Droht in Algerien die Machtübernahme der "Dienste"?
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Die Massenproteste zeigen, dass die arabisch-islamische Welt kein monolithischer Block ist. Wie steht es um ihre Erfolgsaussichten?
Die beeindruckenden Großdemonstrationen gegen Algeriens greisen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika und das hinter ihm stehende "System" erhalten auch fünf Wochen nach Ausbruch dieser landesweiten Protestwelle weiter massiven Zulauf.
Das Ausmaß und die Intensität der Mobilisierung auf Algeriens Straßen sowie die Reife und das politische Bewusstsein der in allen Belangen äußerst heterogenen Protestbewegung weist dabei all jene in die Schranken, die die überwiegend junge algerische Bevölkerung noch 2011 - als der sogenannte "Arabische" Frühling in der Region wie ein Dominoeffekt die herrschenden Ordnungen in Frage stellte, an Algerien aber wie ein kurzer Regenschauer vorbeizog - für ihre Lethargie und Passivität belächelt hatten.
Die Vehemenz der anhaltenden Revolte gegen Algeriens intransparente Machtstrukturen zeigt einmal mehr, dass die arabisch-islamische Welt eben kein monolithischer Block ist wie in der internationalen Berichterstattung so oft suggeriert wird, sondern jedes Land und jede Gesellschaft entlang eigener Dynamiken und nationaler und regionaler historischer Gegebenheiten funktioniert.
Weite Teile der Bevölkerung von Teilhabe ausgeschlossen
Auch führen die derzeitigen Entwicklungen in Algerien deutlich vor Augen, dass revolutionäre Massenbewegungen nur dann eine Chance auf Durchschlagskraft haben, wenn sozioökonomische und politische Faktoren gleichermaßen weite Teile der Bevölkerung von politischer, kultureller und wirtschaftlicher Teilhabe ausschließen.
Das Algerien von 2011 und 2019 unterscheidet sich in diesem Zusammenhang fundamental. Der hohe Ölpreis erlaubte es Bouteflikas Clan in Algeriens hochfragmentiertem Machtgefüge mehr als ein Jahrzehnt lang, zahlreiche politisch relevante Akteure aus dem Bürokratie- und Sicherheitsapparat, der privaten Geschäftselite und selbst der Opposition zu kooptieren und damit ruhigzustellen.
Noch 2011 funktionierte dieses durch politische Liberalisierungsversprechen angereicherte Modell weitgehend reibungslos, denn Bouteflikas Clan konnte auf das vorsichtige Aufbegehren im Land mit finanziellen Anreizen reagieren. Gehälter in Teilen des Staatsdienstes und Subventionen auf Lebensmittel und Treibstoffe wurden erhöht, staatliche für Existenzgründungen junger Menschen vorgesehene Kreditprogramme ausgeweitet.
Zeitgleich bekamen andere, mit Bouteflikas Clique rivalisierende Fraktionen im Machtapparat ihren Teil vom Kuchen ab und hielten die Füße still.
Der Ölpreis
Doch seit dem Ende 2014 begonnenen Niedergang des Ölpreises, der sich in naher Zukunft kaum strukturell erholen wird, hat Algeriens regierende Klasse, die sprichwörtlich am Tropf der Erdöl- und Erdgasbranche hängt, massive Probleme, sich weiterhin mit den Erlösen aus dem Öl- und Gasexport einen fragilen sozialen und regimeinternen Frieden zu erkaufen.
Währungsreserven und Staatshaushalt sind seit 2015 eingebrochen, die Inflation ist explodiert. Die unter Exregierungschef Ahmed Ouyahia massiv intensivierte Gelddruckpolitik der Zentralbank feuert den Wertverfall des algerischen Dinars, der Importwaren deutlich teurer werden ließ, dabei noch zusätzlich an. Der offizielle Wechselkurs liegt heute bei rund 135 Dinar für einen Euro, auf dem Schwarzmarkt zahlt man mittlerweile zwischen 200 und 215 Dinar.
Die Gewerkschaften
Zeitgleich mit dem fiskalpolitischen und makroökonomischen Niedergang intensivierten sich in den letzten Jahren sozioökonomisch motivierte Proteste. Während die Bewegung der Arbeitslosen in Ouargla und die Gegner der höchst umstrittenen Schiefergasförderung in Ain Saleh im Süden des Landes schon seit 2015 mobil machen, wird seit 2017 vermehrt gestreikt.
