Documenta des Scheiterns
Das Großbild "People’s Justice" wurde auf der Documenta fifteen nach massiven politischen Interventionen erst verhüllt und dann abgehängt. Was bleibt, sind Fragen. Ein Kommentar.
Erst wurde es verhüllt und nun ist es weg, das wandbildgroße Banner "People’s Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi. Nach massiver Kritik von politischer Seite – Rücktrittsforderungen eingeschlossen – haben die Verantwortlichen der Kasseler Kunstschau Documenta das Bild entfernen lassen. Der Vorgang belegt unmittelbar politisch, aber auch in seiner Metaphorik das Totalversagen, mit dem Thema Antisemitismus umzugehen.
Dabei muss eines klar gesagt werden: Zwei Detaildarstellungen auf dem Kollektivbild waren antisemitisch, weil sie auf berüchtigt verächtliche Weise mit der vermeintlichen Physionomie "der Juden" spielte. Darüber hätte man auf der Documenta, die für sich den Anspruch eines Debattenraums erhebt, sprechen müssen. Hat man aber nicht.
Stattdessen wurde die künstlerische Debatte von der politischen Kritik erschlagen. Es würde zu weit führen, alle Akteure aufzuzählen. Es genügt ein Name: Frank-Walter Steinmeier. Mit ihm wurden das gebannte Bild und damit in gewisser Weise auch die Künstler von höchster deutschstaatlicher Seite verurteilt.
Der Bundespräsident setzte sich damit nicht mit der Darstellung auseinander, nannte noch nicht einmal die Namen von Werk und Autoren, sondern legte eine politische Deutungsschablone an, wenn er ohne jegliche Begründung sagte: "Wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten", oder: "Die Anerkennung der israelischen Staatlichkeit ist die Anerkennung der Würde und Sicherheit der modernen jüdischen Gemeinschaft." Wo aber wurde durch die Darstellung Israels Existenzrecht infrage gestellt? Man weiß es nicht.
Steinmeiers Rede aber kulminierte mit solchen Sätzen in einer unterstellenden Einordnung, der nur die Vollzensur folgen konnte. Schon die Verhüllung des vollständigen Großbildes war eine visuelle Metapher der verweigerten Debatte: Wir wollen so etwas nicht sehen! Sie wurde nur durch die Entfernung noch übertroffen: Wir wollen das nicht sehen und werden nicht über die Darstellung sprechen!
Documenta fifteen und eine vertane Chance
Dabei hätte es viele Fragen gegeben: Wie ist Antisemitismus in den antikolonialen Diskurs eingebettet, wie kann man damit umgehen? Wie wird Israels Besatzungspolitik im Globalen Süden vor dem Hintergrund der dortigen Gewalterfahrung wahrgenommen? Was hat die Künstler bewogen, die beiden Darstellungen in ihr Großbild einzufügen? Gibt es womöglich unterschiedliche Meinungen oder eine Debatte im indonesischen Kuratorenkollektiv? Gibt es eine Bereitschaft zum Dialog mit der israelischen Künstlercommunity?
Bei einem Ländervergleich der US-amerikanischen Anti-Defamation League schneidet Indonesien (48 Prozent) gegenüber Deutschland (27 Prozent) bei der Verbreitung antisemitischer Vorurteile deutlich schlechter ab. Krude Ansichten wie "Die Menschen hassen Juden aufgrund ihres Verhaltens" sind in dem asiatischen Land weitaus stärker verbreitet.
Wird sich daran durch die Empörungswelle und das Entfernen des Gesamtwerks etwas ändern? Wie wird der Kasseler Eklat von Menschen in anderen Teilen der Welt gesehen, deren Haltung man von einem eurozentristischen Standpunkt nicht wahrzunehmen oder gar zu diskutieren bereit ist?
Das Bild "People’s Justice" setzt sich in großen Teilen mit der Gewalterfahrung der Menschen in einem autoritär regierten ehemaligen Kolonialstaat auseinander. Ohne Anspruch auf Exaktheit dieser Angabe: Von vielen Dutzend Quadratmetern wurde in den vergangenen Tagen bis zur Beseitigung des Exponats nur über einige Quadratzentimeter diskutiert – und das, wie gesagt, maßgeblich von politischer Seite. Auch das ist ein Beleg für die Unmöglichkeit einer Debatte, die eine globalisierte Welt mit allen ihren Fehlentwicklungen, ihrem Rassismus und ihren Vorurteilen anerkannt, um sie zu verbessern.
Und wo hätte so eine Debatte geführt werden können, wenn nicht auf einer liberalen Kunstschau, die ja gerade in diesem Jahr den Anspruch hat, Künstlern aus dem Globalen Süden Raum zu bieten.
Es klingt vor diesem Hintergrund etwas verzweifelt, wenn Documenta-Chefin Sabine Schormann in ihrem letzten Statement schreibt, mit "Respekt für die Unterschiedlichkeit der kulturellen Erfahrungsräume" werde der "mit der begonnene Dialog weitergeführt". Einen solchen Dialog konnte es spätestens nach Steinmeiers fordernder Intervention gar nicht mehr geben.
Wandbild beseitigt, "Judensau" verteidigt
Es hätte ihn geben können, wenn man bereit gewesen wäre, sich über einen anderen Umgang Gedanken zu machen: Eine distanzierende Erklärtafel vor dem Wandbild etwa, oder die Verdeckung der antisemitischen Details; beides mit einer durchaus notwendigen kritischen Debatte mit allen Verantwortlichen.
Geradezu wütend machen nämlich also nicht nur die Existenz antisemitischer, also im Kern rassistischer Vorurteile. Wütend machen muss auch das gewollte Versagen auf politischer Seite und das erzwungene Versagen auf Veranstalterseite, sich mit diesem Problem konstruktiv auseinanderzusetzen.
Und dies mit dem Ziel, dass die indonesischen Künstler ihre bewussten oder unbewussten – wir wissen es ja nicht! – Vorurteile abbauen. Dass es womöglich zu einem Dialog mit israelischen und/oder jüdischen Künstlern kommt. Das wäre eine Win-win-Situation gewesen. Nun haben alle verloren.
Wütend macht allerdings auch die Chuzpe, mit der deutsche Politiker nach Steinmeiers Plazet in die Debatte interveniert haben. Der Grünen-Politiker Volker Beck etwa, der das umstrittene Bild auf Twitter als "modernisierte Judensau" bezeichnete. Ein entlarvender Vergleich. Denn die steinerne Darstellung der "Judensau" an der Fassade der Stadtkirche in Wittenberg wird von deutschen Behörden, deutschen Politikern und deutschen Juristen seit Jahren vor dem Abbau bewahrt.
Vor wenigen Wochen erst hatte der Bundesgerichtshof geurteilt, dass das "Judensau"-Relief an der Wittenberger Kirche bleiben darf.
Welche Botschaft bleibt also: Das Bild der indonesischen Künstler auf der Documenta fifteen, das in zwei Detaildarstellungen antisemitische Motive zeigt, in Gänze aber ein anderes Thema hat, wurde umgehend verhüllt und dann entfernt.
Das primitiv-judenfeinliche Werk eines unbekannten deutschen Antisemiten in Wittenberg bleibt nicht nur. Es wurde vor fünf Jahren als schützenswertes Kulturgut sogar restauriert. Mit ihm bleiben viele Fragen.