Die totale Entzauberung des Fußballs
Seite 2: Wie wir den Fußball entdeckten
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Während ich diese Zeilen schreibe, kreist vor meinem Fenster ein Taubenschwarm. Die Unterseite der Flügel leuchtet hell in der Sonne. Die Tauben machen das nicht, weil sie einen Werbevertrag mit Karstadt oder Mercedes abgeschlossen haben, sondern aus purer Lebenslust, aus Freude am Fliegen.
Genau aus diesem Grund haben wir als Kinder und Jugendliche gekickt. Wenn wir unsere Schularbeiten erledigt hatten, gingen wir raus und spielten Fußball, bis die Mütter uns abends nach Hause riefen. Niemand hatte etwas zu trinken dabei, weswegen mich mein erster Gang nach der Heimkehr zum Wasserhahn im Garten führte, wo ich meinen Durst stillte.
Unsere Tore waren aus Latten selbst zusammengezimmert, Netze gab es nicht. Wer einen Lederball besaß, genoss eine Sonderstellung und durfte sich aussuchen, mit wem er zusammenspielen wollte. Die Wahl der Mannschaften barg stets ein hohes Kränkungspotenzial. Wer stand am Schluss noch da und wurde schließlich einer Mannschaft zugewiesen, die ihn nehmen und irgendwo hinstellen musste?
Ich erinnere mich, dass wir manchmal, wenn nicht genug Jungs da waren, sogar Mädchen mitspielen ließen. Aber das blieb eine Ausnahme und war eigentlich unter unserer Würde. Die Mädchen akzeptierten diesen Ausschluss wie ein Naturgesetz, standen am Spielfeldrand herum und langweilten sich. Die Bälle hatten noch eine Blase, die immer wieder geflickt werden musste.
Wenn es geregnet hatte, wurden die Bälle glitschig und schwer wie eine Kanonenkugel. Einmal in der Woche wurden die Bälle mit Lederfett eingeschmiert. Wenn eine Naht aufgegangen war, setzte sich einer von uns hin und reparierte den Ball unter Zuhilfenahme einer Ahle und einer Ledernadel. Es sei denn, ein Erwachsener erbarmte sich und sprang hilfreich ein. Kaum einer von uns trug Fußballschuhe, bei den meisten mussten es Turnschuhe aus blauem Leinen und weißer Plastikkappe tun.
Bei der dritten Ecke gab es einen Elfer, und wer ins Tor musste, wurde ausgelost. Unsere frühen Idole waren Uwe Seeler, Helmut Haller und Karl-Heinz Schnellinger. In der Schule kickten wir auf dem Schulhof mit kleinen "Bällen", die aus zerknülltem Papier bestanden, das mit Tesafilm umwickelt wurde, und die natürlich nicht lange hielten. Manche brachten es im Spiel mit diesen kleinen Bällen zu einer ganz besonderen Meisterschaft.
Der Hausmeister machte Jagd auf unsere "Bälle", denn das Spielen auf dem Schulhof war natürlich strengstens untersagt. Wie Kinder manchmal eigenartige Namen für alltägliche Gegenstände hervorbringen, so erfand auch einer von uns den Namen für diese Pseudobälle: Asswe. Irgendeiner kam in die Pause und verkündete: "Ich hab ne neue Asswe gebastelt." Und los ging‘s.
Meine erste WM
Im Sommer 1966 fuhren wir mit den Christlichen Pfadfindern nach Südfrankreich und zelteten an einem Bachlauf hoch oben in den Cevennen. Ich war fünfzehn Jahre alt und zum ersten Mal länger weg vom Elternhaus. Bei der WM in England schlug sich die deutsche Mannschaft famos.
Sie näherte sich damals dem Höhepunkt ihres Könnens, den sie bei der Europameisterschaft 1972 erreichte. Einer unserer Stammeshäuptlinge war mit dem Auto gekommen, fuhr alle paar Tage in die nächste Kleinstadt und brachte außer Lebensmitteln auch Zeitungen mit.
Aus diesen erfuhren wir, dass Deutschland nach einem deutlichen Sieg im Viertelfinale über die wegen ihrer Härte gefürchteten "Urus"und einen knappen Sieg im Halbfinale über die Sowjetunion durch Tore von Haller und Beckenbauer im Finale gegen England stand.
Wir gerieten in ein WM-Fieber und spielten die Partien auf einem stark abschüssigen und holprigen Platz nach. Alle paar Minuten landete der Ball im Bach und außerdem stand das Gras viel zu hoch, was aber unserem Eifer und unserer Freude keinen Abbruch hat. Wir teilten uns den Platz mit Pfadfindern aus Frankreich, gegen die wir bei jeder Gelegenheit "Länderspiele" austrugen.
Der Pfarrer einer kleinen evangelischen Diasporagemeinde lud uns ein, das Endspiel im Gemeindehaus des Dorfes im französischen Fernsehen zu schauen. Am Tag des Spieles brachen wir frühmorgens auf und wanderten durch große Hitze in den rund zwanzig Kilometer entfernten Ort. Gerade noch rechtzeitig zum Anpfiff langten wir im Pfarrhaus an.
Ich weiß noch, dass es zur Begrüßung eine köstliche selbstgemachte Limonade und eine Steige Joghurt gab. Zum Spielverlauf muss ich nichts sagen, der ist legendär. Es gab natürlich auch unter uns im Anschluss heftige Debatten über das berühmte dritte Tor. Auf dem relativ kleinen Schwarzweiß-Fernseher, um den wir uns gruppiert hatten, war nicht viel zu erkennen gewesen. Uwe Seeler, der unser Held war, hatte gezeigt, wie man mit so einer Niederlage umgeht.
Nachdem er zunächst mit hängenden Schultern und sichtlich enttäuscht vom Platz gegangen war, fasste er sich schnell wieder und verbeugte sich höflich, als er bei der Siegerehrung der Queen die Hand gab.
Da das Spiel in die Verlängerung gegangen war, nachdem Wolfgang Weber in letzter Minute den Ausgleich zum 2:2 erzielt hatte, war es für den Heimweg zu spät und wir durften die Nacht in einer zur Kirche gehörenden Scheune im Stroh verbringen. Wir waren aber von der weiten Wanderung und dem Spiel so aufgekratzt, dass wir lang keinen Schlaf fanden.