Droht in Algerien die Machtübernahme der "Dienste"?

Seite 2: Aus der Vergangenheit gelernt

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Bemerkenswert an den Massendemonstrationen ist derweil die politisch bewusste Art und Weise, mit der hier Algeriens Regime herausgefordert wird.

Denn zwar werden die Proteste vor allem von jungen Menschen getragen, die den blutigen Bürgerkrieg der 1990er Jahre nicht erlebt haben und demnach nur noch bedingt empfänglich sind für die Warnungen der älteren Generationen vor den möglichen verhängnisvollen Folgen politisch destabilisierender Massenproteste, doch diese Jugend beweist derzeit, dass man den Älteren in den letzten 20 Jahren durchaus zugehört hat.

Ein Szenario wie nach der Revolte von 1988 soll sich nicht wiederholen. Damals hatte Algerien das letzte Mal einen derartigen Massenaufstand erlebt, aus dem zunächst die Radikalislamisten politisches Kapital schlagen konnte. Nach dem Wahlsieg der radikalislamistischen FIS 1991 und dem darauf folgenden Militärputsch schlitterte das Land geradewegs in einen Bürgerkrieg, der bis zu 150.000 Menschen das Leben kosten sollte.

Damals gemachte strategische Fehler will die heutige Protestbewegung unter allen Umständen vermeiden. Algeriens Jugend hat zudem die Entwicklungen in der Region seit 2011 aufmerksam verfolgt und diskutiert derzeit rege, wie Bürgerkriegsszenarien wie in Syrien oder Libyen und blutigen Konterrevolutionen wie in Ägypten vorgebeugt werden kann.

Zentral dabei ist vor allem die konsequente Gewaltlosigkeit der Protestbewegung, die damit bisher äußerst erfolgreich den Druck auf die herrschenden Eliten aufrechterhalten konnte. Konfrontationen mit dem Polizeiapparat werden während der Proteste in bemerkenswerter Konsequenz vermieden, um Diskreditierungsversuchen regimenaher Kreise vorzubeugen.

Nur in Algier herrschte zu Beginn der Proteste eine bedingte Anspannung, die auch mit dem faktischen Demonstrationsverbot in der Stadt zusammenhing. Feuerten die bestimmte Hauptstraßen blockierenden Einsatzkräfte der Polizei Tränengas in die Menge, drehte sich diese einfach um und änderte die Route.

Nennenswerte Zusammenstöße gab es lediglich an den ersten Freitagen als kleinere Protestzüge versuchten zum von der Armee bewachten Präsidentenpalast El Mouradia vorzudringen. Und auch hier ging die Gewalt von in die Menschenmasse geschleusten Beamten in Zivil aus, wie zahlreiche Berichte in sozialen Medien nahelegen. Diese "bezahlten Schläger" tauchen seither vor allem auf den Freitagsdemonstrationen in Algier auf und sorgten jeweils für kurzweilige Auseinandersetzungen. Demonstranten agierten bisher jedoch in derlei Situationen in beeindruckend deeskalierender Manier und gingen einfach nach Hause.

Am 11. März reagierte das Regime derweil erstmals nennenswert auf die Proteste und versuchte der Bewegung mit begrenzten Zugeständnissen den Wind aus den Segeln zu nehmen. In einem Brief, dessen Urheberschaft als völlig unklar gilt, erklärte Bouteflika, er habe die Forderungen der Straße vernommen.

Der Wahlgang wurde auf unbestimmte Zeit verschoben, eine "nationale Konferenz des Konsenses" unter Beteiligung der Opposition angekündigt, in dessen Rahmen eine neue Verfassung ausgearbeitet werden soll, und der auf den Demonstrationen massiv angefeindete Premierminister Ouyahia durch Innenminister Noureddine Bedoui an der Regierungsspitze ersetzt. Mit Ramtane Lamamra wurde zudem ein international gut vernetzter Spitzendiplomat mit dem neu geschaffenen Amt des Vizepremiers betraut.

Reorganisation des Regimes

Doch diese politisch motivierte Beruhigungspille zog nicht, denn die Proteste verloren keineswegs an Fahrt, sondern wuchsen nur noch weiter an. "Ihr verändert die Gesichter, dann verändern wir eben unsere Parolen", sagt ein Demonstrant während der bisher größten Massendemonstration in der Innenstadt von Algier am 15. März gegenüber Telepolis.

"Wir sagen: Die Suppe ist versalzen. Sie sagen: Dann tauschen wir die Löffel aus", ist auf einem Plakat zu lesen. Mit derlei politischen Manövern erkaufte sich das Regime demnach zwar erfolgreich Zeit, sorgte jedoch auch für eine weitere Politisierung der Protestbewegung und eine Konkretisierung politischer Forderungen.

Ging es zu Beginn der Proteste fast ausschließlich darum, Bouteflikas fünftes Mandat zu verhindern, werden heute eine zweite Republik und tiefgreifende Reformen gefordert. Es geht längst nicht mehr nur um Bouteflika, sondern um das System, das er repräsentiert.