Die vertane Friedenschance im Ukraine-Krieg

Luca Schäfer
Eine Himars-Rakete wird am Waldrand abgefeuert

Wie sieht die Perspektive für Frieden in der Ukraine aus?

(Bild: Anelo/Shutterstock.com)

John Mearsheimer erläutert, warum im Ukraine-Krieg die Chance auf Frieden vorerst vertan ist, der Westen daran mitschuldig ist und wie es weitergehen kann.

Hinweis: Eine frühere Version dieses Artikels wurde offline genommen, da der Verdacht besteht, dass eine zentrale Quelle aus einem KI-generierten Beitrag bestand. Der vorliegenden, überarbeiteten Version schickt der Autor folgenden Hinweis voraus:

Prolog in eigenen Sache

Werte Leserschaft,

mit Erschrecken und Erstaunen holte mich als Autor des Artikels "Die vertane Friedenschance im Ukraine-Krieg" der Verdacht auf ein dem geschriebenen teilweise zugrunde liegendes Deep-Fake Video ein. Dem stelle ich mich, denn es gilt, zu Verantwortung und Sorgfalt in der journalistischen Arbeit zu stehen: Diese hohen Güter wurden – bei gleichzeitiger Betonung der Schwierigkeit, die Urheberschaft des Videos im vorliegenden Fall abschließend zu klären, nicht in vollem Maße erfüllt. Gleichwohl versucht diese überarbeitete Version zu beweisen, dass a) die im Video getätigten Aussagen durchaus plausibel für den Realismus in den Internationalen Beziehungen nach Mearsheimer stehen könnten, dass b) die Kernessenz der Aussagen durch valide Quellen Mearsheimers belegt werden können und abschließend c) die aufgestellten Thesen einen sinnvollen, fruchtbar-vorwärtsweisenden und kontrovers-diskutablen Beitrag zur deutschen Ukraine-Debatte liefern können.

In diesem Sinne wünsche ich eine anregende Lektüre und eine spannende inhaltliche Debatte.

Luca Schäfer

Professor John Mearsheimer räumt mit zu Glaubenssätzen geronnenen Überzeugungen der westlichen politischen Klassen auf. Seine Kernaussagen, die er mit zunehmender Ukraine-Kriegsdauer postuliert lauten: der Westen trüge eine Mitschuld, es könne nicht gelingen, das Washington gleichwertig zu ersetzen, reale Chancen auf Frieden seien verspielt worden und die Risiken, inklusive einer nuklearen Option, seien enorm. Mearsheimers Thesen, im deutschsprachigen Diskurs selten, sind erfrischend-kontrovers, scharf und unaufgeregt.

Sei es das Narrativ der neuen Suche Trumps nach Frieden oder die Empörung Lawrows über den „Sinneswandel“, entgegen aller emotional-medialer Wendungen argumentiert Mearsheimer nie moralisch. In der nüchternen Analyse ist die Chance auf Frieden mindestens kurzfristig verspielt, doch was sind Gründe und ein fußend auf Mearsheimer Thesen mögliches Friedenssszenario?

Realistische Leitschnur

Im Gespräch mit dem New Yorker sagte der Absolvent der West-Point Militärakademie: "Wovor Putin sich fürchtet, ist, dass die Ukraine Teil der Nato wird." Später fügte er hinzu: "Hätte sich die Nato nicht ausgedehnt, [...] gäbe es diesen Krieg nicht."

Mearsheimers Interventionen, eine gerne vereinnahmte politologische Instanz, entstammen der Theorie des „Offensiven Realismus“ und basieren auf stringenten Grundfesten: In einem anarchischen, von Unsicherheiten zwischen den Staaten geprägten internationalen System entscheiden offensiv-militärische Fähigkeiten.

Seine 2001 im Werk "The Tragedy of Great Power Politics" dargelegte Theorie gipfelt in der zentralen These, dass unter der staatlicherseits zur Handlungsmaxime erhobenen Doktrin des eigenen Überlebens der Zustand maximaler Sicherheit durch eigene Hegemonie erreicht werden könne.

Aus dieser Logik folgt für Mearsheimer im Gegensatz zu diversen Theorien der Internationalen Beziehungen, dass Russland die Annäherung der Ukraine an den Nato-Westen als existenzielle Bedrohung wahrnehmen musste und demnach reagierte. Das Verhalten Moskaus wird dabei logisch versucht herzuleiten, verzichtet jedoch in aller Regel auf emotional-moralische Komponenten.

Im Zentrum seiner Ausführungen stehen, im Kontrast zum westlich-humanistischen Menschenrechtsdiskurs, die Kategorien Macht, Sicherheits- und Interessenkalküle. Das Krieg die Umwelt und die Gattung Mensch vernichtet, stellt keine Zentralkategorie der realistischen Internationalen Beziehungen dar, selbst wenn dies die Friedens- und Konfliktforschung progressiv verändern würde.

Es begann nicht 2022

Wie Mearsheimer in einem Interview zum zweijährigen Kriegsjubiläum erläuterte, beginnt der Konflikt für ihn schon in den 1990er Jahren.

