Digitalisierung: Europa muss führen, nicht imitieren

Eine Polemik zur "europäischen Idee" und deren aktuellen Folgen (Teil 2)

Dass die Europäische Union bei der "Digitalisierung" vorankommen "muss", erscheint vollkommen klar – und schließlich ganz friedlich. Außerdem haben doch "wir alle" etwas davon, unser Leben hierzulande und mit unserem Nachbarn wird doch leichter? Der Leser von Teil 1 dieser Europa-Serie ahnt es: So ganz die Wahrheit kann das nicht sein. Die EU-Kommission hat im Frühjahr 2021 einen "digitalen Kompass" vorgestellt. Europa soll bis 2030 in vier Bereichen ehrgeizige Ziele erreichen:

  1. In der EU leben 20 Millionen Experten für Informations- und Kommunikationstechnik, 80 Prozent der Bevölkerung verfügen über digitale Grundkompetenzen.
  2. Der Anteil der Union an der weltweiten Produktion von Halbleitern hat sich verdoppelt. Es gibt 10.000 hochsichere und klimaneutrale Rechenzentren und 5G überall. Zudem wird auf dem Kontinent der erste Computer mit Quantenbeschleunigung gebaut.
  3. Cloud/Künstliche Intelligenz/Big Data: 75 Prozent der EU-Unternehmen nutzen die Techniken. Die Zahl der Start-ups hat sich verdoppelt, Wert über eine Milliarde Euro. Auch kleine und mittlere Unternehmen erreichen fast alle ein Basisniveau an digitaler Intensität.
  4. Alle wesentlichen öffentlichen Dienste sind digitalisiert. Alle Bürger haben Zugang zu den elektronischen Gesundheitsdiensten. Die digitale ID nutzen 80 Prozent der Menschen.

Die einleitende Begründung der Kommission:

Europa muss jetzt seine digitale Souveränität ausbauen und eigene Standards setzen, statt anderen zu folgen.

Also schon wieder eine Kampfansage, dieses Mal an die beherrschenden Konzerne aus den USA und China, die ebendiese Standards derzeit setzen.

Unter den 200 führenden digitalen Unternehmen weltweit sind lediglich acht europäische Unternehmen. Die 15 führenden Unternehmen stammen aus den Vereinigten Staaten und aus China. Die besten Supercomputer mit Hochleistungsrechenkapazitäten stehen ebenfalls nicht in der EU. Einer Studie von PwC aus dem Jahr 2018 zufolge ist derzeit Asien der digitale Marktführer.

Europäisches Parlament: Der digitale Wandel

Wer die Standards bestimmt für die Informations- und Kommunikationstechnik, profitiert von einer ziemlich exklusiven und somit umfangreichen Auftragslage – ohne die Technik sind Unternehmen global nicht konkurrenzfähig, sie sind auf sie essenziell angewiesen. Zusätzlich bedenklich aus europäischer Sicht: Es sind ausschließlich Konzerne außerhalb der EU, die diese Standards in die Welt bringen und pflegen. Damit definieren diese auch die technischen Regeln, nach denen hierzulande die IT-Systeme mit der Produktion zusammenarbeiten.

Die europäische "Industrie 4.0" nur eine abhängige Variable von auswärtiger Software? Ein Unding. Die sensiblen Daten der Firmen werden in Clouds von Unternehmen hochgeladen, die in den konkurrierenden Weltwirtschaftsmächten beheimatet sind. Mindestens ebenso heikel: Auch die Daten der souveränen Staaten über ihr Volk werden nach den Regeln dieser fremden übermächtigen Firmen verwaltet und versendet. Und deren Profite bleiben größtenteils nicht einmal in der EU!

Zur militärischen Aufrüstung gesellt sich die digitale

Es ist deshalb nicht nur eine militärische, sondern auch eine digitale Aufrüstung angezeigt. Mehr "Humankapital" in der IT, mehr innovative und global erfolgreiche neue Hightech-Unternehmen, mehr Sicherheit gegen "Cyber-Attacken", mehr digitale Technik in möglichst vielen Betrieben. Das schließt ein digitales Fitnessprogramm für Otto Normalbürger genauso ein wie für den Normalarbeitnehmer.

