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Die totale Entzauberung des Fußballs

Bild: Pixabay

WM in Katar: Auch die Einschalt-Quoten sind eingebrochen. Das Desaster hat Gründe, sie reichen bis zu Eintracht Jägermeister zurück. Ein Kommentar.

Wir sind nichts weiter als Geschäftsleute, die sich zum Training und zum Spiel treffen.

Gerd Müller

"Ich habe heute sehr starke Gefühle, ich fühle mich als Katarer, als Araber, als Afrikaner, als Schwuler, als Behinderter, als Wanderarbeiter", sagte Fifa-Boss Gianni Infantino in seiner vor Pathos triefenden und mit einem Coach einstudierten Rede zum Auftakt der WM in Katar.

Wichtige Teilpersonen vergaß er zu erwähnen: Mafia-Boss, Heuchler, Lügner, Autokrat. Vor allem wies er die teilnehmenden Nationen an, sich mit der Kritik am Gastgeberland zurückzuhalten und sich auf den Fußball zu konzentrieren.

Dann ließ er die sogenannte One-Love-Binde verbieten und drohte bei Zuwiderhandeln mit Sanktionen. Diese Binde, von den Mannschaftskapitänen am Arm getragen, sollte ein an Harmlosigkeit kaum zu überbietendes, beinahe unsichtbares Zeichen für Vielfalt und Toleranz sein.

Statt mit den anderen betroffenen europäischen Verbänden in den verspäteten Widerstand zu gehen und mit Boykott zu drohen, knickte der DFB prompt ein und erklärte den Verzicht auf das Tragen dieser Binde. Soviel zur Standfestigkeit des Deutschen Fußballbundes.

Wie der große Fußball insgesamt hat auch er seine Seele an den Kommerz verhökert und steckt bis zum Hals im Sumpf der Korruption. Wer gehofft hatte, mit der Präsidentschaft von Bernd Neuendorf - dem mit der notorisch hochgeschobenen und deswegen peinlichen Brille - bräche eine neue Ära an, sieht sich enttäuscht. Wenn es drauf ankommt, hält auch er den Mund und kneift.

Dem Profi-Fußball ist nicht mehr zu helfen. Den Autor hat diese Farce in seinem Entschluss bestärkt, diese WM weitestgehend zu ignorieren. Scheinbar üben sich viele Deutsche in WM-Abstinenz: Die Einschaltquote beim ersten deutschen WM-Spiel war erfreulich niedrig. Die Medien sprechen von einem regelrechten Quoten-Desaster.

Laut Süddeutscher Zeitung (WM-Quoten dramatisch eingebrochen [1]) sahen das Spiel gegen Japan nur 9,23 Millionen Zuschauer, während bei der letzten WM im Schnitt 25 Millionen bei den Gruppenspielen der deutschen Mannschaft per TV dabei waren. Und die waren sportlich ja bekanntlich auch nicht gerade prickelnd.

Eintracht Jägermeister

Die Entzauberung des Fußballs reicht beim Autor dieser Zeilen weiter zurück. Sie setzte ein, als Eintracht Braunschweig mit dem Firmenlogo von Jägermeister auflief, das Frankfurter Waldstadion in "Commerzbank-Arena" umbenannt wurde und immer mehr Gäste im Aktuellen Sportstudio als lebende Litfaßsäulen und mit Firmenlogos auf ihren Klamotten auftauchten.

Der wunderbare Fußball hat wie der arme Kohlenbrenner Peter Munk im Hauff-Märchen Das kalte Herz seine warme, pochende Seele an den Holländer-Michel als Inbegriff des neuen kapitalistischen Un-Geistes verkauft. Inzwischen glaube ich, er kann sie diesem auch nicht mehr vindizieren.

Der Profifußball ist dem Kapital nicht mehr bloß formell subsumiert, sondern reell, was so viel heißt, dass er inzwischen nach Form und Inhalt irreversibel kapitalistisch verfasst ist. Das heißt, wir müssen ihn neu erfinden und von unten neu aufbauen. Oliver Bierhoff sagte nach der Kapitulation vor der Fifa ohne jedes Gefühl für Peinlichkeit: "Die Binde kann man uns nehmen, die Werte, für die wir stehen, nicht."

Ausgerechnet Bierhoff, der wie kaum ein anderer für die Durchökonomisierung des deutschen Fußballs steht, redet von Werten - und beschwört die alte deutsche Tugend, sich in Ketten frei zu fühlen. Wie der DFB eiert auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen herum.

Da werden auf der einen Seite en masse kritische Berichte und Reportagen über das Gastgeberland gebracht, andererseits horrende Summen für die Übertragungsrechte ausgegeben und peinliche Werbeclips für die WM ausgestrahlt. Und vor allem natürlich werden die Spiele übertragen.