Vor allem unabhängige Gewerkschaften im Gesundheits- und Bildungsbereich sorgten dabei für Schlagzeilen. Die 2018 ihren Höhepunkt erreichenden Streikwellen im Bildungssektor versandeten zwar weitgehend ergebnislos, ließen jedoch die unabhängige Gewerkschaftsszene enger zusammenrücken.
Streiks junger Ärzte und Medizinstudenten
Zu einer wirklichen Gefahr für den Status quo wurden aber vielmehr die monatelangen Proteste und Streiks junger Ärzte und Medizinstudenten, die nicht etwa höhere Gehälter, sondern bessere Arbeitsbedingungen und Investitionen in den Gesundheitssektor forderten und damit indirekt die umstrittene Ressourcenverteilungspolitik des Regimes in Frage stellten.
Schließlich wird Bouteflikas Clique nicht nur entfesselte Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen, sondern auch das Verprassen öffentlicher Mittel für umstrittene Großprojekte - die immer teurer werdende Große Moschee von Algier oder überteuerte Fußballstadien sind dabei nur die prominentesten Beispiele.
Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen der heute zurückhaltender auftretenden Gewerkschaft CAMRA und der Regierung versammelten sich Anfang 2018 Tausende Ärzte, Pharmazeuten und Studenten in der Innenstadt von Algier und hoben damit das seit 2001 geltende Versammlungsverbot in der Hauptstadt erstmals erfolgreich aus den Angeln.
In Algeriens jugendlicher Gesellschaft brodelt es
Mit rhetorisch schlagfertigen Kampagnen in sozialen Medien antwortete CAMRA zudem geschickt auf Diskreditierungsversuche der Regierung und zeigte damit zeitgleich, wie öffentlichkeitswirksam und effektiv sich der Regierungspropaganda via Facebook und Twitter begegnen lässt.
Derweil zeigte der jüngste massive Anstieg eines anderen im Land weit verbreiteten Phänomens, wie heftig es in Algeriens jugendlicher Gesellschaft brodelt. Denn zwar ist die irreguläre Migration algerischer Jugendlicher, die meist in kleinen Booten nach Italien oder Spanien übersetzen, nicht neu, doch die steigenden Zahlen algerischer harraga - so der in Algerien benutzte Begriff für algerische Migranten - seit 2017 sowie deren sich veränderndes Profil (die Mehrheit sind nach wie vor junge Männer, doch inzwischen wagen immer mehr Frauen und ganze Familien mit ihren Kindern die Überfahrt) gelten bereits seit Längerem als kaum zu überhörendes Warnsignal.
Bouteflikas Kandidatur bringt das Fass zum Überlaufen
Die bis heute anhaltenden landesweiten Massenproteste hatten derweil einen explizit politischen Auslöser. Die hinter dem 82jährigen Staatschef stehende Clique im Machtapparat konnte sich auf keine Alternative zum "Konsenskandidaten" Bouteflika einigen, der es zwischen seinem Amtsantritt 1999 bis zum Jahr 2015 geschafft hatte, eine Balance zwischen mehreren rivalisierenden Fraktionen im Machtapparat aufrechtzuerhalten.
Ausgelöst durch die eingebrochene Ölrente drängte sein Clan jedoch seit jenem Jahr andere Machtfraktionen sukzessive zurück und marginalisierte dabei sogar die zuvor als unantastbar geltenden Netzwerke um Algeriens "graue Eminenz", den langjährigen Chef des Geheimdienstes DRS, Mohamed "Tewfik" Mediène. Dieser wurde 2015 überraschend in den Ruhestand geschickt und sein DRS dem Präsidentenpalast unterstellt und umstrukturiert.
Ob die von Tewfik über 25 Jahre lang aufgebauten Netzwerke im Staats- und Sicherheitsapparat jedoch so einfach neutralisiert werden konnten, ist seither Gegenstand heftiger Debatten und Spekulationen.
Bouteflikas Clan konnte seither jedoch augenscheinlich unbedrängt durch den ehemals mächtigen Gegner aus dem Sicherheitsapparat die Ölrente monopolisieren und Schlüsselpositionen im Staatsapparat und der Wirtschaft übernehmen.
