Die soziale Krise sollte alle Alarmglocken läuten lassen

David Goeßmann

Armut im Alter - Weil die kleine Rente nicht reicht, müssen viele Rentner Flaschen sammeln, um sich was dazuzuverdienen. Bild: Andreas Trojak / CC BY 2.0

Die Bundesregierung versucht mit Heftpflastern, die Bürger:innen zu besänftigen. Doch die soziale Krise reicht viel tiefer. Sie droht außer Kontrolle zu geraten, wenn nicht vehement gegengesteuert wird.

Wenn die Bundestagspräsidentin von der SPD Bärbel Bas offen Kritik übt an den Entlastungspakten der Ampel-Koalition, die von ihrer eigenen Partei, den Sozialdemokraten, angeführt wird, dann ist das ein Anzeichen, dass fundamental etwas nicht stimmt.

Bas zufolge unternehme die Regierung zu wenig, "um gezielt den Schwächsten zu helfen". Sie zeigt sich alarmiert über die soziale Lage im Land.

Viele Menschen in Deutschland können schon lange nicht mehr spontan im Restaurant essen gehen oder im Kino einen Film gucken. Viele Ältere überlegen, ob sie sich das Stück Kuchen beim Bäcker leisten können, weil die Rente sonst nicht bis zum Monatsende reicht. Das empfinde ich als dramatisch.

Die Bundesregierung hatte sich vor einer Woche auf ein drittes Entlastungspaket geeinigt. Darin wurden Zahlungen an Rentner:innen und Studierende, die in den bisherigen Maßnahmenpaketen nicht berücksichtigt wurden, vereinbart. Zudem sieht das Paket eine Erhöhung des Kindergelds um 18 Euro pro Kind und einen Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger:innen vor.

Das Paket wurde insbesondere von Sozialverbänden scharf kritisiert. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Ulrich Schneider sagte:

Mit allem hätten wir gerechnet, aber nicht damit, dass gar nichts passiert mit Auszahlungen im Oktober … In diesem Herbst, wo wir mit diesen enormen Teuerungen rechnen müssen, finden die Armen keine Unterstützung. Das ist völlig absurd.

Schneider beklagte in der Frankfurter Rundschau, dass das Paket "nicht geeignet" sei, "in diesem Herbst den Menschen die Zuversicht zu geben, die sie angesichts des Preisschocks brauchen". Das dritte Paket korrigiere nur die Fehler der ersten beiden, indem nun auch Rentner:innen und Studierende einbezogen würden. Die 18 Euro mehr Kindergeld seien zudem viel zu wenig. Auch trete die Erhöhung erst Anfang nächsten Jahres in Kraft.

Die soziale Schieflage könnte sich über die nächsten Monate verschärfen. Die Reallöhne sind in diesem Jahr deutlich gesunken und bisher ist keine Kehrwende in Sicht. Vor allem die unteren und mittleren Schichten leiden unter der schrumpfenden Kaufkraft.

Da viele Haushalte durch eine bereits seit Jahrzehnten stagnierende bis sinkende Kaufkraft Einbußen in der Lebensqualität und gesellschaftlicher Teilhabe hinnehmen mussten – verstärkt in den letzten Jahren durch die Folgen der Pandemie und Mietexplosionen in vielen Städten –, wirkt die fossile Energie- und Teuerungskrise im Moment wie ein Brandbeschleuniger.

Vor diesem Hintergrund irritiert die politische Antwort der Ampel-Koalition auf die drohenden sozialen Belastungen, um es moderat auszudrücken. Bei der Gasumlage, an der Energiekonzerne mitgefeilt haben sollen, werden erneut Unternehmen mit Steuergeld vor einer Notlage geschützt, selbst wenn sie gar nicht von einer Insolvenz bedroht sind. Soweit zu den Spielregeln von freier Marktwirtschaft und Kapitalismus.

Gleichzeitig wurde insbesondere von der FDP blockiert, die Rekord-Profite von Unternehmen im Zuge steigender Preise für Gas und Öl für die Krisenbewältigung abzuschöpfen, wie u.a. vom grünen Koalitionspartner verlangt. Im August legte Finanzminister Christian Lindner (FDP) dem gegenüber einen Plan für eine Steuerreform vor, der bei der SPD-Führung und bei Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf grundsätzliche Zustimmung stieß. Die "Wirtschaftsweise" Veronika Grimm kommentierte:

Eine Reform, bei der nominal die Besserverdienenden mehr gewinnen, kommt einfach zum falschen Zeitpunkt.

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher nannte die Pläne als "sehr unausgewogen".

