche Unterstützung für die Aufständischen vermutlich auch Erfolg gehabt hätte.

Von den westlichen Regierungen disponierte sich zu diesem frühen Zeitpunkt nur der alte Gastgeber der LIFG, das Vereinigte Königreich. Bereits Ende Februar hatte Premier David Cameron öffentlich den Einsatz britischer Bodentruppen in Libyen erwogen. Während am 21. März alle Koalitionäre noch Wert darauf legten, dass die UNO-Resolution weder Bodentruppen noch Aktionen gegen Gaddafi erlaube, erklärte der britische Verteidigungsminister Liam Fox gegenüber der BBC, ein Angriff auf Gaddafi sei "eventuell eine Möglichkeit".

Zu diesem Zeitpunkt warnten nicht nur Muammar al-Gaddafi und andere nordafrikanische Staatschefs [39] vor al-Qaida. Auch im Heimathafen der libyschen Auslandsopposition, in London, war Kennern der britischen Libyenpolitik klar, welches Spiel dort abläuft. "The West and al-Qaeda on the same side", titelte [40] etwa der Telegraph.


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[4] http://www.zenithonline.de/deutsch/politik/a/artikel/tripolis-und-der-vulkan-004212/
[5] http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/unser-mann-in-damaskus-630/
[6] http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-irak-libyen-warum-diktatur-besser-ist-als-anarchie-a-994225.html
[7] http://www.spiegel.de/forum/votes/vote-10809.html
[8] http://hdr.undp.org/sites/default/files/reports/270/hdr_2010_en_complete_reprint.pdf
[9] http://www.euro.who.int/de/publications/policy-documents/declaration-of-alma-ata,-1978
[10] http://www.who.int/countryfocus/cooperation_strategy/ccs_lby_en.pdf
[11] http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-12/libyen-wasser
[12] http://tinyurl.com/o5xwnrn
[13] http://www.focus.de/magazin/archiv/verfassungsschutz-mysterioeser-tod-in-libyen_aid_145826.html
[14] http://vault.fbi.gov/osama-bin-laden/osama-bin-laden-part-1-of-1
[15] http://www.focus.de/magazin/archiv/geheimdienst-mord-aus-fanatismus_aid_158724.html
[16] http://cns.miis.edu/inventory/pdfs/AQT_libya20040524.pdf
[17] http://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Cyclone
[18] http://www.globalsecurity.org/security/profiles/anas_al-liby.htm
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[20] http://www.focus.de/politik/deutschland/geheimdienst-toedlicher-agentenkrimi_aid_192913.html
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[22] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=06LONDON3628
[23] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=07LONDON3571&q=lifg
[24] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=08LONDON592
[25] http://www.jeuneafrique.com/Article/JA2783p006.xml6/
[26] http://www.washingtontimes.com/news/2013/jun/27/benghazi-attack-suspect-walks-libyans-release-key-/?page=all
[27] https://www.heise.de/tp/features/Sudan-Die-Geschichte-einer-gescheiterten-State-Building-Mission-3493680.html
[28] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=07TRIPOLI945
[29] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=08TRIPOLI120
[30] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=08TRIPOLI298
[31] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=08TRIPOLI430
[32] http://totallycoolpix.com/magazine/2011/02/the-libyan-protests
[33] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=09TRIPOLI494
[34] https://cablegatesearch.wikileaks.org/cable.php?id=09TRIPOLI955&q=revisionist-studies-of-the-concepts-of-jihad-verification-and-judgment-of-people
[35] http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/africaandindianocean/libya/8407047/Libyan-rebel-commander-admits-his-fighters-have-al-Qaeda-links.html
[36] http://blogs.aljazeera.com/blog/africa/live-blog-libya-feb-22
[37] http://www.welt.de/print/wams/politik/article12654073/Sie-feiern-schon-ihr-neues-Libyen.html%20
[38] http://www.dailymail.co.uk/news/article-1369763/Libya-Proof-winning-MoD-footage-airstrikes-Gaddafi-tanks.html
[39] http://www.lavanguardia.com/internacional/20110325/54131843593/chad-dice-que-al-qaeda-ha-robado-misiles-tierra-aire-en-libia.html
[40] http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/africaandindianocean/libya/8391632/Libya-the-West-and-al-Qaeda-on-the-same-side.html