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Downing Street 10: Der Nächste, bitte!

Bild: UK Government, CC BY-NC-ND 2.0

Nach nur 44 Tagen ist Liz Truss als britische Premierministerin zurückgetreten. Das UK kommt seither nicht zur Ruhe. Bei den regierenden Tories steht der nächste Kampf um den höchsten Regierungsposten an.

Die britische Kurzzeitpremierministerin Liz Truss hinterlässt ihr Land und ihre Partei in Scherbenhaufen. Die Gründe für ihre katastrophale Regierungszeit sind sowohl in der Person Truss, ihrem ideologischen Hintergrund, als auch in den zugegeben sehr schwierigen Umständen zu finden.

Ein Rückblick auf kurzweilige eineinhalb Monate lässt erwarten, dass es auch für die möglichen Nachfolger kompliziert werden dürfte.

Warum ging alles so schnell?

Die nun abgetretene Premierministerin hat einen einzigartigen Absturz hinter sich. Zu sagen, Liz Truss sei 44 Tage im Amt gewesen, ist eine Übertreibung. Zwei Tage nach ihrem Amtsantritt starb bekanntlich die Queen. Die folgenden zwölf Trauertage verdonnerten Truss somit zu Inaktivität.

Unmittelbar danach war Truss auf der UN-Versammlung in New York. Sie begann ihre aktive Amtszeit somit mit der Verkündung des Mini-Haushalts durch den da noch amtierenden Finanzminister Kwasi Kwarteng am 23. September.

Ihre im parteiinternen Wahlkampf gemachten Versprechungen wurden erfüllt, aber ebenso weitere Steuersenkungen wie die Herabsetzung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent auf 40 Prozent sowie die Deregulierung der Boni-Zahlungen an Banker. Eine Maßnahme, die der Premierministern nicht gerade die Herzen der Massen zufliegen ließ.

Für die 45 Milliarden Britische Pfund Einnahmeverluste des Staates gab es keine Gegenfinanzierung. Die Märkte reagierten mit offener Panik, der Wert des Britischen Pfunds fiel auf 1,09 US-Dollar, so tief wie seit Jahrzehnten nicht. Zugleich verteuerten sich die britischen Staatsanleihen (Gilts). Die Bank of England machte Stützungskäufe im Umfang von 65 Milliarden.

Die Märkte schlossen übers Wochenende und Truss hatte eine Verschnaufpause. Bis dahin war sie bei den Mitgliedern der Partei durchaus beliebt, hatte aber zum Zeitpunkt ihrer Kür zur Premierministerin eine landesweite Zustimmungsrate von minus vier Prozent, die Ablehnung lag also vier Punkte über der Zustimmungsrate.

Ihre erste nennenswerte Maßnahme im Amt, das Verkünden des Mini-Haushalts, hatten ausgereicht, um sie auf einmalige minus 44 Prozent abstürzten zu lassen. Ein noch nie erreichter Negativwert.

Bei dem sollte es nicht bleiben. Die Märkte öffneten am Montag und die Talfahrt ging weiter. Befragt am darauffolgenden Mittwoch im Parlament, wo sie denn sparen wolle, um die Steuergeschenke gegenzufinanzieren, machte Truss keine Angaben; offensichtlich unwillig, einzulenken.

Am Donnerstag wurde die Notbremse gezogen, der Finanzminister Kwarteng entlassen und durch den ehemaligen Außenminister Jeremy Hunt ersetzt, der als De-facto-Premierminister die Maßnahmen zurücknahm, um einen neuerlichen, strengen Austeritätskurs zu verordnen.

Truss hatte sich mittlerweile auf einen Negativwert von minus 61 Prozent vorgearbeitet. Die absolute negative "Spitzenposition" rückte für sie in Griffweite. Sie wird gehalten von einem gewissen Prinz Andrew, der sagenhafte minus 65 Prozent vorweisen kann. Gleichzeitig sanken die Tories in Umfragen gegenüber Labour in ähnlich dramatischer Weise ab.

Erstmals in der Geschichte des Vereinigten Königreichs hat die oppositionelle Labour-Partei bessere Umfragewerte als die Tories im Feld Wirtschaftskompetenz. Selbst Tony Blair hatte 1997 kurz vor Regierungsantritt nur einen Gleichstand erreicht.

