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"Die russischen Oligarchen wurden vom Westen bislang immer gehegt, gepflegt und gepampert"

Heiner Flassbeck 2012. Bild: United States Mission Geneva / CC-BY-2.0

Heiner Flassbeck über russische Oligarchen, das Scheitern von Demokratisierung und Aufbau im postsowjetischen Raum sowie die Verantwortung des Westens

Herr Flassbeck, in den vergangenen Wochen hat die Europäische Union mehrfach russische Oligarchen sanktioniert. Was ist ein Oligarch und gibt es eigentlich auch deutsche, französische oder US-Oligarchen?
Heiner Flassbeck: Oligarchen im eigentlichen Sinne vielleicht nicht, aber es gibt Monopolisten im Westen, die mindestens so problematisch wie die Oligarchen sind. Was mich doch sehr erstaunt: Warum hat man die Oligarchen 30 Jahre lang in Ruhe gelassen und im Westen sogar als Marktlösung gefeiert, und warum verfolgt man sie jetzt gerade? Ist die Tatsache, dass es sich um russische Bürger handelt, plötzlich schon hinreichend für eine Verfolgung?
Die Sanktionen hatten begrenztem Erfolg, wie Presserecherchen zeigen. Sie haben schon vor Wochen in einem Dreiteiler beschrieben, wie der Aufstieg der Oligarchen mit der westlichen Russland-Politik zusammenhängt, die im Kern nach dem Ende der UdSSR auf eine Marktliberalisierung hingewirkt hat. Kämpft Brüssel gegen das Resultat der eigenen, der westlichen Politik?
Heiner Flassbeck: Ja, der Westen ist im Kern verantwortlich für das, was in ganz Osteuropa seit dreißig Jahren geschehen ist. Da ist es mehr als verwunderlich, dass man 30 Jahre nach dem Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft jetzt eine "Systemrivalität" auch mit China ausruft. Das zeigt nur, dass die Verantwortlichen in Brüssel und Berlin überhaupt keinen Plan haben.
Sie sehen eine entscheidende Rolle im Modernisierungsprozess, der vom Westen forciert wurde.
Heiner Flassbeck: Der ganze Modernisierungsprozess, vorwiegend in Russland, war eine schlichte Katastrophe – angeleitet vom Westen, vom Internationalen Währungsfonds, das muss man immer bedenken. Dazu gehört ohne Zweifel der Privatisierungsprozess, der unter den Augen und unter der Aufsicht des Westens abgelaufen ist. Und jetzt, nach 30 Jahren, entdeckt man auf einmal, dass die Nutznießer dieses Prozesses vielleicht keine weiße Weste haben? Das ist schon eine lange Erkenntnis-Verzögerung.
Hinzu kommt, dass die russischen Oligarchen vom Westen bislang gehegt, gepflegt und gepampert wurden. Man hat ihnen all die schönen Produkte verkauft: die Luxusuhren, die Yachten und was weiß ich noch was. Und jetzt auf einmal sagen fast alle unisono: "Ach, das könnten ja Verbrecher sein." Der Westen macht sich mit seiner Doppelmoral im Moment weltweit unglaublich lächerlich.
Ist Wladimir Putin denn auch ein Oligarch oder hält er die Oligarchen in Schach?
Heiner Flassbeck: Das ist schwer zu beurteilen, aber es spricht mehr für letzteres als für ersteres. Er ist jedenfalls deswegen an die Macht gekommen, weil die Oligarchen und Herrn Jelzin unter Anleitung des Westens ein absolutes Chaos angerichtet hatten.
Es gab in den 90er-Jahren eine gewaltige Währungskrise, bei der in Russland unendlich viel Geld verloren wurde und die Spekulanten unendlich viel Geld gewonnen haben. Die westlichen Spekulanten, muss man wieder dazusagen, einschließlich der deutschen Banken.
Und, ja, danach ist Putin an die Macht gekommen und ich vermute, er hat ein Stillhalteabkommen mit den Oligarchen geschlossen, nach dem Motto: Ich tue Euch nichts, wenn ihr Euch aus der Politik raushaltet.