Nur unterscheiden sich diese Programme in einigen Punkten. Für das Privatleben verheißt der digitale Schub stabilere, schnellere und flächendeckende Verbindungen ins Internet. Das kostet dann zwar auch jeden einige Euro mehr und bildet damit eine gute Geschäftsgrundlage für die Anbieter. Aber ein Leben ohne Netz ist mittlerweile schlicht kaum mehr möglich. Beruflich geht ohnehin an der digitalen Teilhabe kein Weg vorbei. In so gut wie jedem Job läuft die Kommunikation via Computer und Mobilgeräten. Und zahlreiche Arbeitsplätze sind mit Maschinen und Technik verbunden, die digital zu steuern sind.

Wer sich da nicht fit hält beziehungsweise macht, kann sich die Konkurrenz um den Arbeitsplatz sparen – wenn es denn überhaupt noch einen für ihn gibt.

Bereits heute ist für 90 Prozent aller Arbeitsplätze zumindest ein Mindestniveau an digitalen Kompetenzen erforderlich, und die Nachfrage nach digitalen Fachkräften steigt. Der (EU-) Kommission zufolge haben jedoch 44 Prozent der EU-Bevölkerung und 37 Prozent der Arbeitskräfte unzureichende Kenntnisse in diesem Bereich. Zudem setzt fast die Hälfte der Unternehmen in der EU noch keine Strategien zur Weiterbildung ihrer Arbeitskräfte um.

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Das muss sich ändern, zumal die Chancen auf der Hand liegen:

Investitionen in IKT (Informations- und Kommunikationstechnik – B.H.) machen 50 Prozent des Produktivitätswachstums in der EU aus. Die Unterstützung von wachstumsstarken Start-ups und expandierenden Unternehmen bringt Innovations- und Beschäftigungsvorteile, da diese Unternehmen in der Regel neue Arbeitsplätze schaffen.

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"In der Regel" werden es vor allem Arbeitsplätze sein, die aus den sie besetzenden Arbeitnehmern mehr Gewinn herausholen als bisher – sonst machte all die neue verheißungsvolle Technik keinen kapitalistischen Sinn. Dieser Effekt wird gänzlich undigital erreicht: Prozesse werden mit weniger Arbeitnehmern realisiert als bisher – Rationalisierung genannt. Und die weiter beschäftigt werden, leisten mehr in vorgegebener Zeit – Intensivierung.

Gemütlicher und einträglicher wird das "digitale" Arbeiten mithin sicher nicht. Über den dafür gezahlten Lohn verlieren interessanterweise die zahllosen begeisterten Studien und Bekenntnisaufsätze zur tollen Technik kein Wort. Es geht immer nur um die Notwendigkeit für die Arbeitnehmer, sich anzupassen. Von mehr Geld und weniger Arbeitszeit ist nicht die Rede. Auch die schöne neue Welt kommt eben mit der bekannten alten kapitalistischen Kalkulation daher.

Die Staaten in der EU unterstützen nach Kräften die digitale "Transformation". Weil sie unbedingt in der Konkurrenz zu den führenden Mächten aufholen wollen. Dafür rüsten sie mit allen Mitteln auf – um im künftigen Kampf um den Weltmarkt nicht ins Hintertreffen zu geraten. Das nennt sich vornehm "internationaler Wettbewerb". Tatsächlich tritt die Europäische Union gar nicht friedfertig an, den großen Konkurrenten Marktanteile zu entreißen. Dass Staaten wie USA und China das nicht einfach geschehen lassen, dürfte klar sein.

"Für Europa" treten gewiss die potenziellen Profiteure vonseiten des Kapitals ein. Den Beschäftigten indes kommt die verdienstvolle Rolle zu, den Arbeitgebern zum erhofften Erfolg zu verhelfen. In ihrem Fall bedeutet "für Europa" ein hartes Programm: Sie müssen sich für die Digitalisierung herrichten und auf noch höhere Leistungsanforderungen einstellen. Ein besseres Leben wird ihnen dafür nicht versprochen – noch nicht einmal, dass sie überhaupt einen digitalen Arbeitsplatz bekommen.