Dann wieder herrscht große Aufregung über die lächerliche Kapitänsbinde und Boykott-Aufrufe werden erwogen und mit den sogenannten Experten stundenlang diskutiert. Auch das Fernsehen ist weit entfernt von einer entschiedenen und vor allem konsistenten Haltung.

Wie wir den Fußball entdeckten

Während ich diese Zeilen schreibe, kreist vor meinem Fenster ein Taubenschwarm. Die Unterseite der Flügel leuchtet hell in der Sonne. Die Tauben machen das nicht, weil sie einen Werbevertrag mit Karstadt oder Mercedes abgeschlossen haben, sondern aus purer Lebenslust, aus Freude am Fliegen.

Genau aus diesem Grund haben wir als Kinder und Jugendliche gekickt. Wenn wir unsere Schularbeiten erledigt hatten, gingen wir raus und spielten Fußball, bis die Mütter uns abends nach Hause riefen. Niemand hatte etwas zu trinken dabei, weswegen mich mein erster Gang nach der Heimkehr zum Wasserhahn im Garten führte, wo ich meinen Durst stillte.

Unsere Tore waren aus Latten selbst zusammengezimmert, Netze gab es nicht. Wer einen Lederball besaß, genoss eine Sonderstellung und durfte sich aussuchen, mit wem er zusammenspielen wollte. Die Wahl der Mannschaften barg stets ein hohes Kränkungspotenzial. Wer stand am Schluss noch da und wurde schließlich einer Mannschaft zugewiesen, die ihn nehmen und irgendwo hinstellen musste?

Ich erinnere mich, dass wir manchmal, wenn nicht genug Jungs da waren, sogar Mädchen mitspielen ließen. Aber das blieb eine Ausnahme und war eigentlich unter unserer Würde. Die Mädchen akzeptierten diesen Ausschluss wie ein Naturgesetz, standen am Spielfeldrand herum und langweilten sich. Die Bälle hatten noch eine Blase, die immer wieder geflickt werden musste.

Wenn es geregnet hatte, wurden die Bälle glitschig und schwer wie eine Kanonenkugel. Einmal in der Woche wurden die Bälle mit Lederfett eingeschmiert. Wenn eine Naht aufgegangen war, setzte sich einer von uns hin und reparierte den Ball unter Zuhilfenahme einer Ahle und einer Ledernadel. Es sei denn, ein Erwachsener erbarmte sich und sprang hilfreich ein. Kaum einer von uns trug Fußballschuhe, bei den meisten mussten es Turnschuhe aus blauem Leinen und weißer Plastikkappe tun.

Bei der dritten Ecke gab es einen Elfer, und wer ins Tor musste, wurde ausgelost. Unsere frühen Idole waren Uwe Seeler, Helmut Haller und Karl-Heinz Schnellinger. In der Schule kickten wir auf dem Schulhof mit kleinen "Bällen", die aus zerknülltem Papier bestanden, das mit Tesafilm umwickelt wurde, und die natürlich nicht lange hielten. Manche brachten es im Spiel mit diesen kleinen Bällen zu einer ganz besonderen Meisterschaft.

Der Hausmeister machte Jagd auf unsere "Bälle", denn das Spielen auf dem Schulhof war natürlich strengstens untersagt. Wie Kinder manchmal eigenartige Namen für alltägliche Gegenstände hervorbringen, so erfand auch einer von uns den Namen für diese Pseudobälle: Asswe. Irgendeiner kam in die Pause und verkündete: "Ich hab ne neue Asswe gebastelt." Und los ging‘s.

Meine erste WM

Im Sommer 1966 fuhren wir mit den Christlichen Pfadfindern nach Südfrankreich und zelteten an einem Bachlauf hoch oben in den Cevennen. Ich war fünfzehn Jahre alt und zum ersten Mal länger weg vom Elternhaus. Bei der WM in England schlug sich die deutsche Mannschaft famos.

Sie näherte sich damals dem Höhepunkt ihres Könnens, den sie bei der Europameisterschaft 1972 erreichte. Einer unserer Stammeshäuptlinge war mit dem Auto gekommen, fuhr alle paar Tage in die nächste Kleinstadt und brachte außer Lebensmitteln auch Zeitungen mit.

Aus diesen erfuhren wir, dass Deutschland nach einem deutlichen Sieg im Viertelfinale über die wegen ihrer Härte gefürchteten "Urus"und einen knappen Sieg im Halbfinale über die Sowjetunion durch Tore von Haller und Beckenbauer im Finale gegen England stand.

