Dritter Weltkrieg: Ist er das schon?

Zerstörtes Wohngebiet: Aufnahme aus Gaza im März dieses Jahres

Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten könnten sich ausweiten. Mit Folgen für die ganze Welt. (Aufnahme aus Gaza im März dieses Jahres). Foto: Shutterstock.com

Ukraine und Naher Osten brennen. Kurdische Politiker sprechen seit Jahren vom Dritten Weltkrieg. Auch in USA und Russland geht die These um.

In Deutschland und anderen Ländern West- und Mitteleuropas fallen keine Bomben – und dass "eigene" Soldaten von Auslandseinsätzen im Sarg zurückkehren, ist die Ausnahme. Von 119 Bundeswehr-Soldaten, die seit 1992 in Auslandseinsätzen zu Tode kamen, starben 37 in Gefechten oder durch Anschläge. Hinzu kamen Unfälle, Suizide und natürliche Todesursachen.

Doch die Angst vor einem Dritten Weltkrieg hat hier seit Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 zugenommen – und die Frage, ob er im Grunde schon begonnen hat, wird kontrovers diskutiert.

Falls bestehende Kriege sich ausweiten, ohne dass es zum alles auslöschenden Atomkrieg kommt, könnte die heutige Situation rückwirkend so bewertet werden. Ein Buch des britisch-australischen Historikers Christopher Clark über die Anfänge des Ersten Weltkrieges heißt "Die Schlafwandler".

US-Banker: Der Dritte Weltkrieg hat schon begonnen

Im Westen vertritt heute unter anderem der CEO der US-Bank JPMorgan Chase & Co., Jamie Dimon, die These vom laufenden Dritten Weltkrieg.

"Der Dritte Weltkrieg hat schon begonnen. Es gibt bereits Bodenkämpfe, die über mehrere Länder koordiniert werden", sagte er im Herbst dieses Jahres in einer Rede am Institute of International Finance mit Blick auf die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten – und das war noch vor dem Umsturz in Syrien.

Laut einem Bericht von des Magazins Newsweek nannte Dimon in diesem Zusammenhang Russland, Nordkorea und den Iran als "Achse des Bösen", die neben China vorhabe, den Nato-Staaten Schaden zuzufügen.

Auch in Russland, wo das staatstragende Gut-Böse-Schema ein anderes ist, gibt es prominente Stimmen, die zumindest die Einschätzung teilen, dass der Dritte Weltkrieg schon läuft. Wladimir Solowjow, der eine Sonntagabend-Talkshow im russischen Staatsfernsehen moderiert, sagte bereits im Januar dieses Jahres: "Wir bewegen uns auf den Dritten Weltkrieg zu. Meiner Meinung nach läuft er bereits."

Sprach auch Trump vom laufenden Dritten Weltkrieg?

Übrigens denke Donald Trump genau so, befand Solowjow mit Blick auf den inzwischen gewählten US-Präsidenten. Tatsächlich warf Trump dem scheidenden US-Präsidenten Joe Biden nur mehrfach vor, einen Dritten Weltkrieg zu provozieren.

"Ein Dritter Weltkrieg ist möglich", warnte der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, warnte in der UN-Generalversammlung am 26. September.

Explosiver Cocktail aus drei Konflikten

Er nannte in diesem Zusammenhang "drei große Konflikte zu einem explosiven Cocktail vermischen": den russischen Krieg gegen die Ukraine, den jüngsten Israel-Gaza-Krieg und den Bürgerkrieg im Sudan, in den ebenfalls Russland und die USA involviert sind und sich bekämpfende Militärfraktionen unterstützen.

Der Ukraine sagte Michel im Namen der EU weitere Unterstützung "so lange wie nötig" zu, im Fall des Israel-Gaza-Kriegs forderte er "einen sofortigen Waffenstillstand gemäß der Anordnung des Internationalen Gerichtshofs" – und mit Blick auf den Sudan forderte er, Waffenlieferungen an die Militärfraktionen einzustellen: "Wir können diesen Konflikt beenden, wenn wir wollen."

