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"Do swidanija!" für vier Millionen ukrainische Staatsbürger

Keine Renten, kein Zugverkehr, keine Post. Kiew hat gegenüber den selbsternannten Republiken in der Ost-Ukraine eine Wirtschaftsblockade verhängt. Moskau hilft humanitär und vermutlich auch mit Geld

Nachdem die Regierung in Kiew die Zahlung von Renten und Sozialleistungen in den selbsternannten ost-ukrainischen "Republiken" zum 28. November eingestellt hat und auch den Eisenbahnverkehr über die Frontlinie und die Tätigkeit der ukrainischen Post gestoppt hat, ist die Unruhe unter den Menschen in der Ost-Ukraine groß. Denn das seit Wochen angekündigte eigene Finanzsystem der "Volksrepubliken" ist erst im Entstehen. Immerhin kündigte [1] das Oberhaupt der Donezk-"Republik", Aleksandr Sachartschenko, am Freitag an, die "Volksrepublik" werde ab 1. Dezember Renten in Höhe von 1.000 Griwna (53 Euro) zahlen. Woher das Geld kommen soll - die Wirtschaft in der Donezk-"Republik" liegt am Boden - ist bisher nicht ganz klar.

Reparaturarbeiten in Donezk. Bild: novorossia.su

Gedränge vor den Banken

Bereits am frühen Montagmorgen gab es vor den Banken in der ostukrainischen Stadt Donezk ein dichtes Gedränge (Reportage [2] des russischen TV-Kanals Rossija 1 ab Minute 14:40). Hunderte Menschen, vor allem Frauen, hatten sich versammelt. Sie warteten, um Kindergeld und Renten zu empfangen.

Kiew hatte die Zahlung aller Sozialleistungen in den selbsternannten Republiken zum 28. November offiziell eingestellt. Tatsächlich waren aber schon seit Juli keine Renten mehr gezahlt worden, wie mehrere Rentnerinnen in einem am 20. November vom Fernsehkanal Donbass ausgestrahlten Video [3] berichteten.

An den Bankgebäuden in Donezk seien die offiziellen Bezeichnungen der früheren ukrainischen Besitzer - Oschadbank und Privatbank - abgenommen worden, berichtete der Reporter von Rossija 1. Außerdem berichtete er, dass in einigen Stadtteilen von Donezk bereits Filialen der neuen Bank der Donezk-"Republik" arbeiten. Andere Berichte über die Banken in Donezk liegen bisher nicht vor.

In der Fernseh-Reportage erzählten einige Frauen aus Donezk, worauf sie warten. Eine Frau in einem dunklen Winterpelz sagt:

Ich stehe für Kindergeld an. Meine Nummer ist 272. Ob ich Kindergeld bekomme oder nicht, weiß ich nicht. Vielleicht heute, Morgen oder Übermorgen. Wenn ich nicht auf der Liste stehe, muss ich eine Erklärung unterschreiben und bekomme (das Geld) dann in zehn Tagen.

Eine andere Frau mit einem etwa vierjährigen Kind auf dem Arm erzählt:

Ich will Kindergeld bekommen. 600 Griwna (33 Euro). Ich stehe nicht auf der Liste. Wir haben den Fall nach Mariupol (die Stadt seht unter Kontrolle von Kiew) übergeben. Aber dort bekommen wir nichts. Man quält uns.

Kiew war angeblich zur Einstellung der Rentenzahlungen gezwungen

Mitte November hatte der ukrainische Präsident, Petro Poroschenko, bekannt gegeben, dass in die "okkupierten Gebiete" (gemeint sind die selbsternannten Republiken) keine Renten und andere Sozialleistungen mehr überwiesen werden. Außerdem sollen aus den selbsternannten Republiken alle staatlichen ukrainischen Unternehmen abgezogen werden. Betroffen von der Wirtschaftsblockade sind etwa vier Millionen ukrainische Staatsbürger, die noch in den von Aufständischen kontrollierten Gebieten leben.

In dem ARD-Interview am Sonntagabend begründete der ukrainische Präsident die Nichtzahlung der Sozialleistungen damit, dass es in den "okkupierten Gebieten" faktisch kein Bankensystem mehr gäbe. Die Banken würden von den "Banditen" (gemeint sind die Aufständischen) ausgeraubt. Beweise für diese Behauptung nannte Poroschenko nicht. Der ARD-Korrespondent wollte offenbar auch keine Beweise hören. Zumindest fragte er nicht nach (Poroschenko: "Ich weiß, dass die Wahrheit mit uns ist" [4]).

Moskau zahlt offenbar

Woher die selbsternannten Republiken das Geld für die Renten und andere Sozialleistungen nehmen wollen, ist unklar. Offizielle Vertreter der selbsternannten Republiken hatten bereits in den letzten Wochen erklärt, dass das Finanzsystem erst im Aufbau sei und die Einnahmen für einen funktionierenden Haushalt noch nicht ausreichen.

Russische Experten hatten angedeutet (Russland wird ost-ukrainische "Volksrepubliken" durchfüttern müssen [5]), dass Russland die ostukrainischen "Volksrepubliken" wohl unterstützen werde, so wie es auch schon seit den 1990er Jahren mit den von Georgien abgespaltenen Gebieten Südossetien und Abchasien praktiziert wurde. Der Bürgermeister von Donezk, Igor Martinow, hatte gegenüber der Frankfurter Allgemeinen angeblich erklärt [6], wenn Moskau nicht "viel Geld" zahlen würde, wäre die Volksrepublik schon am Ende.