Am Ende der Woche sagten Umfragen den Konservativen bei Neuwahlen einen Rückstand von 36 Prozent gegenüber Labour voraus. Truss musste augenblicklich gehen.

Die Personalie Truss

Wenn Benny Hill Katastrophenfilme gedreht hätte – sie hätten wohl etwa so ausgesehen, wie die in Summe 30 Arbeitstage der Liz Truss. Der Witz dieser Slapstick-Comedy liegt darin, dass das Publikum das Fehlverhalten der Akteure leicht erkennen kann und sich darüber belustigen darf. In der politischen Realität wäre nun die spannende Frage: Wieso bemerken dies die Akteure selbst nicht?

Dieser schwerwiegende politische "Unfall" ist durchaus auch in der Person von Liz Truss begründet. Sie ist somit auch an sich selbst gescheitert. Und dies, obwohl Truss über die meiste Erfahrung aller Kandidaten für das Amt des Premiers verfügte und bereits zwölf Jahre lang verschiedene Kabinettsposten ausgeübt hatte.

Anders, als sie in ihrer tendenziösen, politischen Selbstdarstellung suggeriert, kam sie aus keinem unterprivilegierten Elternhaus. Der Vater war Mathematikprofessor und wenig begeistert von den politischen Überzeugungen seiner Tochter. Die Mutter, ebenfalls Akademikerin, engagierte sich in der Anti-Atomkraftbewegung und arbeitete als Lehrerin. Ein bildungsbeflissener Haushalt, der laut Aussage von Truss "links von Labour" war.

Sie selbst erwies sich im Studium bereits als meinungsstark, und zwar im Beibehalten der einmal strategisch ergriffenen Meinung. Studienkollegen erinnern sich, dass Truss kaum je interessiert an der Sichtweise ihrer Gegner war.

Truss lenkte mehrmals in ihrer Karriere bedeutend ein. Sie war ehemals in der Liberalen Partei, was sie später als Jugendsünde abtat. Auch war sie zunächst für den Verbleib in der EU, wurde dann aber zur glühenden Verfechterin des Brexit. Jedes Mal "erfand" sich Truss neu, ohne Nennung der Gründe.

Mit ihren Kollegen Kwasi Kwarteng, Priti Patel, Dominic Raab und Chris Skidmore publizierte sie das Werk "Britannia Unchained", eine Art "Atlas Shrugged" ohne die an den Haaren herbeigezogenen Handlung. Die Kernaussage: Großbritannien stünden goldene Zeiten bevor, wenn sich die Faulenzer endlich einmal aufraffen und ordentlich arbeiten würden.

Es gibt eben Menschen, die anpacken und ein literarischer Zufall will es, dass dies zugleich jene sind, die das Buch "Britannia Unchained" verfasst haben. Die Anpacker müssen folglich die Phlegmatiker im Lande anstoßen, damit jene leistungswilligen Verhältnisse entstünden, wie sie in Asien zu beobachten seien.

Dazu müssten gewisse flankierende Maßnahmen her: Wirtschaftswachstum, Steuersenkungen, weniger Sozialstaat (wegen der "sozialen Hängematten"), Rückbau der Bürokratie und überhaupt jedweder Regularien.

Umwelt- und Arbeitnehmerschutz verhindern Leistungswillen und führen zur Faulheit. Unklar ist, inwieweit die Autoren dies wirklich glauben, oder es aus purem Opportunismus verbreiten.

Klar ist: Texte dieser Art kommen in vermögenden Kreisen gut an. Diese Form von neoliberalem Umbau wird von Organisationen wie dem Institute of Economic Affairs, der Taxpayer Alliance oder dem Adam Smith Institute üppig alimentiert. Deren Geldgeber halten sich wiederum gerne im Hintergrund und sehen Politikerinnen wie Truss vermutlich als eine Art Testballon.

Mangelndes Einfühlungsvermögen

Liz Truss und Kwasi Kwarteng versuchten deshalb, alles, was sie einst propagiert hatten, umzusetzen und schienen schlicht nicht zu merken, wie schlecht ihr eisern an neoliberale Ideologien gekettetes Programm ankam.

