Die totale Entzauberung des Fußballs

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WM in Katar: Auch die Einschalt-Quoten sind eingebrochen. Das Desaster hat Gründe, sie reichen bis zu Eintracht Jägermeister zurück. Ein Kommentar.

Wir sind nichts weiter als Geschäftsleute, die sich zum Training und zum Spiel treffen.

Gerd Müller

"Ich habe heute sehr starke Gefühle, ich fühle mich als Katarer, als Araber, als Afrikaner, als Schwuler, als Behinderter, als Wanderarbeiter", sagte Fifa-Boss Gianni Infantino in seiner vor Pathos triefenden und mit einem Coach einstudierten Rede zum Auftakt der WM in Katar.

Wichtige Teilpersonen vergaß er zu erwähnen: Mafia-Boss, Heuchler, Lügner, Autokrat. Vor allem wies er die teilnehmenden Nationen an, sich mit der Kritik am Gastgeberland zurückzuhalten und sich auf den Fußball zu konzentrieren.

Dann ließ er die sogenannte One-Love-Binde verbieten und drohte bei Zuwiderhandeln mit Sanktionen. Diese Binde, von den Mannschaftskapitänen am Arm getragen, sollte ein an Harmlosigkeit kaum zu überbietendes, beinahe unsichtbares Zeichen für Vielfalt und Toleranz sein.

Statt mit den anderen betroffenen europäischen Verbänden in den verspäteten Widerstand zu gehen und mit Boykott zu drohen, knickte der DFB prompt ein und erklärte den Verzicht auf das Tragen dieser Binde. Soviel zur Standfestigkeit des Deutschen Fußballbundes.

Wie der große Fußball insgesamt hat auch er seine Seele an den Kommerz verhökert und steckt bis zum Hals im Sumpf der Korruption. Wer gehofft hatte, mit der Präsidentschaft von Bernd Neuendorf - dem mit der notorisch hochgeschobenen und deswegen peinlichen Brille - bräche eine neue Ära an, sieht sich enttäuscht. Wenn es drauf ankommt, hält auch er den Mund und kneift.

Dem Profi-Fußball ist nicht mehr zu helfen. Den Autor hat diese Farce in seinem Entschluss bestärkt, diese WM weitestgehend zu ignorieren. Scheinbar üben sich viele Deutsche in WM-Abstinenz: Die Einschaltquote beim ersten deutschen WM-Spiel war erfreulich niedrig. Die Medien sprechen von einem regelrechten Quoten-Desaster.

Laut Süddeutscher Zeitung (WM-Quoten dramatisch eingebrochen) sahen das Spiel gegen Japan nur 9,23 Millionen Zuschauer, während bei der letzten WM im Schnitt 25 Millionen bei den Gruppenspielen der deutschen Mannschaft per TV dabei waren. Und die waren sportlich ja bekanntlich auch nicht gerade prickelnd.

Eintracht Jägermeister

Die Entzauberung des Fußballs reicht beim Autor dieser Zeilen weiter zurück. Sie setzte ein, als Eintracht Braunschweig mit dem Firmenlogo von Jägermeister auflief, das Frankfurter Waldstadion in "Commerzbank-Arena" umbenannt wurde und immer mehr Gäste im Aktuellen Sportstudio als lebende Litfaßsäulen und mit Firmenlogos auf ihren Klamotten auftauchten.

Der wunderbare Fußball hat wie der arme Kohlenbrenner Peter Munk im Hauff-Märchen Das kalte Herz seine warme, pochende Seele an den Holländer-Michel als Inbegriff des neuen kapitalistischen Un-Geistes verkauft. Inzwischen glaube ich, er kann sie diesem auch nicht mehr vindizieren.

Der Profifußball ist dem Kapital nicht mehr bloß formell subsumiert, sondern reell, was so viel heißt, dass er inzwischen nach Form und Inhalt irreversibel kapitalistisch verfasst ist. Das heißt, wir müssen ihn neu erfinden und von unten neu aufbauen. Oliver Bierhoff sagte nach der Kapitulation vor der Fifa ohne jedes Gefühl für Peinlichkeit: "Die Binde kann man uns nehmen, die Werte, für die wir stehen, nicht."

Ausgerechnet Bierhoff, der wie kaum ein anderer für die Durchökonomisierung des deutschen Fußballs steht, redet von Werten - und beschwört die alte deutsche Tugend, sich in Ketten frei zu fühlen. Wie der DFB eiert auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen herum.

Da werden auf der einen Seite en masse kritische Berichte und Reportagen über das Gastgeberland gebracht, andererseits horrende Summen für die Übertragungsrechte ausgegeben und peinliche Werbeclips für die WM ausgestrahlt. Und vor allem natürlich werden die Spiele übertragen.

Dann wieder herrscht große Aufregung über die lächerliche Kapitänsbinde und Boykott-Aufrufe werden erwogen und mit den sogenannten Experten stundenlang diskutiert. Auch das Fernsehen ist weit entfernt von einer entschiedenen und vor allem konsistenten Haltung.