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Droht in Algerien die Machtübernahme der "Dienste"?

Proteste am 1. März. Foto: Sofian Philip Naceur

Die Massenproteste zeigen, dass die arabisch-islamische Welt kein monolithischer Block ist. Wie steht es um ihre Erfolgsaussichten?

Die beeindruckenden Großdemonstrationen gegen Algeriens greisen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika und das hinter ihm stehende "System" erhalten auch fünf Wochen nach Ausbruch dieser landesweiten Protestwelle weiter massiven Zulauf.

Das Ausmaß und die Intensität der Mobilisierung auf Algeriens Straßen sowie die Reife und das politische Bewusstsein der in allen Belangen äußerst heterogenen Protestbewegung weist dabei all jene in die Schranken, die die überwiegend junge algerische Bevölkerung noch 2011 - als der sogenannte "Arabische" Frühling in der Region wie ein Dominoeffekt die herrschenden Ordnungen in Frage stellte, an Algerien aber wie ein kurzer Regenschauer vorbeizog - für ihre Lethargie und Passivität belächelt hatten.

Die Vehemenz der anhaltenden Revolte gegen Algeriens intransparente Machtstrukturen zeigt einmal mehr, dass die arabisch-islamische Welt eben kein monolithischer Block ist wie in der internationalen Berichterstattung so oft suggeriert wird, sondern jedes Land und jede Gesellschaft entlang eigener Dynamiken und nationaler und regionaler historischer Gegebenheiten funktioniert.

Weite Teile der Bevölkerung von Teilhabe ausgeschlossen

Auch führen die derzeitigen Entwicklungen in Algerien deutlich vor Augen, dass revolutionäre Massenbewegungen nur dann eine Chance auf Durchschlagskraft haben, wenn sozioökonomische und politische Faktoren gleichermaßen weite Teile der Bevölkerung von politischer, kultureller und wirtschaftlicher Teilhabe ausschließen.

Das Algerien von 2011 und 2019 unterscheidet sich in diesem Zusammenhang fundamental. Der hohe Ölpreis erlaubte es Bouteflikas Clan in Algeriens hochfragmentiertem Machtgefüge mehr als ein Jahrzehnt lang, zahlreiche politisch relevante Akteure aus dem Bürokratie- und Sicherheitsapparat, der privaten Geschäftselite und selbst der Opposition zu kooptieren und damit ruhigzustellen.

Noch 2011 funktionierte dieses durch politische Liberalisierungsversprechen angereicherte Modell weitgehend reibungslos, denn Bouteflikas Clan konnte auf das vorsichtige Aufbegehren im Land mit finanziellen Anreizen reagieren. Gehälter in Teilen des Staatsdienstes und Subventionen auf Lebensmittel und Treibstoffe wurden erhöht, staatliche für Existenzgründungen junger Menschen vorgesehene Kreditprogramme ausgeweitet.

Zeitgleich bekamen andere, mit Bouteflikas Clique rivalisierende Fraktionen im Machtapparat ihren Teil vom Kuchen ab und hielten die Füße still.

Der Ölpreis

Doch seit dem Ende 2014 begonnenen Niedergang des Ölpreises, der sich in naher Zukunft kaum strukturell erholen wird, hat Algeriens regierende Klasse, die sprichwörtlich am Tropf der Erdöl- und Erdgasbranche hängt, massive Probleme, sich weiterhin mit den Erlösen aus dem Öl- und Gasexport einen fragilen sozialen und regimeinternen Frieden zu erkaufen.

Währungsreserven und Staatshaushalt sind seit 2015 eingebrochen, die Inflation ist explodiert. Die unter Exregierungschef Ahmed Ouyahia massiv intensivierte Gelddruckpolitik der Zentralbank feuert den Wertverfall des algerischen Dinars, der Importwaren deutlich teurer werden ließ, dabei noch zusätzlich an. Der offizielle Wechselkurs liegt heute bei rund 135 Dinar für einen Euro, auf dem Schwarzmarkt zahlt man mittlerweile zwischen 200 und 215 Dinar.

