Die libysche Katastrophe

Seite 4: Kollateralschäden: Der talentierte Mister Stevens

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Ein Jahr nach dem Umsturz in Libyen, den die USA tatkräftig unterstützten, stürmte eine Gruppe schwer bewaffneter Personen die provisorische US-Vertretung in Benghasi. Bei dem Angriff starb unter anderen der frisch ernannte Botschafter des Landes, Christopher - Chris -Stevens. Von Hause aus Jurist, spezialisiert auf internationales Recht, hatte Stevens bereits seit 1991 an den Hotspots des Nahen und Mittleren Ostens gearbeitet: Israel, Syrien, Ägypten und Saudi-Arabien. In Washington leitete er unter der Clinton-Regierung die Iran-Abteilung des Außenministeriums und beriet, unmittelbar vor seinem Libyen-Einsatz, den Republikanischen Senator Richard Lugar.

Anders als andere Beamte des Außenministeriums verband Chris Stevens eine kulturelle Empathie mit der Region. Er sprach Arabisch und bereiste auch privat die arabische Welt. Zudem verfolgte er intensiv die sicherheitspolitischen Risiken in seinen Einsatzländern. So lieferte er beispielsweise als Büroleiter aus Jerusalem von Ende 2005 bis Juni 2006 genaue Analysen über die Spaltung der Palästinensischen Autonomie Behörde und die Kämpfe zwischen Fatah und Hamas. In Libyen widmete sich Chris Stevens zunächst den Friedensgesprächen der verschiedenen Konfliktparteien im Sudan, die teilweise in Tripolis stattfanden (Sudan: Die Geschichte einer gescheiterten State-Building-Mission).

Sofort danach wendete er sich jedoch innenpolitischen Belangen zu. Dabei legte er, soweit es sich anhand der von Wikileaks veröffentlichten Nachrichten nachvollziehen lässt, besonderes Augenmerk auf Konflikte zwischen den Eliten des Landes sowie auf die Betätigung von militanten Islamisten. Zudem war er dafür zuständig, ehemalige Gefangene aus Guantanamo - Al-Qaida- und LIFG-Militante - nach Libyen zu überführen.

Der öffentlich verkündete Zusammenschluss der LIFG mit al-Qaida im November 2007 war Gegenstand eines ausführlichen Berichts. Darin beschreibt Chris Stevens die Reaktionen in Libyen. Man erinnere sich dort noch gut an die LIFG-Angriffe in den 1990er Jahren und befürchte, dass die Ergebnisse der aktuellen wirtschaftlichen Konjunktur gefährdet seien. Stevens konnte sogar Beiträge aus dem inneren Familienkreis der Gaddafis präsentieren.

So sorgte sich die Ehefrau von Muammar al-Gaddafi, Safia Farkash, dass die Islamisten diejenigen mobilisieren könnten, die bisher vom wirtschaftlichen Aufschwung nicht profitiert hätten. Gerade die wirtschaftliche Liberalisierung, angeführt von ihrem Sohn Saif al-Islam, würde die Bevölkerung benachteiligen und "den Groll verstärken", fürchtete die First Lady.

Andere Gesprächspartner bestärkten Stevens in der Sicht, dass große Teile der Bevölkerung unzufrieden mit dem Gaddafi-Regime waren und zudem die "meisten Libyer fundamentalistische Muslims" seien, oder sogar mit der "Idee eines islamischen Kalifats sympathisieren". Er kommentierte, dass eine "gewisse Unterstützung für al-Qaida und die LIFG" besteht. Schwieriger sei es jedoch einzuschätzen, ob diese einer "echten Affinität zu einer islamistischen Agenda" entspringt, oder einfach dem Wunsch, das "Gaddafi-Regime um jeden Preis loszuwerden".

Einige Wochen später legte Chris Stevens einen ausführlichen Bericht über den "Extremismus im Osten Libyen" vor. In der Region um Derna und Benghasi bestehe zum einen ein Bewusstsein über eine strukturelle Benachteiligung. Andererseits finde sich ein großes Netzwerk von radikalen Moscheen "zusammen mit engen sozialen Netzwerken", die es der Regierung erschweren, die Region zu kontrollieren.

Bereits Ende 2007 kam es zu zahlreichen gewalttätigen, teilweise bewaffneten Zusammenstößen mit Kräften der Regierung, die mit der LIFG in Verbindung gebracht wurden. Zusätzlich würde "der Einfluss von Libyern, die in Afghanistan gekämpft haben" und das "arabische Satellitenfernsehen" die Bereitschaft junger Libyer fördern, in den Dschihad zu ziehen, so sein Gesprächspartner.

Zwar diskutiert Chris Stevens die islamistische Szene in Ostlibyen zu diesem Zeitpunkt vor allem mit Blick auf die libyschen Militanten, die im Irak gegen die Besatzungsmächte kämpfen. Gleichwohl zeigt sein Interesse dafür, wie die Regierung - hier vor allem Saif al-Islam - versucht, diesen regional etablierten Extremismus politisch aufzufangen, dass er sich der innenpolitischen Dimension bewusst ist.

Im April 2008 berichtet Stevens etwa davon, dass in Derna ein "hoher Sicherheitsoffizier" erschossen wurde. Während unter den Diplomaten anderer Länder noch Wochen später spekuliert wurde, ob es sich um einen Terroranschlag handelt, vermerkt der US-Beamte:

Die seit 2002 in London erscheinende Website al-Manara veröffentlichte innerhalb eines Tages einen Bericht über die Schießerei, was nahelegt, dass enge und gut etablierte Kontakte zwischen den Ost-Libyern und Mitgliedern der libyschen Diaspora in Großbritannien bestehen.

Einen Monat später nimmt Chris Stevens die Region persönlich in Augenschein und verfasste einen Bericht mit dem Titel "Die Hard in Derna". Ein Vertreter der lokalen Stämme, Nouri al-Mansuri, stellte ihm gegenüber die dschihadistischen Aktivitäten aus der Region, auch den Kampf im Irak, als Opposition gegen Gaddafi dar, der seiner Ansicht nach mit den USA und Israel zusammenarbeite.

Er beschrieb die Rückkehr der Dschihadisten von den internationalen Schlachtfeldern als eine "bewusste und koordinierte Kampagne", um wahhabitische Auslegungen des Islam zu verbreiten und als Grundlage für den Kampf der LIFG gegen die Regierung. Aus seinen Gesprächen und Beobachtungen zog Chris Stevens den Schluss, dass die libysche Regierung ein manifestes Problem in der Region hat:

Das deutet stark darauf hin, dass die Behauptung von hochrangigen libyschen Beamten, wonach der Osten unter Kontrolle ist, übertrieben ist.

Am Ende sollte dieses Problem ihn selber das Leben kosten.