Die libysche Katastrophe
Wer etwas über den Irrationalismus europäischer Außenpolitik lernen will, muss sich mit Libyen beschäftigen. Ein Rückblick auf Libyen im letzten Jahr der Gaddafi-Herrschaft
Im März 2011 startete der Westen eine internationale Intervention in Libyen. Innerhalb eines halben Jahres wurde der autoritär verfasste Sozialstaat in Nordafrika zerstört. Seitdem befindet sich das Land in einer zivilisatorischen Abwärtsspirale. Wie auch im Sudan, bekriegen sich inzwischen die ehemaligen Alliierten aus der Allianz, die der Westen gegen den unliebsamen Herrscher bewaffnete.
Nach drei Jahren Bürgerkrieg lässt sich im libyschen Bürgerkrieg nur ein Gewinner ausmachen. Die verschiedensten islamistischen Bewegungen, darunter auch ihre jüngste Metamorphose, der "Islamische Staat", kontrollieren inzwischen große Teile des Landes. Die Schwierigkeit, mit dieser Entwicklung rational umzugehen, illustrieren Meldungen der Tagesschau.
Am 22. November 2014 veröffentlichte die Redaktion zwei Beiträge über Libyen. Volker Schwenck fragte aus dem ARD-Studio in Kairo: "Erstarken die alten Gaddafi-Anhänger?" Am selben Tag berichtete Peter Steffe, ebenfalls ARD-Studio Kairo: "Terrormiliz Islamischer Staat macht sich in Libyen breit." Gemeinsam werfen beide Beiträge ein bezeichnendes Licht auf die Verbündeten des Westens: Ehemalige Funktionäre der Gaddafi-Regierung und islamistische Extremisten.
Der Leidtragende der Entwicklung ist die libysche Bevölkerung. Aus dem Osten des Landes mussten nach Angaben der UNO in den vergangenen sechs Monaten etwa eine halbe Million Menschen flüchten. Seit dem Sommer bekämpfen sich die Fraktionen aus dem ehemaligen Nationalen Übergangsrat, zwei verschiedene Regierungen beanspruchen die Macht für sich. Die staatlichen Angestellten erhalten schon seit Monaten keine Löhne mehr.
Was noch funktioniert, wird von den Mitarbeitern in freiwilliger Arbeit aufrechterhalten. Große Teile der Infrastrukturen sind zerstört. Das Gesundheitswesen ist kollabiert. Unterricht finden seit Monaten nicht mehr statt. Die Versorgung mit Wasser und Strom bricht immer wieder zusammen, genau wie die Telekommunikation.
Das Leben in Libyen spielt sich unter der Willkürherrschaft verschiedener Milizen ab. Morde, Entführungen und Überfälle sind an der Tagesordnung. Alleine in Benghasi wurden in diesem Jahr mehr als 600 Menschen ermordet, berichtet Astrid Frefel in der Neuen Züricher Zeitung:
Betroffen sind auch prominente Menschenrechtsaktivisten, die die Revolution angeführt hatten.
Ob sich die Vorgänge in Libyen als Revolution bezeichnen lassen, und ob ausgerechnet Menschenrechtsaktivisten in den Ereignissen eine führende Rolle spielten, bleibt allerdings zu fragen.
Sicher ist, dass mit dem Aufstieg der islamistischen Milizen, die von Saudi-Arabien und den Golfstaaten unterstützt werden, der tolerante sufistische Islam der Senussi-Bruderschaft zurückgedrängt wird. "Nur noch zwei Moscheen werden von moderaten Gemeinden geführt, meist haben konservative Wahhabiten das Kommando übernommen", schreibt etwa Mirko Keilberth aus Tripolis.
Die religiösen Milizen sperrten in den letzten drei Jahren viele Sufi-Imame ein. Überall im Land flogen Sufi-Schreine in die Luft. Der Fingerabdruck der saudischen Außenpolitik - salafistische Missionierung plus Söldner unter religiöser Flagge - ist in Nordafrika genau so wenig zu übersehen wie in Syrien.
Westliches Erschrecken
Das blutige Chaos, das sich um Europa herum ausgebreitet hat, verursacht nicht mehr nur allgemeine Verunsicherung. Zunehmend geraten disponierte politische Analysten in die unangenehme Lage, eigene Positionen öffentlich revidieren zu müssen. Der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des National Intelligence Council der CIA, Graham Fuller, sieht in der Ausbreitung der Organisation "Islamischer Staat" das größte Chaos, das er jemals erlebt hat.
Er räumt ein, dass Saudi-Arabien und die USA die islamistischen Söldner "direkt oder indirekt" unterstützen. Mit Blick auf Syrien kommt er zu der Einschätzung: "Es ist höchste Zeit: Die USA müssen in den sauren Apfel beißen, das eigene Scheitern einräumen und Assad erlauben - oder ihm dabei helfen -, den Bürgerkrieg in Syrien rasch zu beenden und die Dschihadisten zu vertreiben."
Schon Ende September verfasste Christiane Hoffmann, stellvertretende Leiterin des Berliner Spiegel-Büros, einen kurzen Kommentar:
Diktatur kann erträglicher sein als Anarchie.
