Die libysche Katastrophe
Seite 3: Osama bin Laden in Libyen...
Die Islamisten stellten in Libyen historisch den stärksten Teil der Opposition. Im internationalen Netzwerk der Mudschaheddin, die nach ihrem Sieg gegen die sowjetische Armee in Afghanistan in ihre Heimatländer zurückkehrten, um dort den Dschihad weiterzuführen - später bekannt als al-Qaida, die Basis - spielten die Libyer eine zentrale Rolle. Die LIFG-Aktivisten lebten in Afghanistan in den selben Camps wie die al-Qaida-Gründer, sie hingen der selben salafistischen Ideologie an. Sie waren al-Qaida. Allein in der Leitung des Netzwerks führten später drei Personen den Namenszusatz "al-Libi", der Libyer.
Nach Afghanistan hatten die arbeitslosen Söldner Gottes zwei Aktionsschwerpunkte: die südliche Grenze der auseinanderbrechenden Sowjetunion - Dagestan und Tschetschenien - sowie Nordafrika. Dort versuchten sie ab 1992 die Verhältnisse in den beiden sozialistisch regierten Ländern, in Algerien und Libyen, umzustürzen. Ab 1995 operierten die Dschihadisten hier offiziell unter dem Namen "Libysche Islamische Kampfgruppe" und starteten einen Guerillakrieg aus den Bergregionen im Osten des Landes.
Im Jahr zuvor wurde bereits ein Zwischenfall aktenkundig, der dafür gesorgt hätte, dass Osama bin-Laden im Fall einer Verhaftung an Libyen ausgeliefert hätte werden müssen - oder auch an Deutschland. Im März 1994 waren zwei deutsche Verfassungsschützer, das Ehepaar Silvan und Vera Becker, über Italien und Tunesien nach Libyen eingereist. Angeblich befanden sie sich auf einer Urlaubsreise Richtung Ägypten. Silvan Becker leitete als Referent im Bundesamt für Verfassungsschutz die Abteilung 6, "Internationaler Terrorismus".
Zuvor hatte er schwerpunktmäßig das Thema "arabischer Extremismus" betreut. Am 8. März trafen die beiden deutschen Geheimdienstler auf ihre Mörder. Nach Angaben der libyschen Behörden wurden sie in der Nähe von Gaddafis Geburtsstadt Sirte in ihrem Fahrzeug überfallen. Zumindest Silvan Becker verstarb jedoch erst viel später, angeblich am 9. April, in einem Militärkrankenhaus in Tripolis.
Genau vier Jahre danach beantragten die libyschen Behörden bei Interpol (FBI-Homepage) einen internationalen Haftbefehl gegen die mutmaßlichen Täter, nachdem sie dem deutschen Verfassungsschutz bereits zwei Jahre zuvor erklärt hatten, bei den Tätern handle es sich um "religiöse Fanatiker". Ab 1998 fahndeten sie nach drei Mitgliedern der "Libyschen Islamischen Kampfgruppe", Faraj al-Alwan, Faez Abu Zeid al-Warfali und Farad al-Chalabi sowie nach einem Staatsbürger Saudi-Arabiens: Osama bin Laden.
In einem späteren Bericht an den UN-Sicherheitsrat kamen die libyschen Sicherheitsbehörden zu folgender Einschätzung:
Bin Laden arbeitete abgestimmt mit der Libyschen Islamischen Kampfgruppe an der Planung und Ausführung von terroristischen Aktionen, was auch Waffentransporte über die libysche Grenze umfasste, um sie in Algerien Angehörigen der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA) zu übergeben.
... und Al-Qaida in London
Wie schon in Afghanistan und Pakistan bei der Operation Cyclone funktionierte auch die Tätigkeit der LIFG in Libyen nicht ohne westliche Unterstützung. Einer ihrer Gründer, Noman Benotman, ist bis heute als Berater der britischen Regierung in Terrorismusfragen tätig. Einer der wichtigsten al Qaida-Aktivisten, Anas al-Libi, reiste aus Pakistan bereits 1992 nach Großbritannien und betätigte sich als Quartiermacher der Gruppe.
"Im Vereinigten Königreich entwickelte al-Libi eine robuste verdeckte Unterstützung für das LIFG-Netzwerk", berichtet Muhammad Kabir Isa vom Institute for Security Studies. Später wurde Anas al-Libi wegen der Anschläge in Nairobi und Daressalam international gesucht. Nachdem die Gruppe im Jahr 1997 in Libyen militärisch weitgehend zerschlagen wurde, erhielten etwa 50 ihrer Mitglieder Asyl in Großbritannien. Ein Großteil der Leitungsebene, des so genannten Shura-Rates, lebte fortan in London, Birmingham und Manchester.
Der ehemalige Verantwortliche für Libyen im britischen Auslandsgeheimdienst MI6, David Shayler, beschrieb schon Ende der 1990er Jahre die Verbindungen des Dienstes mit den libyschen Dschihadisten. Unter anderem soll sich der MI6 direkt an einem der gescheiterten Mordanschläge der Kampfgruppe auf Muammar al-Gaddafi beteiligt haben.