70 Prozent davon kommen den 30 Prozent mit den höchsten Einkommen zugute. … Menschen mit geringen Einkommen, die keine oder wenig Einkommensteuer zahlen, bekommen praktisch gar nichts davon.

Naheliegende Vorschläge zur Krisenlösung werden übergangen

Das Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nah- und Fernverkehr ist seit September dagegen ausgelaufen, das vor allem denen zugutegekommen ist, die über weniger Einkommen verfügen und auf Busse und Bahnen angewiesen sind. Die finanzielle Erleichterung für sie hatte Finanzminister Lindner abfällig mit "Gratismentalität" in Verbindung gebracht.

Die soziale Krise, die Deutschland und anderen europäischen Ländern droht, ist keineswegs unausweichlich, während die Härten vor allem für die, die sich am Rand der Gesellschaft befinden, getragen werden müssen, die kaum über Spielräume verfügen. Denn wie Ines Schwerdtner auf Jacobin in Deutschland richtig feststellt:

Der kalte Wind, der uns im kommenden Herbst ins Gesicht wehen wird, ist kein unausweichliches Resultat höherer Umstände wie Krieg und Ressourcenmangel. Er ist Ergebnis der systematischen Privilegierung der Interessen der Oberen auf unsere Kosten. Banken und Unternehmen werden gerettet, wo immer es nötig ist, doch statt im Gegenzug ihre Gewinne und Dividenden anzutasten, wird die Rechnung an die Menschen weitergereicht, an alle, die die Konzerne reich machen, indem sie zur Arbeit gehen, ganz gleich, wie die pandemische und geopolitische Lage gerade ist.

Natürlich könnten Profite, Luxusartikel, große Erbschaften und Vermögen ernsthaft besteuert oder Steuersümpfe trocken gelegt werden. Es mangelt nicht an Geld, um soziale Programme aufzulegen. Deutschland schwimmt förmlich in Reichtümern, die in den letzten Jahrzehnten angehäuft worden sind.

Aber im politischen Normalbetrieb, ganz unabhängig von den gerade regierenden Parteienkonstellationen, scheint es unmöglich, die Mittel für den sozialen Ausgleich zu verwenden – selbst in einer schweren Krise wie jetzt. Das ist nicht neu. Die soziale Unfähigkeit der Politik konnte man schon in der Finanz- und Bankenkrise oder der Pandemie beobachten.

Selbst naheliegende Vorschläge, die die Lage entschärfen könnten, werden nicht diskutiert. Schuldenaufnahme, um soziale Programme aufzulegen, was auch der Wirtschaft über den Winter helfen würde: Finanzminister Lindner ist strikt dagegen. Viele Mieten steigen in der gegenwärtigen Krise, da Indexmietverträge vor allem in den Städten an die Inflation gebunden sind. Forderungen, diese automatisierten Mietsteigerungen im "Winter der Verzweiflung" einzufrieren bzw. Indexmietverträge gänzlich zu unterbinden, tropfen an der Bundesregierung ab.

Die Partei Die Linke forderte bei ihrer Klausurtagung am Wochenende zudem, Energiekonzerne, die ohne die starken Interventionen des Staates auf den Märkten nicht überleben könnten, zu enteignen und damit unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Der Markt regele bei der öffentlichen Daseinsvorsorge "einfach gar nichts", sagt Co-Chef Martin Schirdewan. All das verhallt nicht nur im politischen, sondern auch medialen Nirwana.

Die soziale Schieflage wie die Unfähigkeit der Politik, darauf angemessen zu reagieren, während Heftpflaster für viele Bürger:innen verteilt werden – wobei jene mit viel Lobbymacht gerettet und ihre Reichtümer nicht angetastet werden, um die sozialen Härten zu mildern –, speisen eine Fruststimmung in ganz Europa.

In Großbritannien gehen die seit einiger Zeit andauernden Arbeiter:innen-Streiks nun in eine breitere gesellschaftliche Protest-Kampagne über. Ihr Slogan lautet: "Enough is Enough" ("Genug ist Genug"). Auch in Deutschland wird ein "heißer Herbst" erwartet. Am Sonntag hat sich in Erfurt ein Protestzug formiert unter dem Motto: "Nicht mit uns! – Wir frieren nicht für Profite!". Organisiert wurden die Proteste vom Deutschen Gewerkschaftsbund zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt und Klimaschützer:innen Fridays for Future.

Die Bundesregierung wäre gut beraten, sich nicht dem Glauben hinzugeben, dass die Proteste ein Randphänomen bleiben und mit weiteren Minipaketen besänftigt werden können. Die soziale Krise in Deutschland reicht deutlich tiefer, als dass sie mit 300 Euro brutto Energiepauschale aus der Welt geschaffen werden kann.