Die Macht und das Scheitern des Westens in Osteuropa

Die ehemalige Vizepräsidentin des Bundestags, Antje Vollmer, hat im Interview mit Telepolis geschildert [1], wie Deutschland nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Möglichkeit hatte, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit im ehemaligen Sowjetraum zu fördern.
Auf diesen Punkt gehen Sie ja auch in Ihren Dreiteiler ein, wenn Sie beschreiben, wie Sie damals in einigen dieser Staaten unterwegs waren und wen Sie beraten haben. Dann kam der IWF. Mit welchem Ergebnis?
Heiner Flassbeck: Immer mit dem gleichen Ergebnis. Alles wurde frei, alles wurde zum Markt. Es hieß: Macht Eure Märkte auf und lasst westliches Kapital hinein, dann geht es Euch gut, dann geht es Euch besser.
Aber das war von Anfang an fundamental falsch. Nur in Osteuropa hat das zunächst niemand begriffen. Und der IWF hatte damals alle Macht, weil diese Länder alle Dollar brauchten, um im Westen, einkaufen zu können und um ihre Infrastruktur aufzubauen.
Dadurch hatten die Europäer wie auch die US-Amerikaner über den Internationalen Währungsfonds eine ungeheure Macht. Als sich negative Entwicklung abgezeichnet haben, hat man – freundlich ausgedrückt –geschlafen. Wahrscheinlich aber hat man Russland schlichtweg ins Verderben reiten lassen. Damals in den Ländern des ehemaligen Sowjetraums wurde wirklich jeder Unsinn gemacht.
Haben Sie Beispiele?
Heiner Flassbeck: Das wichtigste ist wieder die Privatisierung mit ihren Folgen für die Demokratisierung. Denn es ist ja völlig klar: Wenn ich ein Land habe, in dem plötzlich Hunderte von Leuten Milliardäre werden, weil sie sich das Volkseigentum angeeignet haben, dann übernehmen die erst mal die Macht und die Politik ist abhängig von diesen Leuten.
In so einer Situation kann man überhaupt keine lupenreine Demokratie installieren, um mal einen Begriff von Gerhard Schröder zu benutzen, selbst wenn man es wollte. Man hat aber auch Ländern wie Kasachstan ein kapitalgedecktes Rentensystem aufschwatzen wollen, eine ungeheure Blödheit.
Im Kontext des wütenden Ukraine-Krieges spielt das kaum eine Rolle, stattdessen wird viel über die Nato-Osterweiterung diskutiert und die Frage, wer wem wann etwas zugesagt hat. Hängt die ökonomische Entwicklung mit dem militärischen Konflikt zusammen?
Heiner Flassbeck: Ja, das denke ich schon. Es gibt in Osteuropa – und das, glaube ich, kann man Herrn Putin fast vom Gesicht ablesen – eine unglaubliche Frustration über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Die Ukraine steht sehr schlecht da, aber um Russland steht es auch nicht viel besser.
Russland, und das hat Putin, glaube ich, wiederholt auch gesagt, ist zum Rohstofflieferanten degeneriert. Und das ist im Grunde das, was der Westen stets wollte: ein Rohstofflieferant, der technologisch nicht besonders weit aufholt und im Übrigen eine relativ schwache Regionalmacht bleibt, wie Herr Obama es einmal gesagt hat.
Das ist für Russland natürlich an sich eine Provokation gewesen, die zur Entfremdung vom Westen beigetragen hat. Im Zuge der politischen Auseinandersetzung und des Konfliktes über Grenzen und das Heranrücken der Nato hat er in zunehmender Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass da, wo der Westen militärisch vorgestoßen ist, hinterher immer Chaos die Folge war. In Libyen etwa, aber auch andernorts.
Und diese Gefahr ist auf einmal unmittelbar an die westrussische Grenze herangerückt, zunächst – wie gesagt – mit sehr negativen wirtschaftlichen Konsequenzen. Und die Ukraine ist ein katastrophales Fallbeispiel. In einem der Teile meines Artikels habe ich das beschrieben. Wenn die EU nun eine Aufnahme der Ukraine anbietet, dann kann man nur sagen: Um Gottes willen, wenn das passiert, wird alles noch viel schlimmer.

Kein automatisches Wachstum, weder in Entwicklungsländern noch in Osteuropa

Wir sind jetzt von Russland in die Ukraine gekommen. Wenn man sich, Herr Flassbeck, EU Berichte zur Ukraine ansieht, dann waren die stets voller mit Klagen über Korruption und Misswirtschaft, über Missbrauch von Fördergeldern und Budgethilfen.

