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Die unsichtbare Krise: Wie Deutschland seine Lebensmittel verliert

Deutschland steht vor einer unsichtbaren Krise: der schleichenden Verlagerung seiner Lebensmittelproduktion ins Ausland. Was bedeutet das für unsere Versorgung?

Während die deutschen Bauern davor warnen, dass sie ohne staatliche Subventionen die Lebensmittelversorgung in Deutschland nicht mehr sichern könnten und dabei unterschlagen, dass sie nur noch den sinkenden Schweinefleischkonsum bedienen können, werden immer mehr Lebensmittel importiert. 70 Prozent des deutschen Gemüse- und 80 Prozent des deutschen Obstkonsums wird nicht aus heimischer Produktion beliefert.

Von Südeuropa bis Asien: Neue Quellen der Lebensmittelversorgung

Neben Südeuropa wird Afrika und Asien für die Lebensmittelversorgung Deutschlands immer wichtiger. Die Rückverfolgbarkeit [1] wird dabei immer schwerer.

Nachdem zuerst nur die landwirtschaftliche Produktion ausgelagert wurde, wandert inzwischen auch die Weiterverarbeitung ins Ausland ab.

Theo Müller verlagert Firmensitz und Produktion gerne ins Ausland

Die Feinkostsalate der Marke Homann, die traditionell in Dissen produziert wurden, kommen, nachdem die Luxemburger Unternehmensgruppe Theo Müller [2] (UTM [3]), die Marke für den Bereich der Feinkostsalate abgegeben und das Werk geschlossen hat, in optisch gleicher Ausstattung jetzt aus einem Werk von Signature Foods in Losser [4] in den Niederlanden.

Signature Foods [5] gehört seit Ende 2020 zum britischen Finanzinvestor Pamplona Capital Management [6].

Landliebe und Tuffi: Verkäufe und Schließungen

Nachdem der niederländische Milchkonzern Royal FrieslandCampina sein deutsches Endkundengeschäft [7] unter Auflagen des deutschen Kartellamtes [8] mit den Marken "Landliebe" und "Tuffi" verkauft [9] hat, wurde die Marke "Tuffi" Teil der Molkerei Hochwald Foods GmbH [10], zu welcher schon die früheren Nestlé-Töchter Bärenmarke und Glücksklee gehören.

Nicht von diesem Verkauf betroffen war die der Milchhof Köln, in welchem Tuffi produziert wurde [11].

Auch die beiden Landliebe-Standorte [12] in Heilbronn und Schefflenz werden bis 2026 sukzessive schließen. Da Landliebe Heilbronn erst im Juni vergangenen Jahres ins Handelsregister eingetragen wurde, können die Arbeitnehmer nach dem Betriebsverfassungsgesetz noch keine Sozialplan-Leistungen erzwingen [13].

Die Landliebe Frischmilch wird inzwischen von der Schwarzwaldmilch [14] in Freiburg in Lizenz produziert.

Müller-Fischbereich nach Polen verlagert

Ende Juli 2019 wurde das durch die Übernahme von Rügen Feinkost zu Homann gelangte Fischfeinkost-Werk in Sassnitz [15] wegen ungenügender Erweiterungsmöglichkeiten geschlossen, die Produktion nach Poznań verlagert, auch das Werk im thüringischen Floh-Seligenthal [16] wurde 2019 geschlossen. Auch die Werke von Weser Feinkost und Nordfish wurden nach der Übernahme umgehend geschlossen.

Das Lisner-Werk [17] im polnischen Poznań wurde inzwischen in die Homann Feinkost-Gruppe, die ihren Sitz in Bad Essen hat, wo die übernommene Marke Hamker ihren Ursprung hat, umgegliedert [18]. 2016 wurde ein weiteres Fischverarbeitungswerk in Charzyno [19] übernommen, das unter dem Namen Nordfish - Foodmark [20] geführt wird.

2023 wurde bekannt, dass die UTM-Tochter Lisner Teile der polnischen Graal-Gruppe [21] übernehmen will.

Die Kostenspirale: Warum die Lebensmittelindustrie Deutschland verlässt

Das Beispiel der Müller Milch-Gruppe ist derzeit vielleicht das bekannteste, aber mitnichten ein Einzelfall [22]. Andere Länder bieten deutlich niedrigere Löhne und Polen in seinen Sonderwirtschaftszonen auch eine signifikant niedrigere Steuerbelastung.

Auch der zum Einflussbereich der Familie Jakobs zählende Züricher Schokoladen-Konzern Barry Callebaut [23], dessen Produkte ein Viertel des Weltmarkts abdecken, will seine Fabrik in Norderstedt schließen.