Um in diesem regimeinternen Tauziehen weiterhin die Oberhand zu behalten und die Kontrolle über den Präsidentenpalast nicht zu verlieren, aber auch aufgrund der Unfähigkeit sich auf eine andere charismatische und nicht völlig diskreditierte Alternative zu einigen, wagte es Bouteflikas Clan schlussendlich tatsächlich, den greisen Präsidenten für die eigentlich für den 18. April 2019 geplante Präsidentschaftswahl erneut zu nominieren.
Vertreter der hinter dem Staatschef stehenden Allianz aus vier politischen Parteien - der seit Algeriens Unabhängigkeit 1962 fast ununterbrochen regierenden FLN, Ouyahias RND, dem MPA von Amara Benyounes und der gemäßigt islamistischen TAJ von Amar Ghoul - , dem einflussreichen Unternehmerverband FCE und der Führungsetage des Gewerkschaftsverbandes UGTA wurden dabei monatelang nicht müde zu betonen, dass sich der Präsident bester Gesundheit erfreue und seinen Amtsgeschäften regulär nachgehen könne. Doch die offizielle Kandidatur schob man so lange hinaus wie möglich. Denn man hatte offenbar die Sprengkraft erkannt, die dessen abermalige Kandidatur entfalten könnte.
Und das ist auch kein Wunder. Denn Bouteflika sitzt seit einem Schlaganfall 2013 im Rollstuhl, hat 2012 das letzte Mal eine öffentliche Rede gehalten und macht bei den wenigen Anlässen, bei denen er seither durch die Öffentlichkeit geschoben oder bei Staatsbesuchen ausländischer Politiker abgelichtet wurde, keinen guten Eindruck. Auf die Veröffentlichung von Tonaufnahmen verzichtet sein Büro bereits seit seiner Wiederwahl 2014, denn damals konnte er nur mit Mühe seinen Amtseid vorlesen. Entsprechend grotesk muteten die Versuche seines Clans an, den alternden Staatschef für weitere fünf Jahre im Amt zu halten.
Während vor allem TAJ-Chef Ghoul, die Führungsriege der FLN und der seit 1997 amtierende Generalsekretär der UGTA, Abdelmajid Sidi Saïd, schon seit letztem Herbst die Werbetrommel für ein fünftes Mandat Bouteflikas rühren, wurde dessen Kandidatur erst Anfang Februar offiziell verkündet.
Nur eine Woche später zogen erstmals jeweils einige hundert Menschen durch mehrere Städte im Osten Algeriens und der berberisch geprägten Region Kabylei östlich von Algier und skandierten lautstark Parolen gegen Bouteflikas umstrittene Kandidatur und "Le Pouvoir" - "die Macht", wie Algeriens Regime im Land genannt wird.
Auf einmal waren es Hundertausende
Nachdem nur Tage später Demonstranten in Khenchela im Osten Algeriens die lokale Stadtverwaltung zwangen, ein überdimensionales Porträt Bouteflikas abzuhängen, vervielfältigten sich die anonymen Protestaufrufe in sozialen Netzwerken für den darauf folgenden Freitag.
Und der hatte es in sich. Hunderttausende folgten den Aufforderungen, am 22. Februar gegen Bouteflikas fünftes Mandat zu demonstrieren und zogen in fast allen Landesteilen friedlich durch die Straßen. Die Dynamik, die seit diesen ersten landesweiten Großprotesten weiter unaufhaltsam an Fahrt gewinnt, hat inzwischen fast alle gesellschaftlichen Schichten und ideologischen politischen Lager erreicht und eine beispiellose Mobilisierung in Algeriens Gesellschaft ausgelöst.
Während Anwaltsverbände und Studentenorganisationen, aber auch Richter, Journalisten und Verbände pensionierter und invalider ehemaliger Armeeangehöriger täglich Protestmärsche in Algier, Annaba, Oran und anderen Städten organisieren, bekommen die Freitagsproteste immer weiteren Zulauf und wachsen unaufhörlich.
Allein in Algier zogen am 8. und 15. März weit über eine Million Menschen aller Altersgruppen durch die Stadt und machten deutlich, dass sich die Protestbewegung mit nicht weniger zufrieden geben wird als mit echten politischen Reformen und einem Systemwechsel.
Am vergangenen Freitag setzte sich das Phänomen fort.