Wir gerieten in ein WM-Fieber und spielten die Partien auf einem stark abschüssigen und holprigen Platz nach. Alle paar Minuten landete der Ball im Bach und außerdem stand das Gras viel zu hoch, was aber unserem Eifer und unserer Freude keinen Abbruch hat. Wir teilten uns den Platz mit Pfadfindern aus Frankreich, gegen die wir bei jeder Gelegenheit "Länderspiele" austrugen.

Der Pfarrer einer kleinen evangelischen Diasporagemeinde lud uns ein, das Endspiel im Gemeindehaus des Dorfes im französischen Fernsehen zu schauen. Am Tag des Spieles brachen wir frühmorgens auf und wanderten durch große Hitze in den rund zwanzig Kilometer entfernten Ort. Gerade noch rechtzeitig zum Anpfiff langten wir im Pfarrhaus an.

Ich weiß noch, dass es zur Begrüßung eine köstliche selbstgemachte Limonade und eine Steige Joghurt gab. Zum Spielverlauf muss ich nichts sagen, der ist legendär. Es gab natürlich auch unter uns im Anschluss heftige Debatten über das berühmte dritte Tor. Auf dem relativ kleinen Schwarzweiß-Fernseher, um den wir uns gruppiert hatten, war nicht viel zu erkennen gewesen. Uwe Seeler, der unser Held war, hatte gezeigt, wie man mit so einer Niederlage umgeht.

Nachdem er zunächst mit hängenden Schultern und sichtlich enttäuscht vom Platz gegangen war, fasste er sich schnell wieder und verbeugte sich höflich, als er bei der Siegerehrung der Queen die Hand gab.

Da das Spiel in die Verlängerung gegangen war, nachdem Wolfgang Weber in letzter Minute den Ausgleich zum 2:2 erzielt hatte, war es für den Heimweg zu spät und wir durften die Nacht in einer zur Kirche gehörenden Scheune im Stroh verbringen. Wir waren aber von der weiten Wanderung und dem Spiel so aufgekratzt, dass wir lang keinen Schlaf fanden.

Die schweigenden Millionäre

Am Mittwochabend sah ich in der Tagesschau die Bilder vom heldenhaften Auftritt der deutschen Nationalmannschaft vor dem Spiel gegen Japan. Ich sah die Szene und hatte unmittelbar ein unabweisbares Gefühl von Peinlichkeit und Lächerlichkeit. Woher rührte dieses Empfinden?

Weil Millionäre so taten, als würde ihnen jemand der Mund verbieten. Dabei recken sich jedem, der das Hotel verlässt, zahllose Mikrophone entgegen, in der er hineinreden kann, was er will. Ganz anders als ihre iranischen Kollegen, die mit ihrem Schweigen beim Abspielen der Nationalhymne wirklich etwas riskierten, riskiert ein deutscher Spieler gar nichts.

Er kann sich gegen das Impfen äußern oder gegen das Mullah-Regime oder gegen die Diskriminierung von Schwulen, es geschieht ihm nichts. Außer möglicherweise Einbußen fürs Portemonnaie, aber wahrscheinlich nicht einmal das. Charakter haben heißt, über moralische Grundsätze zu verfügen, gepaart mit der Entschlossenheit und dem Mut, für diese auch dann einzutreten, wenn man auf Gegenwind und Widerstand stößt .

Das nannte man früher wohl "eine Haltung haben". Das heißt, die deutschen Spieler hätten bereit sein müssen, die Konsequenzen ihres Eintretens für Vielfalt und Menschenrechte auf sich zu nehmen.

Ihr Verhalten lässt nur den Schluss zu, dass es ihnen damit nicht wirklich ernst ist und dass ihnen der eigene Marktwert und Kontostand letztlich doch wichtiger sind. Kurzum: Es war und ist eine Farce. Dass sie dann auch noch gegen den krassen Außenseiter Japan verloren, verdoppelte die Lächerlichkeit noch einmal.

Wenn sie aus Protest gegen das Verhalten der Fifa nach Hause gefahren wären, wäre ihnen diese Blamage erspart geblieben. So werden sie nach der Niederlage am Sonntag gegen Spanien zum zweiten Mal hintereinander nach der Vorrunde ausscheiden und vollends blamiert nach Hause zurückkehren.

Ein Sieg gegen Spanien würde an ein Wunder grenzen. Aber Wunder gibt es im Fußball immer wieder mal. Dafür, dass sie sich ereignen, muss man allerdings bereit sein und auch etwas tun. Bei der 1966-er Weltmeisterschaft hatte Deutschland sein Gruppenspiel gegen Spanien übrigens mit 2:1 gewonnen. Aber das ist lange her.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint regelmäßig bei der GEW Ansbach [2].


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[2] https://www.gew-ansbach.de/tag/goetz-eisenberg/