Kinderarbeit und Kakaoproduktion: Ein ungelöstes Problem

Auch wenn die EU-Lieferketten-Richtlinie am deutschen Widerstand gescheitert ist, haben Kakaoverarbeiter zumindest ein deutliches Imageproblem mit der in diesem Bereich endemischen Kinderarbeit [24]. Ohne Kinderarbeit scheint Kakao in Ghana und der Elfenbeinküste, wo zwei Drittel aller Kakaobohnen geerntet werden, nicht angebaut [25] werden zu können.

Mit der Verlagerung weg aus Deutschland wird man dieses Problem zumindest ein wenig aus dem Blick der deutschen Öffentlichkeit nehmen. Barry Callebaut sieht der Kunde zum Glück auch nicht im Lebensmittelregal.

Die Folgen der Verlagerung für deutsche Bauern

Wird die Milchverarbeitung in Deutschland geschlossen, müssen die Bauern, welche bislang ihre Milch angeliefert haben, neue Abnehmer finden.

43 Prozent der Lebensmittelproduzenten [26] wollen ihre Investitionen in Deutschland reduzieren und sechs Prozent ziehen eine vollständige Einstellung der Investitionen am deutschen Standort in Betracht.

Optimistischer sind die Firmen bei den Auslandsinvestitionen. 35 Prozent der Befragten beabsichtigen, ihre Investitionen im Ausland in den nächsten zwei bis drei Jahren zu steigern.

Mit der Verlagerung der Lebensmittelproduktion ins Ausland müssen auch die bäuerlichen Produzenten den Schritt ins Ausland wagen. Zahlreiche Bauern, die hierzulande aufgrund der hohen Grundstückspreise nicht mehr erweitern konnten, sind beispielsweise in die Ukraine abgewandert [27], wo deutsche Technik und lokale Löhne unschlagbar waren. Der Export der in der Ukraine preiswert erzeugten Lebensmittel sorgen in den Heimatländern der Bauern bei den zu Hause gebliebenen Kollegen wiederum für Unmut.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://mobil.bfr.bund.de/cm/343/lebensmittelsicherheit-und-globalisierung-aus-sicht-der-verbraucherinnen-und-verbraucher.pdf
[2] https://www.northdata.de/Unternehmensgruppe+Theo+M%C3%Bcller+S.e.c.s.+SECS,+Luxembourg/B163670
[3] https://www.muellergroup.com/impressum
[4] https://www.homann-salate.de/ueber-uns/historie
[5] https://www.signaturefoods.com/de/hom
[6] https://www.foodbev.com/news/pamplona-capital-management-to-acquire-signature-foods/
[7] https://www.agrarheute.com/markt/milch/frieslandcampina-verkauft-landliebe-drei-standorte-mueller-594750
[8] https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2023/22_02_2023_Mueller_Campina.html?nn=55030
[9] https://www.agrarheute.com/markt/milch/frieslandcampina-verkauft-landliebe-drei-standorte-mueller-594750
[10] https://www.hochwald.de/de/news-detailseite?newsUid=2117&cHash=5498b78626c61660ac7be1714d0c7354
[11] https://www.muellergroup.com/die-gruppe/aktuelles/tuffi-produktionsverbot-fuehrt-zum-aus-fuer-standort-koeln
[12] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/heilbronn/landliebe-campina-schliessung-gewerkschaft-heilbronn-schefflenz-mueller-handel-arbeitsplaetze-100.html
[13] https://www.gesetze-im-internet.de/betrvg/__112a.html
[14] https://www.schwarzwaldmilch.de/produkte/landliebe
[15] https://www.nordkurier.de/regional/ruegen/rugen-feinkost-kommt-kunftig-aus-polen-1195107
[16] https://www.noz.de/lokales/dissen/artikel/-20523140
[17] https://www.lisner.pl/en/products
[18] https://www.lebensmittelzeitung.net/industrie/nachrichten/Restrukturierung-Homann-trennt-sich-von-Lisner-136788
[19] https://thefishsite.com/articles/luxembourg-fish-processor-to-acquire-polands-nordfishfoodmark
[20] https://www.northdata.de/Nordfish+-+Foodmark+sp.+z+o.o.,+Charzyno/KRS0000050923
[21] https://www.fischmagazin.de/willkommen-seriennummer-106046.htm
[22] https://finanzmarktwelt.de/lebensmittel-industrie-packt-ihre-koffer-buerokratie-und-hohe-kosten-302633/
[23] https://www.barry-callebaut.com/
[24] https://www.callebaut.com/de-DE/zero-child-labour-2025
[25] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/schokoladenhersteller-rueckschlag-im-kampf-gegen-kinderarbeit-im-kakaoanbau-18893537.html
[26] https://www.bve-online.de/presse/pressemitteilungen/bve-jahresschaetzung-2023-verschlechterte-standortfaktoren-lassen-realen-umsatz-sinken
[27] https://www.agrarheute.com/pflanze/getreide/krieg-ukraine-zwei-betroffene-deutsche-ackerbauern-berichten-597295