Darin argumentiert auch sie aus westlicher Zweckrationalität und geht auf gescheiterte politische Zielsetzungen ein. Nach dem schnellen Sturz von Diktatoren könne Demokratie allein nicht unbedingt eine Ordnung herstellen.
Und wenn das nächste Mal eine Intervention ansteht, sollte vorher gefragt werden, was auf den Diktator folgt.
An der mit dem Kommentar verbundenen Leserbefragung nahmen innerhalb eines Monats über 30.000 Menschen teil. Nur 13 Prozent unterstützten ungeteilt den von Europa beförderten Tyrannensturz. Die deutliche Mehrheit plädierte, weitestgehend im Einklang mit dem Völkerrecht, gegen die gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Fast ein Drittel sah hinter der neuen Konjunktur des Interventionismus gar "naives Wunschdenken".
Öffentliche Dienstleistungen für alle
Dass die Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung nur ein positiver gesellschaftlicher Wert unter vielen ist, mag Menschen überraschen, deren Elektrizität schon immer aus der Steckdose und deren Wasser schon immer aus dem Wasserhahn kam. Auch das Privileg, dass sich alltägliche Handlungen wie Arzt- oder Schulbesuche nicht unmittelbar mit dem Thema Geld verbinden, wissen Kommentatoren, die es selbst nie anders erlebt haben, als solches häufig nicht zu würdigen. Insofern kann ein kleiner Rückblick auf Libyen im letzten Jahr der Gaddafi-Herrschaft vielleicht interessanten Anschauungsstoff bieten.
Das kleine nordafrikanische Land beherbergt die größten Öl- und Gasvorräte der Region. Allerdings leben in Libyen höchstens sechs Millionen Menschen. Im Jahr 2010 erreichte es als einziges afrikanisches Land den Status "hohe Entwicklung" im Human Developement Index. Um zwei Positionen schlechter wurde damals Saudi-Arabien bewertet, was hauptsächlich daran lag, dass die Golf-Monarchen den gesellschaftlichen Reichtum ihres Landes nicht öffentlich verteilen. Einen kleinen Eindruck vom libyschen Alltag mag der Umstand bieten, dass auf 100 Einwohner im letzten Jahr der Gaddafi-Herrschaft etwa 180 Mobilfunkverträge kamen.
Natürlich können auch Menschen mit zwei Handys in der Tasche frühzeitig ums Leben kommen, wenn sie in einer Gesellschaft leben, in der die elementarsten öffentlichen Funktionen nicht gewährleistet sind. Dieser Fall lag in Libyen jedoch ausdrücklich nicht vor. Kriminalität existierte praktisch gar nicht, was als positiver Nebeneffekt eines manischen Kontrollstaates eingeordnet werden kann. Aber dass die durchschnittliche Lebenserwartung 74 Jahren betrug, hatte eher damit zu tun, dass sich Libyen seit 1977 als sozialistisches Land definierte. Den größten Teil der Einnahmen aus den Energieexporten investierte die libysche Regierung in Dienstleistungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugute kommen sollten.
Dass dies, im Unterschied zu vielen anderen erdölexportierenden Ländern, weitestgehend geschah, lässt sich etwa daran erkennen, dass der Alphabetisierungsgrad bei 90 Prozent liegt. Libyen verfügte über ein kostenloses Schulsystem, in dem 93 Prozent der Kinder und Jugendlichen immerhin die Sekundarstufe besuchten. Mehr als die Hälfte der libyschen Jugendlichen durchlief sogar einen dritten Ausbildungsgang, in der Regel an einer Hochschule, wobei Frauen deutlich häufiger einen entsprechenden Abschluss erreichten als Männer.
Dieses für eine konservative muslimische Gesellschaft bemerkenswert hohe Bildungsniveau von Frauen trug auch zu einer selbständigen Familienplanung bei. Im Jahr 2010 hatte eine Frau in Libyen durchschnittlich 2,4 Kinder. Der Anteil von Frauen an der im formalen Sektor erwerbstätigen Bevölkerung lag bei fast 30 Prozent - ein Wert, der für Afrikanerinnen oder Frauen in anderen muslimischen Gesellschaften völlig außerhalb des Vorstellbaren liegt.
Das gilt sicher auch für ein öffentliches und natürlich kostenloses Gesundheitssystem. Als eines der wenigen Länder hatte Libyen die WHO-Deklaration von Alma Ata aus dem Jahr 1978 umgesetzt. Für die Primärversorgung existierten 1500 kleine Kliniken, die sich um Vorsorge aller Art und Impfungen kümmerten.
Hinzu kamen etwa 100 Krankenhäuser. Obwohl Verwaltung und technische Ausstattung aus nordeuropäischer Perspektive vielerorts zu wünschen übrig ließen, konnte das Land bei allen wesentlichen Indikatoren, etwa Kindersterblichkeit oder ansteckende Erkrankungen, bessere Werte vorweisen als manches Land in der Europäischen Union.
Die WHO benannte den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen mit der einfach zu merkenden Zahl 100 Prozent. Im Jahr 1969, als die aufständischen Offiziere um Oberst Gaddafi den König stürzten, gab es im gesamten Land sieben Ärzte.