Die Gewerkschaften

Zeitgleich mit dem fiskalpolitischen und makroökonomischen Niedergang intensivierten sich in den letzten Jahren sozioökonomisch motivierte Proteste. Während die Bewegung der Arbeitslosen in Ouargla und die Gegner der höchst umstrittenen Schiefergasförderung in Ain Saleh im Süden des Landes schon seit 2015 mobil machen, wird seit 2017 vermehrt gestreikt.

Vor allem unabhängige Gewerkschaften im Gesundheits- und Bildungsbereich sorgten dabei für Schlagzeilen. Die 2018 ihren Höhepunkt erreichenden Streikwellen im Bildungssektor versandeten zwar weitgehend ergebnislos, ließen jedoch die unabhängige Gewerkschaftsszene enger zusammenrücken.

Streiks junger Ärzte und Medizinstudenten

Zu einer wirklichen Gefahr für den Status quo wurden aber vielmehr die monatelangen Proteste und Streiks junger Ärzte und Medizinstudenten, die nicht etwa höhere Gehälter, sondern bessere Arbeitsbedingungen und Investitionen in den Gesundheitssektor forderten und damit indirekt die umstrittene Ressourcenverteilungspolitik des Regimes in Frage stellten.

Schließlich wird Bouteflikas Clique nicht nur entfesselte Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen, sondern auch das Verprassen öffentlicher Mittel für umstrittene Großprojekte - die immer teurer werdende Große Moschee von Algier oder überteuerte Fußballstadien sind dabei nur die prominentesten Beispiele.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen der heute zurückhaltender auftretenden Gewerkschaft CAMRA und der Regierung versammelten sich Anfang 2018 Tausende Ärzte, Pharmazeuten und Studenten in der Innenstadt von Algier und hoben damit das seit 2001 geltende Versammlungsverbot in der Hauptstadt erstmals erfolgreich aus den Angeln [1].

In Algeriens jugendlicher Gesellschaft brodelt es

Mit rhetorisch schlagfertigen Kampagnen in sozialen Medien antwortete CAMRA zudem geschickt auf Diskreditierungsversuche der Regierung und zeigte damit zeitgleich, wie öffentlichkeitswirksam und effektiv sich der Regierungspropaganda via Facebook und Twitter begegnen lässt.

Derweil zeigte der jüngste massive Anstieg eines anderen im Land weit verbreiteten Phänomens, wie heftig es in Algeriens jugendlicher Gesellschaft brodelt. Denn zwar ist die irreguläre Migration algerischer Jugendlicher, die meist in kleinen Booten nach Italien oder Spanien übersetzen, nicht neu, doch die steigenden Zahlen algerischer harraga - so der in Algerien benutzte Begriff für algerische Migranten - seit 2017 sowie deren sich veränderndes Profil (die Mehrheit sind nach wie vor junge Männer, doch inzwischen wagen immer mehr Frauen und ganze Familien mit ihren Kindern die Überfahrt) gelten bereits seit Längerem als kaum zu überhörendes Warnsignal [2].

Bouteflikas Kandidatur bringt das Fass zum Überlaufen

Die bis heute anhaltenden landesweiten Massenproteste hatten derweil einen explizit politischen Auslöser. Die hinter dem 82jährigen Staatschef stehende Clique im Machtapparat konnte sich auf keine Alternative zum "Konsenskandidaten" Bouteflika einigen, der es zwischen seinem Amtsantritt 1999 bis zum Jahr 2015 geschafft hatte, eine Balance zwischen mehreren rivalisierenden Fraktionen im Machtapparat aufrechtzuerhalten.

Ausgelöst durch die eingebrochene Ölrente drängte sein Clan jedoch seit jenem Jahr andere Machtfraktionen sukzessive zurück und marginalisierte dabei sogar die zuvor als unantastbar geltenden Netzwerke um Algeriens "graue Eminenz", den langjährigen Chef des Geheimdienstes DRS, Mohamed "Tewfik" Mediène. Dieser wurde 2015 überraschend in den Ruhestand geschickt und sein DRS dem Präsidentenpalast unterstellt und umstrukturiert.