Detaillierte Informationen darüber stellte David Shayler dem parlamentarischen Intelligence and Security Committee und dem für Sicherheitsfragen zuständigen Staatsminister Jack Straw zur Verfügung. Sowohl die britische Regierung als auch die LIFG dementierten mit dramatischen Gesten ("reine Phantasie"), was für jeden Beobachter der libyschen Dschihadistenszene offensichtlich war.
Selbst nach dem 11. September 2001 bewegten sich die libyschen Al-Qaida-Leute weiter unbehelligt in Großbritannien. Bis zum Jahr 2005 unterhielt die LIFG eine offizielle Vertretung in London, dem Zentrum der libyschen Auslandsopposition. Das Shura-Mitglied Abdel Rahman al-Faqih, wohnhaft in London, wurde unterdessen in Marokko für die Selbstmordanschläge von 2003 in Casablanca in Abwesenheit verurteilt.
Bei der Bewertung der LIFG schien sich auch niemand daran zu stören, dass etwa Faez Abu Zeid al-Warfali, einer der angeblichen Becker-Mörder, unter einem seiner Decknamen auf der Liste der 19 mutmaßlichen WTC-Attentäter auftauchte, wie das FBI irgendwann herausfand.
Tatsächlich befand sich die Islamische Kampfgruppe bereits seit Oktober 2001 auf der Liste terroristischer Organisationen der UNO. Ihren Aufenthalt in Großbritannien beeinträchtigte das allerdings nicht. Libyen legte der UNO schließlich im August 2004 eine Liste von 74 Personen vor, die Kontakt mit Osama bin Laden oder al-Qaida hatten.
Die US-Behörden behandelten diese Liste äußerst zurückhaltend und kürzten sie auf acht Namen zusammen. Angestoßen durch die UNO musste schließlich auch die britische Regierung gegen die LIFG-Strukturen aktiv werden. Vorher wendete sich der zuständige Mitarbeiter jedoch an die Amerikaner:
Cutler betont, dass das Vereinigte Königreich mit einer Vorlage an die UN nichts unternehmen wird, bevor sie nicht ein Wort von uns hören.
Das wollten die USA aber nicht geben, solange sie nicht ihre "eigenen, strengen internen Verfahren" abgeschlossen hatten.
Dabei schien den US-Sicherheitsbehörden zu jedem Zeitpunkt klar zu sein, wer in Sachen LIFG federführend war. So baten die Amerikaner das Vereinigte Königreich darum, "die Auswirkungen zu dämpfen", die eine unmittelbar bevorstehende Ankündigung über den Zusammenschluss von al-Qaida und der Libyschen Kampfgruppe haben werde. Auf dem Treffen am 6. September 2007 versprach der zuständige Staatssekretär, der Sache "den Stachel zu nehmen".
Der britische Direktor für Verteidigung und strategische Bedrohungen, Simon Manley, erläuterte die spezifisch britische Sicht auf eine Vergrößerung von al-Qaida: Einerseits werde die Gruppe nun "ihre Reichweite in Nordafrika erhöhen", andererseits werde der Zusammenschluss al-Qaidas Command-and-Control-Fähigkeiten schwächen. Dem Report ist nicht eindeutig zu entnehmen, welcher der beiden Aspekte der britischen Außenpolitik stärker entgegenkommt. Genau zwei Monate später, am 3. November 2007, gaben al-Qaida und die LIFG ihren formalen Zusammenschluss öffentlich bekannt.
Erst im Februar 2008, also fast sieben Jahre, nachdem die UNO die LIFG als Terrorgruppe eingestuft hatte, setzte Großbritannien schließlich drei Libyer auf die Sanktionsliste. Zwar wurden schon ab 2005, als die Blair-Regierung begann, sich um bessere Beziehungen zu Gaddafi zu bemühen, einige LIFG-Aktivisten im Königreich unter Hausarrest gestellt.
Die meisten al-Qaida- und LIFG-Aktivisten können sich jedoch bis heute unbehelligt bewegen. Der Gründer der Organisation, Abd al-Hakim Balhadsch, leitete zwischenzeitlich den Militärrat der Opposition in Tripolis. Inzwischen soll er Brigaden der "moderaten Opposition" in Syrien kommandieren. Gerade erst, im Mai 2014, besuchte er Paris und traf dort mit der Nordafrika-Abteilung des Außenministeriums zusammen.
Auch Farad al-Chalabi, ein anderer mutmaßlicher Mörder des Geheimdienstpärchens Becker, pendelt bis heute weitgehend ungestört zwischen den Kriegsschauplätzen des globalen Dschihad. Nach dem Sturm auf die amerikanische Botschaft in Benghasi und der Ermordung von Botschafter Chris Stevens sowie zwei weiterer CIA-Mitarbeiter am 11. September 2012 verhörte ihn das FBI. Sein Eindruck von diesem Verhör lautete:
Die Amerikaner haben keine Ahnung, wer den Angriff ausführte. Sie sind verwirrt.