Wieso, denken Sie, hält man in Brüssel weiterhin an der Gleichung fest, dass mehr freier Markt plus weniger Misswirtschaft eine goldene Zukunft für die Ukraine bedeutet.

Heiner Flassbeck: Das Problem dabei ist, dass die Grundprämisse schon nicht stimmt, die Annahme nämlich, dass "freier" internationaler Handel in irgendeiner Weise automatisch zur Integration und zum Aufholen von Ländern führt. Man unterstellt einfach, dass diese Länder über die globale Marktintegration automatisch ihre Nischen finden und es ihnen gut geht. Diese These ist einfach grundfalsch, sie wird schon seit 100 Jahren in den Entwicklungsländern widerlegt, und nun seit 30 Jahren in Osteuropa.
Und sie wird heute überall dort widerlegt, wo die EU Einfluss besitzt. Das gilt, auch dazu habe ich einen Beitrag verfasst, auch für andere Teile Osteuropas, die Mitglied der EU sind. Bulgarien etwa, das dieser Tage schon wieder von einer Regierungskrise erschüttert wird, ist das Land mit dem rasantesten Bevölkerungsrückgang, ich glaube, weltweit. Und das zeigt, dass die Leute da einfach vollkommen unzufrieden sind. Und in anderen osteuropäischen Ländern läuft es nicht besser.
Dahinter steht diese unsinnige ökonomische Theorie des Freihandels. Man setzt alles auf freie Kapital-, Güter- und Arbeitsmärkte – und dann wird alles gut. Das ist eben grundfalsch.
Welchen Platz hätte eine westorientierte Ukraine im europäischen Wirtschaftsgefüge und welchen Platz hätte Russland, wenn es seine Kriegsziele verfehlt?
Heiner Flassbeck: Na ja, das mit Russland ist eine komplizierte Frage. Wie man sich da weiter politisch verhält, will ich mal nicht versuchen zu prognostizieren. Vernünftig aber wäre, da wieder Öffnungen hinzubekommen, allerdings wohlüberlegt.
Aber die Ukraine und andere Länder sollte man eben nicht nur aufnehmen, wenn sie bestimmte formale Kriterien erfüllen. Denn was kommt danach? Dann lassen wir sie im Regen stehen, dann müssen sie eben selber zurechtkommen.
Es gibt neben Bulgarien eine ganze Reihe von Ländern, die eigentlich gescheitert sind, auch die baltischen Länder. Die sehen nur deswegen nicht so schlecht aus, weil sie enorme Abwanderung haben. Sie hätten sonst eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Das alles funktioniert nicht, aber wir machen konsequent die Augen zu, um es nicht sehen zu müssen.
Aber wir tun so, als könne man jetzt einfach noch mal fünf Länder aufnehmen und darauf hoffen, dass es denen dann plötzlich gut geht. Der europäische Binnenmarkt, ich habe es in einem der Teile geschrieben, ist eher eine Bedrohung als eine Wohltat für diese Länder – weil er selbst nicht funktioniert, unter anderem, weil Länder wie Deutschland und die Niederlande ihn mit ihren Leistungsbilanzüberschüssen 20 Jahren zerstören.
Was also muss besser gemacht werden? Die drei wichtigsten Punkte, Herr Flassbeck.
Heiner Flassbeck: Man braucht schon Austausch, aber auf gleicher Augenhöhe. Das heißt, es dürfen nicht einfach die Märkte geöffnet werden, vor allem nicht die Kapitalmärkte. Die Länder, über die wir nun gesprochen haben, müssen eine vorsichtige Integration erleben, eine gesteuerte Integration, die von einem vernünftigen Währungssystem getragen wird. Wir müssen bereit sein, deren Währungen zu unterstützen und stabil zu halten in den Grenzen, die von den Inflationsdifferenzen vorgegeben werden
Zugleich, und das wäre das Wichtigste, um überhaupt weiterzukommen, braucht es beim Einstieg in den großen europäischen Binnenmarkt eine Protektion für die heimischen Produzenten. Man braucht Industriepolitik und aktive Handelspolitik, um zu verhindern, dass die heimischen Produzenten alle pleitegehen und alles nur noch importiert wird.

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