Weltkriegsgefahr: Wenn Großmächte um Einfluss kämpfen

Kurdische und syrisch-kurdische Organisationen sagen dagegen schon länger, dass der Dritte Weltkrieg im vollen Gange sei – denn im historischen Siedlungsgebiet der kurdischen Bevölkerung, das Teile der Türkei, Syriens, des Iran und des Iran umfasst, kämpfen verschiedene Großmächte um Einfluss.

Manche meinen, dass im Nahen Osten ein Dritter Weltkrieg stattfindet, das ist wahr. In jedem Weltkrieg hat es Veränderungen gegeben, und der aktuelle Krieg bringt Veränderungen im System mit sich. Im Ersten Weltkrieg trat der Nationalstaat in den Vordergrund, im Zweiten Weltkrieg wurde die Welt bipolar, dieses System brach 1990 zusammen, sodass ein neues System notwendig wurde. Dieser Neuordnungsprozess wird nun als Dritter Weltkrieg bezeichnet.

In diesem neuen System kann sich vieles ändern. Souveränität, Grenzen, Staat und Regierung usw. können sich ändern. Dieser Prozess ist seit 2010 im Gange, und was jetzt geschieht, ist Teil davon.

Der syrisch-kurdische Politiker Salih Muslim (Partei der Demokratischen Union – PYD), im November 2024 im Gespräch mit der Nachrichtenagentur ANHA

Was, wenn unter den großen Playern keine "Guten" sind?

Anders als der US-Banker und der russische Moderator sehen kurdische Politiker wie Salih Muslim und Cemil Bayik aber unter diesen Großmächten keine "Guten".

Die Rolle der Nato in Syrien wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, denn die säkularen syrisch-kurdischen Milizen im Nordosten des Landes wurden von US-Truppen als wichtige Partner im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) betrachtet und international respektiert – für den Nato-Partner Türkei sind diese Milizen und die syrisch-kurdische Selbstverwaltung aber nach wie vor der Hauptfeind und werden von ihr bekämpft.

Hintergrund ist, dass die PYD als stärkste politische Kraft im Nordosten Syriens von der Türkei als Schwesterorganisation der verbotenen linken Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betrachtet und mit ihr gleichgesetzt wird. Daraus leitet die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan ein Recht zur grenzübergreifenden "Terrorismusbekämpfung" ab.

Nato-Partner mit dschihadistischen Hilfstruppen: Türkei

Dschihadistische Hilfstruppen der Türkei begingen im nordsyrischen Afrin nachweislich Kriegsverbrechen. Eines davon filmten sie 2018 bei der "Operation Olivenzweig" selbst, als sie den Leichnam einer gefallenen kurdischen Kämpferin verstümmelt zur Schau stellten.

Aktuell unterstützt die Türkei die sogenannte Syrische Nationale Armee (SNA), die nach dem Sturz der Zentralregierung von Baschar al-Assad nun verstärkt in bisher von den syrisch-kurdischen Volksverteidungskräften kontrollierte Gebiete im Norden vordringt.

Dritter Weltkrieg durch Flächenbrand im Mittleren Osten?

Cemil Bayik sprach bereits 2019 in einer Analyse für den kurdischen Sender Stêrk TV von einem laufenden Dritten Weltkrieg:

Alles hat im Mittleren Osten begonnen. Der Mittlere Osten spielt eine wesentliche und bestimmende Rolle für das weltweite Gleichgewicht.

Nach der Auflösung der Sowjetunion sind die Machtverhältnisse im Mittleren Osten ins Wanken geraten, es entstand ein Vakuum. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich als führende Kraft der kapitalistischen Moderne verstehen, haben im Mittleren Osten interveniert, um dieses Vakuum zu füllen. Damit hat der dritte Weltkrieg angefangen.

Die regionalen Regierungen, die den Erwartungen nicht entsprochen haben, wurden ausgetauscht. Es wurde damit begonnen, neue Machthaber zu installieren, die dem System dienlich sind.