Die selbsternannten Republiken könnten eine eigene Währung, gestützt auf die Kohleförderung und die Stahlproduktion, einführen, deuteten russische Experten an. Doch auch die Einführung des russischen Rubel als offizielle Währung wird nicht mehr ausgeschlossen. Der Sekretär des Sicherheitsrates der Donezk-"Republik", Aleksander Chodakowski, hatte letzte Woche gesagt [7], "in der nächsten Zeit werden wir die Einführung einer Währung prüfen, die eine Alternative zu Griwna sein wird."

Kiew hofft auf "Hunger-Aufstände"

Kiew scheint darauf zu hoffen, dass in den selbsternannten Republiken, wegen der sozialen Notlage Hungeraufstände gegen die Regierungen der "Volksrepubliken" ausbrechen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko erklärte am Sonntagabend im ARD-Interview [8], ohne Beweise zu nennen, in "den okkupierten Gebieten" gäbe es bereits "Massenproteste gegen die Banditen". Mit "Banditen" sind die Separatisten gemeint. Banken würden in den okkupierten Gebieten faktisch nicht mehr existieren, alles Geld würde von den "Banditen" (gemeint waren offenbar Aufständische) gestohlen, weshalb man alle Sozialtransfers eingestellt habe.

Wie die Bevölkerung in den "Volksrepubliken" die faktische Wirtschaftsblockade durch Kiew aufnimmt, berichtete der deutsche Korrespondent Moritz Gathmann letzte Woche gegenüber dem Schweizer Rundfunk. "Momentan überwiegt die Wut auf Kiew." [9] Von Hungeraufständen berichtete Gathmann nicht. Ukrainische und Kreml-kritische russische Websites sprachen [10] in den letzten Wochen von Bürgerprosteten wegen ausbleibender Nahrungsmittel. Doch zu den von Kiew sehnlichst erhofften "Hungeraufständen" gegen die Separatisten kam es bisher nicht.

Ehemaliger Bürgermeister warnt vor Katastrophe

Humanitäre Hilfe aus Kiew erhalten die Bürger der selbsternannten Republiken nur dann, wenn sie die "Volksrepubliken" verlassen. 60.000 Rentner sind nach Angaben des ehemaligen Kiewer Bürgermeisters, Aleksandr Lukjantschenko, aus den "Volksrepubliken" in die "befreiten Gebiete" übergesiedelt, um dort Rente zu beantragen. Doch 210.000 Rentner, darunter etwa 40.000 Schwerbehinderte, leben immer noch in den aufständischen "Republiken". "Wohin sollen sie im Winter ohne Geld fahren?" fragte der ehemalige Bürgermeister im Fernsehkanal "Ukraina" und warnte vor einer Hungerkatastrophe.

Man mag zu der Moskauer Politik stehen wie man will, doch für die Rentner in den selbsternannten Republiken ist die humanitäre Hilfe aus Russland zurzeit der einzige Rettungsanker. Am Sonntag wurde der achte Hilfskonvoi, bestehend aus 100 LKWs mit Baumaterial und Lebensmitteln, in Lugansk und Donezk entladen [11]. Ein neunter Hilfskonvoi ist in Vorbereitung.

Energieversorgung bedroht

Gas und Strom liefert die Ukraine zwar noch in die "okkupierten Gebiete". Doch ständig müssen dort Reparatur-Trupps ausrücken, um durch Artillerie-Beschuss zerstörte Strom-, Gas- und Wasserleitungen zu flicken. Das ukrainische Energie-Ministerium hatte angeordnet, dass alle dem Ministerium unterstehenden Unternehmen in den "okkupierten Gebieten" ihre Tätigkeit bis zum 28. November einstellen sollten. Unklar ist, inwieweit die selbsternannten Republiken die Energieversorgung in eigener Regie übernehmen können. Erste Anzeichen eines völligen Zusammenbruchs des Energie-Systems gab es am Freitag. Wegen eines "technischen Defektes" in einem Elektrizitätswerk fiel die Stromversorgung in einem Teil der Region Lugansk aus. Außerdem brach die Versorgung mit Fernwärme zusammen, weil 14 Fernwärme-Kraftwerke wegen Überlastung abgeschaltet werden mussten.


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https://www.heise.de/-3368773

Links in diesem Artikel:
[1] http://dnr.today/news/glava-doneckoj-narodnoj-respubliki-podpisal-ukaz-o-socialnyx-vyplatax-grazhdanam-imeyushhim-pravo-na-poluchenie-pensij/
[2] http://russia.tv/video/show/brand_id/5402/episode_id/1151386/video_id/1106060
[3] http://www.youtube.com/watch?v=tuTFo6-U6lk
[4] https://www.heise.de/tp/features/Poroschenko-Ich-weiss-dass-die-Wahrheit-mit-uns-ist-3368763.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Russland-wird-ost-ukrainische-Volksrepubliken-durchfuettern-muessen-3367717.html
[6] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/separatisten-in-donezk-waeren-ohne-russiches-geld-am-ende-13282324.html
[7] http://de.ria.ru/post_soviet_space/20141127/270092222.html
[8] http://www.tagesschau.de/ausland/poroschenko-219.html
[9] http://www.srf.ch/player/radio/srf-4-news-aktuell/audio/donezk-den-menschen-geht-das-geld-aus?id=ddc2819f-8b0b-444e-b084-9429529259cc
[10] http://tvrain.ru/articles/v_makeevke_nachalis_protesty_protiv_dnr-377553/
[11] http://itar-tass.com/obschestvo/1612215