Ob die von Tewfik über 25 Jahre lang aufgebauten Netzwerke im Staats- und Sicherheitsapparat jedoch so einfach neutralisiert werden konnten, ist seither Gegenstand heftiger Debatten und Spekulationen.

Bouteflikas Clan konnte seither jedoch augenscheinlich unbedrängt durch den ehemals mächtigen Gegner aus dem Sicherheitsapparat die Ölrente monopolisieren und Schlüsselpositionen im Staatsapparat und der Wirtschaft übernehmen.

Um in diesem regimeinternen Tauziehen weiterhin die Oberhand zu behalten und die Kontrolle über den Präsidentenpalast nicht zu verlieren, aber auch aufgrund der Unfähigkeit sich auf eine andere charismatische und nicht völlig diskreditierte Alternative zu einigen, wagte es Bouteflikas Clan schlussendlich tatsächlich, den greisen Präsidenten für die eigentlich für den 18. April 2019 geplante Präsidentschaftswahl erneut zu nominieren.

Vertreter der hinter dem Staatschef stehenden Allianz aus vier politischen Parteien - der seit Algeriens Unabhängigkeit 1962 fast ununterbrochen regierenden FLN, Ouyahias RND, dem MPA von Amara Benyounes und der gemäßigt islamistischen TAJ von Amar Ghoul - , dem einflussreichen Unternehmerverband FCE und der Führungsetage des Gewerkschaftsverbandes UGTA wurden dabei monatelang nicht müde zu betonen, dass sich der Präsident bester Gesundheit erfreue und seinen Amtsgeschäften regulär nachgehen könne. Doch die offizielle Kandidatur schob man so lange hinaus wie möglich. Denn man hatte offenbar die Sprengkraft erkannt, die dessen abermalige Kandidatur entfalten könnte.

Und das ist auch kein Wunder. Denn Bouteflika sitzt seit einem Schlaganfall 2013 im Rollstuhl, hat 2012 das letzte Mal eine öffentliche Rede gehalten und macht bei den wenigen Anlässen, bei denen er seither durch die Öffentlichkeit geschoben oder bei Staatsbesuchen ausländischer Politiker abgelichtet wurde, keinen guten Eindruck. Auf die Veröffentlichung von Tonaufnahmen verzichtet sein Büro bereits seit seiner Wiederwahl 2014, denn damals konnte er nur mit Mühe seinen Amtseid vorlesen. Entsprechend grotesk muteten die Versuche seines Clans an, den alternden Staatschef für weitere fünf Jahre im Amt zu halten.

Während vor allem TAJ-Chef Ghoul, die Führungsriege der FLN und der seit 1997 amtierende Generalsekretär der UGTA, Abdelmajid Sidi Saïd, schon seit letztem Herbst die Werbetrommel für ein fünftes Mandat Bouteflikas rühren, wurde dessen Kandidatur erst Anfang Februar offiziell verkündet.

Nur eine Woche später zogen erstmals jeweils einige hundert Menschen durch mehrere Städte im Osten Algeriens und der berberisch geprägten Region Kabylei östlich von Algier und skandierten lautstark Parolen gegen Bouteflikas umstrittene Kandidatur und "Le Pouvoir" - "die Macht", wie Algeriens Regime im Land genannt wird.

Auf einmal waren es Hundertausende

Nachdem nur Tage später Demonstranten in Khenchela im Osten Algeriens die lokale Stadtverwaltung zwangen, ein überdimensionales Porträt Bouteflikas abzuhängen, vervielfältigten sich die anonymen Protestaufrufe in sozialen Netzwerken für den darauf folgenden Freitag [3].

Und der hatte es in sich. Hunderttausende folgten den Aufforderungen, am 22. Februar gegen Bouteflikas fünftes Mandat zu demonstrieren und zogen in fast allen Landesteilen friedlich durch die Straßen. Die Dynamik, die seit diesen ersten landesweiten Großprotesten weiter unaufhaltsam an Fahrt gewinnt, hat inzwischen fast alle gesellschaftlichen Schichten und ideologischen politischen Lager erreicht und eine beispiellose Mobilisierung in Algeriens Gesellschaft ausgelöst.