Dem liegt ein beinahe faszinierender Mangel an Empathie zugrunde. Nach Aussagen von Kollegen ist Truss bedeutendstes Attribut ihr "seltsamer Charakter". Sie hielte beispielsweise im Gespräch nie den gebührenden Abstand. So als habe sie kein Gefühl für jenen gewissen Sicherheitsraum, den Menschen um sich aufrechterhalten wollen.

Außerdem wiederhole sie immerfort den Namen ihres Gegenübers, auch wenn dies unpassend sei. Zu diesen Verhaltensauffälligkeiten gesellt sich ihre seltsam monotone Art zu sprechen, die immer Teilnahmslosigkeit vermuten lasse.

Es fiele ihr schwer, Freunde zu machen. Manche vermuten, sie habe schlicht keine. Dies erklärt vielleicht, warum sie frei von Loyalität ist. Im Kabinett von Theresa May, ließ Truss keine Gelegenheit aus, um Fehler und Missmanagement der Premierministerin an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.

Während ihrer eigenen, kurzen Regierungszeit ergriff sie aberwitzige Krisenstrategien. Angeblich, so beschweren sich Parteimitglieder, habe Liz Truss dauernd ihre Handynummer gewechselt, um den besorgten Nachfragen zu entgehen. So wurde es unmöglich, sie zu warnen.

Am Ende war es wohl dieser Cocktail aus Ideologie und mangelndem Einfühlungsvermögen, der zu der Implosion der Regierung von Truss geführt hat.

Geht das "Quit Game" weiter?

Die Minister-Rücktritte der letzten Monate haben ein kaum denkbares Maß erreicht. Die Rücktritte der Premierminister Johnson und Truss wurden schließlich von zahlreichen anderen Rücktritten flankiert.

Hier scheint es wohl gewisse strukturelle Probleme zu geben. Sicherlich wirkt der Brexit nach. Er wäre an sich vielleicht zu bewältigen und wurde tatsächlich bereits in zahlreichen Teilgebieten umgesetzt, auch wenn noch viel Kreativität gefragt ist, wie beispielsweise in der Frage Nordirlands. Aber die entscheidende Schwierigkeit war weder für Johnson, noch für Truss zu bewältigen: Die hochfliegenden Erwartungen der Brexiteers.

Der weitgehend beschäftigungslose Nigel Farage (Ex-Tory, Ex-UKIP, EX-Brexit-Partei), inszeniert sich zwar gerne als erfolgreicher Unternehmer, faktisch aber hängt er vornehmlich in Radio- und Fernsehstudios herum und warnt davor, dass der Brexit "verraten" würde.

Farages Forderungen – und die zahlreicher anderer –, sind für keinen Premierminister der Welt zu erfüllen. Kurzversion: Die Briten sagen jetzt dem Rest der Welt, wo es lang geht. Die Brexiteers haben immer noch eine nicht unbedeutende Öffentlichkeit hinter sich.

Johnson konnte bei der Wahl gegen Jeremy Corbyn einen Pakt mit Farage schließen und endlich den Brexit "liefern", allerdings nur, indem er unangenehme Details großzügig unter den Tisch fallen ließ.

Diese Details kommen nun nach und nach zum Vorschein. Getrieben vom rechten Rand und den Brexitideologen kann es kaum Verhandlungslösungen mit der EU geben, weil ja stets "Härte" gezeigt werden muss, um jenen einsamen Herrn im Radiostudio zufriedenzustellen.

Liz Truss muss angenommen haben, mit ihrem harten, neoliberalen Kurs die Brexiteers zufriedenstellen zu können. Dabei missachtete sie, dass dem Land dafür im Moment schlicht die Mittel fehlen.

Dem nicht genug. Am Samstag marschierten Tausenden durch die Londoner Innenstadt um für den Wiedereintritt Großbritanniens in die EU zu demonstrieren. Ein "Italien-Effekt" könnte sich einstellen. Die EU war lange Zeit in Italien sehr beliebt, weil angenommen wurde, die Brüsseler Bürokratie sei (mutmaßlich) weniger verdorben als die eigenen politischen Eliten.

Die Frage, die sich nun viele in London stellen müssen: Was müsste Brüssel aufführen, um annähernd so chaotisch zu sein, wie die britische Politik? Eine mögliche Rückbesinnung auf die EU, die sich derweil erst zaghaft abzeichnet, wäre dann von den Tories hausgemacht.


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