"Die Gegner der Nato-Erweiterung, die im Grunde Realisten waren", so Mearsheimer im Jahr 2024, "argumentierten, dass eine Osterweiterung der Nato irgendwann zu einem ernsthaften Konflikt führen würde. Ihnen stand eine einflussreiche Gruppe liberaler Außenpolitiker gegenüber, die glaubten, die Nato könne nach Osten in Richtung Russland ausgedehnt werden, ohne dass dies zu Problemen führen würde."

Schon 2014 erinnerte er in einem Beitrag in den renommierten Foreign Affairs, daran, dass die Nato-Osterweiterung, die verstärkte-forcierte Westbindung der Ukraine, das „liberale“ Bestreben Moskaus Einflusssphäre zu minimieren, das russische Sicherheitsgefühl unterminierten. Im taktgebenden Untertitel des Beitrages schreibt der Autor gar von „westlichen Illusionen, die Putin provozierten“.

Um gleichwohl an differenten Stellen, exemplarisch gegenüber der Oxford Political Review, zu betonen, dass „keinesfalls für eine Sekunde geleugnet werden (darf), dass Wladimir Putin in die Ukraine einmarschiert ist, und dass er für die Kriegsführung verantwortlich ist.“

Jedoch besteht Mearsheimer wiederholt auf einer sauberen Trennung zwischen Verantwortlichkeit in den langfristigen Ursachen (USA und Nato, siehe dazu Horizons Ausgabe Sommer 2022: „Die Vereinigten Staaten sind in erster Linie verantwortlich für die Entstehung der Ukraine-Krise“) und dem unmittelbaren Trigger-Anlass (russischer Einmarsch in die Ukraine).

Während Mearsheimer jedoch davon ausgeht, dass Russland 2022 zu einem gewissen Kompromissfrieden bereit gewesen wäre, habe der Westen diesen aktiv hintertrieben.

Er argumentiert aus der Perspektive der realistischen Sicherheitslogik heraus, dass Russland reale, schriftlich fixierte Sicherheitsgarantien wollte, deren Kern die ukrainische Neutralität gewesen wäre.

Es ist belegt, dass 2022 in Istanbul über die Neutralität der Ukraine verhandelt wurde. Letztlich setzen sich, wie den Nuland-Aussagen zu entnehmen ist, London, Washington und Brüssel durch. Der Deal platzte: Zentraler Knackpunkt war dabei die Frage einer neutralen Ukraine und weitreichender (primär ukrainischer) Entwaffnungen als Sicherheitsgarantien.

Frieden in weiter Ferne: Die aktuelle Lage

Mearsheimer zufolge ist ein dauerhafter Frieden, wie 2022 greifbar, heute in weiter Ferne. Er sieht zumindest kurz- bis mittelfristig nur einen temporären Waffenstillstand oder das "Einfrieren des Konflikts" (Waffenstillstand + eingefrorene Front) als realistisch an. Diplomatische Lösungen sind theoretisch möglich, aber politisch unwahrscheinlich .

Interessanterweise korreliert jene Einordnung mit dem Aufkommen der Äußerungen Trumps nach einem "Einfrieren der Front als erster Schritt" hin zu einem Frieden.

Der Grund: Alle beteiligten Seiten sehen sich in einer existentiellen Bedrohung, was Kompromisse erschwert. Gleichzeitig ist abseits einer diplomatischen Lösung auch kein militärtechnischer Durchbruch einer der beiden Seiten zu erwarten. Damit hat sich die Lage dramatisch negativ adaptiert: eine permanente Eskalationsgefahr bis hin zu einem nuklearen Inferno.

Daddy Trump

Unter der Annahme, dass sich die USA – arbeitsteilig mit Kontinentaleuropa – zunehmend aus dem Ukraine-Konflikt herauszulösen versuchen, um sich Asien zuzuwenden, muss die These einer europäischen Rollenübernahme diskutiert werden.

Mearsheimer warnt vor einem Alleingang, da die EU ohne starke amerikanische Beteiligung nicht über die nötige strategische Tiefe verfüge. Aufbauend auf einem Argument, das er bereits 2010 im Rahmen einer Vorlesung an der Universität von Chicago entfaltete, erklärt er die europäische Friedenstendenz aus der Anbindung an die Vereinigten Staaten, die maßgeblich zur europäischen Stabilität beigetragen habe.

Falle diese weg, wackele das Brüsseler Kartenhaus. Ausgerechnet von Wolfgang Ischinger, ehemaliger Diplomat und langjähriger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (Msc), einem weltpolitischen Forum für Geopolitik und Sicherheitsfragen, gibt es Schützenhilfe.

Ein europäischer Alleingang könnte „das Ende der Nato, wie wir sie kennen“, bedeuten, so Ischinger gegenüber Politico. Insofern dürften Brüssel, Berlin und Paris alles in ihrer Macht stehende Nutzen, um den Ukraine-Krieg zu verlängern und das Oval Office an Bord zu halten.