Während Anwaltsverbände und Studentenorganisationen, aber auch Richter, Journalisten und Verbände pensionierter und invalider ehemaliger Armeeangehöriger täglich Protestmärsche in Algier, Annaba, Oran und anderen Städten organisieren, bekommen die Freitagsproteste immer weiteren Zulauf und wachsen unaufhörlich.

Allein in Algier zogen am 8. und 15. März weit über eine Million Menschen aller Altersgruppen durch die Stadt und machten deutlich, dass sich die Protestbewegung mit nicht weniger zufrieden geben wird als mit echten politischen Reformen und einem Systemwechsel [4].

Am vergangenen Freitag setzte sich das Phänomen fort [5].

Aus der Vergangenheit gelernt

Bemerkenswert an den Massendemonstrationen ist derweil die politisch bewusste Art und Weise, mit der hier Algeriens Regime herausgefordert wird.

Denn zwar werden die Proteste vor allem von jungen Menschen getragen, die den blutigen Bürgerkrieg der 1990er Jahre nicht erlebt haben und demnach nur noch bedingt empfänglich sind für die Warnungen der älteren Generationen vor den möglichen verhängnisvollen Folgen politisch destabilisierender Massenproteste, doch diese Jugend beweist derzeit, dass man den Älteren in den letzten 20 Jahren durchaus zugehört hat.

Ein Szenario wie nach der Revolte von 1988 soll sich nicht wiederholen. Damals hatte Algerien das letzte Mal einen derartigen Massenaufstand erlebt, aus dem zunächst die Radikalislamisten politisches Kapital schlagen konnte. Nach dem Wahlsieg der radikalislamistischen FIS 1991 und dem darauf folgenden Militärputsch schlitterte das Land geradewegs in einen Bürgerkrieg, der bis zu 150.000 Menschen das Leben kosten sollte.

Damals gemachte strategische Fehler will die heutige Protestbewegung unter allen Umständen vermeiden. Algeriens Jugend hat zudem die Entwicklungen in der Region seit 2011 aufmerksam verfolgt und diskutiert derzeit rege, wie Bürgerkriegsszenarien wie in Syrien oder Libyen und blutigen Konterrevolutionen wie in Ägypten vorgebeugt werden kann.

Zentral dabei ist vor allem die konsequente Gewaltlosigkeit der Protestbewegung, die damit bisher äußerst erfolgreich den Druck auf die herrschenden Eliten aufrechterhalten konnte. Konfrontationen mit dem Polizeiapparat werden während der Proteste in bemerkenswerter Konsequenz vermieden, um Diskreditierungsversuchen regimenaher Kreise vorzubeugen.

Nur in Algier herrschte zu Beginn der Proteste eine bedingte Anspannung, die auch mit dem faktischen Demonstrationsverbot in der Stadt zusammenhing. Feuerten die bestimmte Hauptstraßen blockierenden Einsatzkräfte der Polizei Tränengas in die Menge, drehte sich diese einfach um und änderte die Route.

Nennenswerte Zusammenstöße gab es lediglich an den ersten Freitagen als kleinere Protestzüge versuchten zum von der Armee bewachten Präsidentenpalast El Mouradia vorzudringen. Und auch hier ging die Gewalt von in die Menschenmasse geschleusten Beamten in Zivil aus, wie zahlreiche Berichte in sozialen Medien nahelegen. Diese "bezahlten Schläger" tauchen seither vor allem auf den Freitagsdemonstrationen in Algier auf und sorgten jeweils für kurzweilige Auseinandersetzungen. Demonstranten agierten bisher jedoch in derlei Situationen in beeindruckend deeskalierender Manier und gingen einfach nach Hause.

Am 11. März reagierte das Regime derweil erstmals nennenswert auf die Proteste und versuchte der Bewegung mit begrenzten Zugeständnissen den Wind aus den Segeln zu nehmen. In einem Brief, dessen Urheberschaft als völlig unklar gilt, erklärte Bouteflika, er habe die Forderungen der Straße vernommen.

