Die libysche Katastrophe
Seite 5: Palastrevolte mit islamistischer Unterstützung
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Mit seiner Einschätzung bezüglich des Osten des Landes sollte der Mitarbeiter der US-Botschaft zwar richtig liegen. Dass in Libyen insgesamt eine allgemeine Unzufriedenheit herrscht und die ganze Bevölkerung nur darauf wartet, die Gaddafis loszuwerden, das bestätigte sich in dieser Form allerdings nicht. Tatsächlich kostete es den Westen am Ende einige Mühe, die Regierung zu stürzen.
Die ersten Proteste begannen am 17. Februar 2011 im Osten des Landes, genau in den historischen Hochburgen der Islamisten, in Derna, Al-Baida und später in Benghasi. Vom ersten Tag an hatten sie eher den Charakter eines bewaffneten Aufstands. In Derna griffen Aktivisten mit Schusswaffen und Panzerfäusten die Polizeistationen an.
Wer die Region kennt, konnte anhand der ersten Bilder schnell einschätzen, welche Art von Leuten dort auf den Strandpromenaden im Osten Libyens auftrat. Bärtige Aktivisten, teilweise mit dem Kufiya vermummt, trugen unterschiedlichste Bilder von Gaddafi mit einem Judenstern auf der Stirn.
Ein Großteil der mehr als 200 LIFG-Militanten, die auf Betreiben von Saif al-Islam in den vergangenen Jahren aus den Haftanstalten entlassen worden waren, beteiligte sich sofort am Aufstand, darunter auch die Personen, welche die USA gerade aus Guantanamo nach Libyen überstellt hatten. Damit bestätigte sich die Befürchtung des libyschen Außenministers Musa Kusa, der noch Anfang 2009 gewarnt hatte, dass "einige der Gefangenen zur Gewalt zurückkehren, wenn sie entlassen werden".
Den deutlichsten Fall stellt sicher der Emir der Islamischen Kampfgruppe, Abd al-Hakim Balhadsch. Zusammen mit fünf anderen LIFG-Führungskadern war er erst 2009 im Rahmen eines De-Radikalisierungsprozesses entlassen worden. Wie früher schon, hießen diese Leute in westlichen Medien nun wieder Freiheitskämpfer.
Im fernen Tripolis spielte sich zu diesem Zeitpunkt eine Entwicklung ab, die anders als die Proteste disparater Gruppen, das politische Zentrum Libyens empfindlich traf. Unmittelbar mit Beginn der Proteste, in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar, verschwand Innenminister Abdulfattah Junis aus der Hauptstadt.
Vier Tage später tauchte er in Benghasi wieder auf und erklärte nun seine Unterstützung für die Opposition. Am 20. und 21. Februar folgten der Justizminister Mustafa Abdul Jalil, der in den vergangenen Jahren bereits enge Verbindungen zur US-Botschaft gehalten hatte, sowie Generalstaatsanwalt Abdul-Rahman al-Abbar und erklärten, dass sie nunmehr die Opposition unterstützen.
Nachdem zentrale Vertreter des wichtigen innenpolitischen Machtblocks sich gegen Gaddafi gestellt hatten, folgten auch zahlreiche Vertreter der westlich orientierten, wirtschaftsliberalen Fraktion. Die Machtbalance des Gaddafi-Regime war zerstört.
Der letzte Befehl, den Abdulfattah Junis aus Tripolis erteilt hatte, betraf die Einsatzkräfte der Polizei. Bereits am 17. Februar sei der Befehl vom Hauptquartier in Tripolis gekommen, die Polizeistationen zu verlassen, erklärt ein hochrangiger Polizist aus Tobruk der Reporterin Amira El Ahl.
Wir wurden aufgefordert, unsere Uniformen auszuziehen und nach Hause zu gehen.
Aus zahlreichen libyschen Städten, auch aus Derna und Benghasi, kamen entsprechende Berichte. Die Polizei war kaum in den Straßen präsent, sondern verschanzte sich bestenfalls in den Polizeistationen und Kasernen.
So kam es, dass in den Bergen rund um Derna Ende 2011 diejenigen zusammentrafen, die als "ehemalige Anhänger Gaddafis" noch kurz zuvor für die Bekämpfung der Opposition zuständig waren und eben islamistische Extremisten, die historisch den stärksten Teil dieser Opposition stellten. Unterstützt wurden sie - praktisch sofort mit Beginn des Aufstands - von Spezialeinheiten der britischen Armee.
Seit Ende Februar hatte Großbritannien bereits eine kleine Armee aus 250 Spezialkräften des Special Boat Service (SBS) in Libyen im Einsatz, die - wie Ende März durchsickerte - bereits seit mehr als einem Monat Angriffe auf Panzer und Kommunikationsanlagen der Regierung ausführten.
In den nächsten Wochen, und lange vor Beginn der westlichen Luftangriffe, wurden sie mit weiteren 100 britischen Fallschirmjägern sowie mit US-Navy Seals verstärkt, die in den Nafusa-Bergen die Aufständischen ausbildeten und mit Waffen versorgten.
Übergang ins Chaos
Betrachtet man diese in der westlichen Öffentlichkeit weniger diskutierten Aspekte des Umsturzes in Libyen, gestaltet sich die weitere Entwicklung wenig überraschend. Zum einen vereinte der im März gebildete Nationale Übergangsrat politische Kräfte, die völlig unterschiedliche Interessen und Zukunftsvorstellungen hatten.
Zu diesen inneren Widersprüchen gesellten sich äußere Interessen, repräsentiert etwa durch Kräfte aus der Auslandsopposition wie den ehemaligen General und CIA-Mitarbeiter Chalifa Haftar. Aus der US-Botschaft blieb nur ein einziger Mitarbeiter zurück, der als westlicher Ansprechpartner für die Aufständischen im Nationalen Übergangsrat fungierte: Christopher Stevens.
Zum anderen fand der Aufstand anfänglich keineswegs die erhoffte landesweite Unterstützung. Zwar kam es mit dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in vielen Landesteilen zu Plünderungen und Pogromen gegen Ausländer und ausländische Arbeiter.
Eine politisch artikulierte Opposition zeigte sich aber zunächst nur im Osten des Landes. Nachdem die Regierung in Tripolis sich von der ersten Überraschung erholt hatte, wurde der Nationale Sicherheitsrat unter der Leitung von einem der Gaddafi-Söhne aktiv und begann eine militärische Gegenoffensive, die ohne die westliche Unterstützung für die Aufständischen vermutlich auch Erfolg gehabt hätte.
Von den westlichen Regierungen disponierte sich zu diesem frühen Zeitpunkt nur der alte Gastgeber der LIFG, das Vereinigte Königreich. Bereits Ende Februar hatte Premier David Cameron öffentlich den Einsatz britischer Bodentruppen in Libyen erwogen. Während am 21. März alle Koalitionäre noch Wert darauf legten, dass die UNO-Resolution weder Bodentruppen noch Aktionen gegen Gaddafi erlaube, erklärte der britische Verteidigungsminister Liam Fox gegenüber der BBC, ein Angriff auf Gaddafi sei "eventuell eine Möglichkeit".
Zu diesem Zeitpunkt warnten nicht nur Muammar al-Gaddafi und andere nordafrikanische Staatschefs vor al-Qaida. Auch im Heimathafen der libyschen Auslandsopposition, in London, war Kennern der britischen Libyenpolitik klar, welches Spiel dort abläuft. "The West and al-Qaeda on the same side", titelte etwa der Telegraph.