Cemil Bayik, Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) 2019 in einer TV-Analyse

Und Bayik stellte noch etwas klar:

Sowohl die USA als auch Russland haben die Kurden ihren eigenen Interessen geopfert und der Türkei den Weg freigeräumt. Die Türkei wird von ihnen gegen die Kurden benutzt

Cemil Bayik, 2019

Werte oder Beute: Worum wird im Dritten Weltkrieg gekämpft?

2023 beschrieb Bayik den aus seiner Sicht laufenden Dritten Weltkrieg als "Krieg zwischen den hegemonialen Kräften der kapitalistischen Moderne um die Führung auf regionaler und globaler Ebene". Werte, die sich die Beteiligten auf die Fahnen schreiben, hält er für vorgeschoben:

Es ist ein Krieg um die Neuordnung der Energiequellen, der Handelswege und der strategischen Geopolitik. Gleichzeitig zeigt dieser Krieg aber auch die Tiefe der Krise des Systems der kapitalistischen Moderne.

Die Kräfte der kapitalistischen Moderne versuchen, ihre Existenz durch den Weltkrieg zu verlängern. Deshalb ist dieser Krieg nicht nur ein Krieg der Herrschenden zwischen Staaten, sondern auch ein Krieg gegen die Gesellschaft und die Völker.

Cemil Bayik, 2023

Lösungsvorschlag aus türkischer Haft

Zur Einordnung: Bayiks Dachorganisation KCK nennt als Ziel seit rund 20 Jahren den Demokratischen Konföderalismus, den der PKK-Gründer Abdullah Öcalan in türkischer Haft als Lösungsvorschlag für die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt hat, nachzulesen in seiner Verteidigungsschrift "Jenseits von Staat, Macht und Gewalt".

Im Zuge dieser Entwicklung war die PKK von der Forderung nach einem eigenen Staat abgerückt, was westliche Medien lange nicht zur Kenntnis nahmen. Auf Demokratischen Konföderalismus und Demokratische Autonomie berufen sind auch die PYD und das Selbstverwaltungsprojekt Rojava im Nordosten Syriens.

Cemil Bayik, der heute den hegemonialen Kräften der kapitalistischen Moderne vorwirft, ihre Existenz durch einen Weltkrieg verlängern zu wollen, war 1978 Gründungsmitglied der PKK und hat die gesamte Entwicklung aktiv mitverfolgt.

Nur wenige aus diesem Kreis überlebten wie er die Welle von Repression, Verhaftungen und Folter nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei. 1984 nahmen sie den bewaffneten Kampf gegen das dortige Regime auf. Massenbasis erreichte die PKK in den 1980er- und 1990er-Jahren in den Gebieten mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit. Auch immer mehr Frauen schlossen sich ihrer Guerilla an.

Warum ein CDU-Politiker der PKK Waffen liefern wollte

2002 wurde die PKK auf Wunsch der türkischen Regierung auf die Terrorliste der EU gesetzt – allerdings gab es 2014 sogar in CDU-Kreisen kurzzeitig die Überlegung, ihr Waffen zu liefern, da sie religiöse Minderheiten in der Region, darunter auch Christen, gegen den IS verteidigte. Der damalige Unionsfraktionschef Volker Kauder sprach sich öffentlich dafür aus, obwohl die PKK in Deutschland seit 1993 verboten ist.

Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen haben seither immer wieder die Aufhebung des Verbots gefordert. In der CDU verstummten derartige Überlegungen allerdings schnell.

Krieg und Imperialismus in einer multipolaren Welt

Wer die Nato als ideelle "Wertegemeinschaft" sieht, muss die Kooperation der Türkei mit Islamisten gegen säkulare Kräfte als Widerspruch dazu empfinden.

Die politische Soziologin Rosa Burç geht aber davon aus, dass die Türkei nicht gegen die Nato agiert, sondern "ihre Handlungsspielräume innerhalb der Nato zu erweitern und eigene panturkistische Ziele zu verfolgen versucht".

Das stehe nicht grundsätzlich in Widerspruch zu den geopolitischen Interessen der Nato, sagte die Analytikerin diese Woche im Gespräch mit der Tageszeitung ND. "Wahrscheinlich müssen wir uns einfach von binären Vorstellungen von Imperialismus verabschieden."

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