Russland wird ost-ukrainische "Volksrepubliken" durchfüttern müssen

Das russische Ermittlungskomitee schreibt ukrainischen Verteidigungsminister wegen "Kriegsverbrechen" zur Fahndung aus. Kiew kontert mit gleichen Vorwürfen

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Russland hält seinen Druck auf die Regierung in Kiew aufrecht. Am Donnerstag erklärte Wladimir Putin auf der internationalen Investoren-Konferenz "Russia calling!", die Ukraine könne ihre territoriale Integrität nur erhalten, wenn sie die Rechte ihrer Bürger sichere. Nur wenn "niemand wegen seiner Sprache oder seiner ethnischen Abstammung oder seinem Glauben" diskriminiert werde, könne die Ukraine "zu ihrer Einheit zurückkehren und die Entwicklung der Ökonomie und des Sozialbereiches sicherstellen".

Der russische Präsident Putin auf dem Investmentforum "Russia Calling". Bild: Kreml

Dass die Bürger in der Ost-Ukraine massiver Diskriminierung ausgesetzt sind, daran besteht in Moskau kein Zweifel. Immer häufiger ist in russischen Medien die Rede von einem "Genozid" an der russischsprachigen Bevölkerung in den selbsternannten "Volksrepubliken".

Am Donnerstag gab das russische Ermittlungskomitee bekannt, man habe wegen "Kriegsverbrechen" den ukrainischen Verteidigungsminister Valeri Geletej, den Leiter des ukrainischen Generalstabes Viktor Muschenko und den Kommandeur der 25. ukrainischen Brigade Oleg Mikas zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Wenn Kiew die Fahndung nicht unterstütze, werde man sich an "internationale Justizorgane" wenden. Das Ermittlungskomitee ist eine eigenständige staatliche Organisation, die parallel zur Generalstaatsanwaltschaft arbeitet.

Einsatz von Raketenwerfern und taktischen Raketen

Muschenko und Mikas hätten Befehle gegeben, "mit dem Ziel der völligen Vernichtung der nationalen Gruppe der russischsprechenden Personen, die auf dem Territorium der selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk leben", heißt es in einer Mitteilung des russischen Ermittlungskomitees. Verteidigungsminister Geletej habe die kriegsverbrecherischen Befehle geduldet. Gegen mehrere Städte in der Ost-Ukraine hätten die ukrainischen Militärs Raketenwerfer vom Typ "Grad" und "Uragan", Kasseten-Bomben sowie die taktische Rakete Totschka-U eingesetzt. Dadurch seien "3.000 Menschen getötet und 5.000 verletzt" worden.

Der ukrainische Verteidigungsminister Geletej ist für seine harten Vorwürfe gegen Russland bekannt. Im September hatte er behauptet, russische Truppen hätten den Flughafen von Lugansk mit atomaren Waffen beschossen. Geletej kündigte an, die Ukraine müsse ihre atomwaffenfreien Status überdenken, wenn der Westen die Ukraine nicht "vor Russland" schütze.

Kiew: "Wir schießen nicht auf Zivilisten"

Die ukrainische Militärführung hat gegenüber russischen Vorwürfen immer erklärt, die ukrainischen Truppen würden nicht auf Zivilisten schießen. Den Aufständischen wurde vorgeworfen, dass sie aus Wohnungen und von Häusern aus auf die ukrainischen Soldaten schießen. Die "russische Propaganda" sei schlimmer als "die faschistische und sowjetische" Propaganda, erklärte der Berater des ukrainischen Innenministers, Anton Geraschenko, nachdem letzte Woche russische Medien über den Fund von drei Gräbern mit neun Zivilisten in der Nähe des Dorfes Nischnjaja Krynka im Donezk-Gebiet berichtet hatten (Mit Kopfschuss im ost-ukrainischen Massengrab).

Der Vorsitzende der Donezk-Republik, Aleksandr Sachartschenko, berichtete später, insgesamt seien Massengräber mit 40 Toten entdeckt worden. Bei den Menschen in den Gräbern bei dem Dorf Nischnjaja Krynka - so Geraschenko - handele es sich nicht um Zivilisten sondern "wahrscheinlich" um ukrainische Soldaten.

Nach dem grausigen Fund in bei Nischnjaja Krynka berichten jetzt auch die ukrainischen Medien wieder über Massengräber, in denen die Separatisten angeblich Zivilisten verscharrten. Ein Grab mit drei Leichen wurde nach Medienberichten in dem Ort Nikolajewka gefunden. Der Ort liegt nicht weit von der Stadt Slawjansk entfernt. Die Stadt war Anfang Juli von ukrainischen Truppen eingenommen worden. Nach der Einnahme von Slawjansk fanden ukrainische Sicherheitskräfte dort ein Massengrab mit angeblich 15 Toten.