Der Wahlgang wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, eine "nationale Konferenz des Konsenses" unter Beteiligung der Opposition angekündigt, in dessen Rahmen eine neue Verfassung ausgearbeitet werden soll, und der auf den Demonstrationen massiv angefeindete Premierminister Ouyahia durch Innenminister Noureddine Bedoui an der Regierungsspitze ersetzt. Mit Ramtane Lamamra wurde zudem ein international gut vernetzter Spitzendiplomat mit dem neu geschaffenen Amt des Vizepremiers betraut.

Reorganisation des Regimes

Doch diese politisch motivierte Beruhigungspille zog nicht, denn die Proteste verloren keineswegs an Fahrt, sondern wuchsen nur noch weiter an. "Ihr verändert die Gesichter, dann verändern wir eben unsere Parolen", sagt ein Demonstrant während der bisher größten Massendemonstration in der Innenstadt von Algier am 15. März gegenüber Telepolis.

"Wir sagen: Die Suppe ist versalzen. Sie sagen: Dann tauschen wir die Löffel aus", ist auf einem Plakat zu lesen. Mit derlei politischen Manövern erkaufte sich das Regime demnach zwar erfolgreich Zeit, sorgte jedoch auch für eine weitere Politisierung der Protestbewegung und eine Konkretisierung politischer Forderungen.

Ging es zu Beginn der Proteste fast ausschließlich darum, Bouteflikas fünftes Mandat zu verhindern, werden heute eine zweite Republik und tiefgreifende Reformen gefordert. Es geht längst nicht mehr nur um Bouteflika, sondern um das System, das er repräsentiert.

Erfolgsaussichten

Ob ein solcher politischer Neuanfang Erfolg haben wird, ist jedoch absolut unklar. Denn zwar hat die bisher weiterhin weitgehend kopflose Bewegung durch die Verzögerungstaktik der Regierenden die Zeit bekommen, die sie braucht, um sich besser zu organisieren, Netzwerke aufzubauen und zu etablieren und politische Forderungen und Vorschläge für eine politische Übergangsphase zu diskutieren.

Inzwischen kursiert eine Vielzahl an Vorschlägen und Initiative, wie man die Dynamik der Bewegung aufrechterhalten und die herrschenden Eliten zu fundamentalen Zugeständnissen zwingen kann [6]. Doch auch Bouteflikas Clique und dessen Widersacher im Machtapparat stellen sich neu auf.

Sie arbeiten mit Hochdruck daran, sich auf ein Post-Bouteflika-Algerien vorzubereiten und die Protestbewegung mit Scheindebatten oder der Internationalisierung des Konfliktes - unter anderem vorangetrieben durch die im Land äußerst kritisch verfolgte Auslandsreise Lamamras nach Rom, Moskau und Berlin [7] - abzulenken.

Bouteflikas Unterstützerfront ist derweil praktisch in sich zusammengefallen. Sowohl in der UGTA und im FCE als auch in den Regimeparteien FLN [8] und RND [9] ist die anfängliche vorsichtige Kritik am Regierungslager und der Kandidatur des greisen Staatschef inzwischen in offene Rebellion gegen die jeweiligen Führungskader umgeschlagen. Immer mehr Profiteure der alten Ordnung wechseln zudem nach teils absurden Wortmeldungen oder Stellungnahmen die Seiten und stellen sich demonstrativ hinter die Protestbewegung.

Diese lässt sich zwar bisher von derlei Manövern nicht in die Irre führen und reagiert auf die allzu durchsichtigen Richtungsänderungen ehemaliger strammer Bouteflika-Unterstützer mit Humor und entlarvendem Sarkasmus, doch wie und ob es in ihrem Sinne weitergehen wird, bleibt offen.

Bewegung extrem zersplittert

Denn noch ist die Bewegung extrem zersplittert, potentielle Führungsfiguren, hinter denen sich weite Teile der demonstrierenden Jugend vereinigen könnten, sind zwar vorhanden, blieben bisher aber vorsichtig dabei, sich konkreten Initiativen anzuschließen. Die etablierte parteipolitische liberale und reformorientierte Opposition gilt derweil als ebenso weitgehend diskreditiert wie gemäßigt islamistische Parteien wie Al-Adala oder die MSP.