Keine Renten aus Kiew für die Pensionäre in den "Volksrepubliken"

Seitdem vor drei Wochen ein Waffenstillstand in der Ost-Ukraine vereinbart wurde, kontrollieren die Aufständischen etwa ein Viertel der Fläche der ukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Lugansk. Unter Kontrolle der Aufständischen stehen auch die beiden Großstädte Lugansk und Donezk. Nur um den Flughafen von Donezk wird noch gekämpft.

Insbesondere für die Rentner, die in den von Aufständischen kontrollierten Gebieten leben, ist die Lage schwierig, denn Kiew zahlt an diese Pensionäre keine Alters-Renten mehr. Pensionäre, die Renten vom ukrainischen Rentenfond erhalten wollen, müssen sich außerhalb der von Aufständischen kontrollierten Gebiete neu registrieren lassen. Doch ein Ortswechsel ist für die alten Leute oft unmöglich.

Ob nun jedoch alle Pensionäre in den selbsternannten "Volksrepubliken" von der neuen Macht Renten erhalten, ist unklar. Der Sprecher des Parlaments der Donezk-"Republik", Boris Litwinow, gab Anfang September bekannt, man sei bereit, Alters-Renten in Höhe von 1.800 Griwna (112 Euro) zu zahlen. Anspruchsberechtigte müssten aber einen Antrag stellen. Litwinow erklärte, es gäbe noch Probleme mit dem Datenbestand.

Den wichtigsten Teil der Versorgung der Bevölkerung in den von Aufständischen kontrollierten Gebieten hat offenbar Russland übernommen. Zur Zeit laufen die Vorbereitungen für den vierten russischen LKW-Konvoi mit humanitärer Hilfe für die Ost-Ukraine.

"Vollständige finanzielle Unterstützung Russlands notwendig"

Der Moskauer Politologe Aleksej Makarkin vom Moskauer Zentrum für politische Technologie erklärte gegenüber der Nesawisimaja Gazeta, allein mit dem Handel geförderter Kohle könnten die "Volksrepubliken" ihre Ausgaben nicht decken, weshalb "Russland die Volksrepublik Donezk finanziell vollständig unterstützen" müsse. Der Moskauer Wirtschaftsprofessor Aleksandr Michajlenko sagte, Russland habe bereits "Erfahrung" mit nichtanerkannten Republiken wie Transnistrien, Südossetien und Abchasien, die bis 1990 zu Moldau beziehungsweise Georgien gehörten, sich in Bürgerkriegen abspalteten und von Russland finanziell unterstützt werden.

Die von Aleksandr Sachartschenko, dem Vorsitzenden der Donezk-"Republik", geäußerte Absicht, den russischen Rubel als offizielle Währung einzuführen, bezeichnete der Politologe Makarkin als "Spekulation", denn der Rubel könne nur zur offiziellen Währung werden, wenn Russland die "Volksrepubliken" anerkenne.

Moskau macht seinen Einfluss auf die Separatisten geltend

Die Abhängigkeit der Separatisten von finanzieller Hilfe aus Moskau führt auch dazu, dass Russland den politischen Kurs der "Volksrepubliken" zunehmend mitbestimmt. Bis Juli waren in der Donezk- und Lugansk-"Republik" Kräfte stark, welche den Einfluss der Oligarchen einschränken sowie Bergwerke und Stahlhütten "nationalisieren" wollten. Der Oligarch Rinat Achmetow sollte gezwungen werden, in der Donezk-"Republik" Steuern zu zahlen, was dieser jedoch strikt ablehnte.

Dieser sozialrevolutionäre Kurs gefiel Moskau jedoch nicht. Ab Mitte Juli traten bekannte Politiker und Militärs in der Donezk-"Republik" - offenbar nach Druck aus Moskau - zurück. Mitte Juli räumte der Vorsitzende des Obersten Rates der Donezk-"Republik", Denis Puschilin, seinen Posten. Mitte August trat der Verteidigungsminister der Donezk-"Republik", Igor Strelkow, zurück.

Nach einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht der Novaya Gazeta ist der Streit in Moskau über den richtigen Kurs in der Ost-Ukraine noch nicht beendet. So stehe angeblich das Ermittlungsverfahren gegen den bekannten russischen Milliardär Wladimir Jewtuschenkow, Aufsichtsratsvorsitzender der Firma "Sistema", in Zusammenhang mit dem Donezk-Gebiet. Jewtuschenkow befindet sich jetzt wegen eines angeblichen Diebstahls von Aktien unter Hausarrest. Nach Ermittlungen der Novaya Gazeta war er "Schutzherr" des "russisch-orthodoxen Oligarchen" Konstantin Malofejew. Dieser soll den zurückgetretenen Verteidigungsminister der Donezk-Republik, Igor Strelkow, und dessen radikale Mitstreiter gesponsert haben. Dass Moskauer Unternehmer in der Donezk-"Republik" Politik auf eigene Faust machen, habe dem Kreml nicht gefallen.