Auch Algeriens Linke ist schon seit Jahrzehnten kaum fähig, ihrer passiven Zuschauerrolle wirksam etwas entgegenzusetzen [10]. Die Wucht und die Vehemenz, mit der jedoch derzeit der politische Raum geöffnet und politisiert wird, dürfte sich so schnell nicht wieder legen. Die konsequente Gewaltlosigkeit der Protestformen macht es dem Regime- und Sicherheitsapparat extrem schwer, diese neu gewonnen Freiheiten so einfach wieder einzuschränken.

Der Sicherheits- und Geheimdienstapparat

Doch trotz diesem beeindruckenden und entwaffnenden Auftreten der Protestbewegung dürfte die Stärkung von im Sicherheits- und Geheimdienstapparat verankerten Regimefraktionen über kurz oder lang unausweichlich sein. Anzeichen, dass Teile des Sicherheitsapparates von Beginn an hinter den Protesten standen, mehren sich kontinuierlich.

Während die Einsatzkräfte der Polizei von Beginn an landesweit überraschend zurückhaltend agierten, unterschied die Polizeibehörde DGSN in ihren Stellungnahmen zu nach den Freitagsprotesten gemachten Verhaftungen explizit zwischen in Gewahrsam genommenen Krawallmachern oder Dieben und den Demonstrationen. Vormals als Verbündete Tewfiks bekannte Politiker wie die Generalsekretärin der trotzkistischen Arbeiterpartei PT, Louisa Hanoune, oder der Chef des Industrieunternehmens Cevital, Issad Rebrab, unterstützen die Proteste derweil ebenso von Beginn an.

Noch ist zwar absolut unklar, in welcher Form und mit welchem Zugpferd die dem ehemaligen DRS-Chef nahestehenden Netzwerke zurück auf die politische Bühne Algeriens drängen werden. Doch deren politische Stärkung gilt als unausweichlich.

Die große Unbekannte ist dabei weniger die Frage, ob die "Dienste" - wie Algeriens mächtiger Geheimdienstapparat im Land auch genannt wird - gestärkt aus den Protesten und dem Fall von Bouteflikas Clan an den Schaltstellen der zivilen politischen Macht in Algier hervorgehen werden, sondern vielmehr welche Vision sie für ein Post-Bouteflika-Algerien im Gepäck haben und ob sie sich auf eine inklusivere politische Ordnung bzw. Kompromisse mit der Protestbewegung einzulassen gedenken.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://de.qantara.de/inhalt/wirtschaftskrise-und-soziale-proteste-in-algerien-gewerkschaften-fordern-regierung-heraus
[2] https://issafrica.org/iss-today/algerias-protests-and-migration-the-fearmongers-have-it-wrong
[3] https://www.algerie-focus.com/2019/02/khenchela-le-portrait-de-bouteflika-arrache-de-la-facade-de-lapc-par-la-population/
[4] https://twitter.com/borzou/status/1107339814146359299
[5] https://twitter.com/LeilaBeratto/status/1109137822177546243
[6] https://www.tsa-algerie.com/transition-democratique-un-collectif-formule-une-feuille-de-route-en-six-etapes/undhierhttps://www.elwatan.com/edition/contributions/les-propositions-dahmed-mahiou-19-03-2019
[7] https://www.jeuneafrique.com/751969/politique/algerie-la-tournee-diplomatique-de-lamamra-signe-lechec-de-la-solution-politique-a-lechelle-nationale/
[8] https://www.huffpostmaghreb.com/entry/moued-bouchareb-le-fln-soutient-le-hirak-populaire_mg_5c922587e4b0dbf58e465114?ncid=tweetlnkfrhpmg00000009
[9] https://www.tsa-algerie.com/les-7-infos-a-retenir-de-la-journee-de-ce-mercredi-20-mars/
[10] https://www.monde-diplomatique.fr/2019/02/METREF/59523