Verdachtsfall AfD: Keine Sternstunde für die Demokratie
Um die AfD als rechtsextrem zu erkennen, braucht es keinen Verfassungsschutz. Um ihr entgegenzutreten, auch nicht. Eine andere Gefahr wird unterschätzt. Ein Kommentar.
Es war für niemanden eine Überraschung, dass das Oberverwaltungsgericht Münster am 13. Mai entschieden hat, dass der Verfassungsschutz die AfD und ihre Jugendorganisation weiterhin als rechtsextremen Verdachtsfall einstufen, sie beobachten und darüber auch in Verfassungsschutzberichten informieren darf.
Jubel bei politischer Konkurrenz und Gegnern der AfD
Wenig überraschend war auch, dass eine ganz große Koalition von Politikern – von der CSU bis zu den Linken – diese Entscheidung, gegen den keine Revision möglich ist, begrüßt hat. Es ist auch bezeichnend, dass auch die meisten Medien die Entscheidung begrüßt haben.
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Peinlich ist, dass der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, nach der Entscheidung ins Fabulieren kommt: "Die Sonne lacht heute über Köln. Die Sonne lacht über Münster. Die Sonne lacht für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung", wird Haldenwang von der dpa zitiert.
Kein Frühwarnsystem im Hinblick auf Rechtsterrorismus
Nun hat Haldenwang gut lachen, weil die Entscheidung ihm und seiner Behörde weiterhin Geld in die Kassen spielt. Es ist knapp über ein Jahrzehnt her, da war selbst ein großer Teil der Liberalen in Deutschland der Ansicht, dass der Verfassungsschutz aufgelöst werden sollte.
Nach der Selbstaufdeckung der rechten Terrorgruppe NSU hatten viele Menschen sich gefragt: Warum benötigen wir eine Behörde wie den Verfassungsschutz, die immer nah dran war an den untergetauchten Rechtsterroristen, aber keine Rolle bei deren Aufdeckung spielte, eher im Gegenteil.
Geheimdienst als Fremdkörper der Demokratie
Der Bürgerrechtler Rolf Gössner, der selbst über Jahre rechtswidrig vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, brachte die Ablehnung des Geheimdienstes in der antifaschistischen Zeitschrift Der Rechte Rand kurz und prägnant auf den Punkt:
Der "Verfassungsschutz" (VS) ist ein antikommunistisch geprägter, skandalgeneigter Inlandsgeheimdienst, der seine eigene altnazistische Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet hat, der im Kampf gegen Nazismus versagt, der Verfassung und Demokratie gefährdet und öffentlich nicht kontrollierbar ist. Gerade in seiner Ausprägung als Geheimdienst ist der VS Fremdkörper in der Demokratie, weil er demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht.
Ralf Gössner
An dieser Analyse hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert. Trotzdem ist es interessant zu beobachten, wie der Widerstand gegen den Verfassungsschutz auch in linken Kreisen innerhalb weniger Jahre zusammengeschmolzen ist wie Schnee in der Sonne.
Spätestens mit dem Wechsel vom rechtskonservativen Geheimdienstchef Hans-Georg Maaßen zum liberalkonservativen Haldenwang lernten zahlreiche Linke und Liberale den Verfassungsschutz, wenn nicht zu lieben, dann doch zumindest zu akzeptieren. Immerhin hat der linksliberale Publizist Heribert Prantl noch 2021 in der Süddeutschen Zeitung begründet, warum der Verfassungsschutz aufgelöst werden sollte.
AfD: Rechtsextrem auch ohne amtlichen Stempel
Dabei ist auch der Aufstieg der AfD kein Argument für einen Geheimdienst. Es braucht keinen behördlichen Stempel, um zu erkennen, dass die AfD extrem rechts ist. Schließlich haben antifaschistische Gruppen über viele Jahre die AfD und ihr Umfeld viel präziser analysiert. Statt staatlicher Repression braucht es zivilgesellschaftliches Engagement.
Diese Gruppen werden aber oft genug von genau diesem Verfassungsschutz behindert, bespitzelt und selbst als "extremistisch" im Verfassungsschutzberichten aufgelistet. Davon blieb selbst die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), die von Widerstandskämpfern gegen den Hitler-Faschismus gegründet worden war, nicht verschont. Auftauchen können hier alle Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen, die grundsätzliche Kritik an der aktuellen Politik haben.
Zu den Zielobjekten des Verfassungsschutzes gehören Antimilitarismus, Klimaaktivismus und Gewerkschaftslinke. Die Konsequenzen aus dem Tun dieser Behörde waren oft auch Berufsverbote, Zerstörung von Berufs- und Lebensperspektiven. All das sind Gründe, die Auflösung der Behörde zu verlangen.
Verletzungen von Menschenwürde ohne Konsequenzen
Wenn nun das Oberverwaltungsgericht Münster den Verdachtsfall AfD damit begründet, dass die Partei die Menschenwürde von Migranten angreift, hört sich das erst einmal plausibel an. Doch hier wird nur zwischen staatlich akzeptierter und nicht akzeptierter Verletzung der Menschenwürde unterschieden.
Es gibt viele Formen von Verletzung der Menschenwürde im real existierenden Kapitalismus. Das kann in der Arbeitswelt, im Jobcenter oder bei der Wohnungssuche geschehen. Nur wenige Formen werden vom Verfassungsschutz moniert. Mit der Entscheidung wird der repressive Staatsapparat weiter gestärkt, was in Zukunft nicht in erster Linie die AfD und ihr Umfeld treffen muss.
AfD vs. Anarchos: Aufruf zum Wahlboykott als Verdachtsfall?
Es wird heute kaum noch registriert, wenn wieder einmal der repressive Staatsapparat Diskussionen verhindert, die argumentativ ausgetragen werden könnten. Da soll ein ehemaliger SPD-Politiker 7.000 Euro Strafe zahlen, weil er das Vorgehen der russischen Behörden auf der Krim mit einem Satz im Internet gerechtfertigt haben soll.
Die neu geschaffene Verfassungsschutz-Kategorie "Delegitimierung des Staates" öffnet Tür und Tor für die Ausweitung des repressiven Staatsapparates. Das kann auch die Forderung nach einem Wahlboykott treffen. Zumindest die grüne Europaabgeordnete Hannah Neumann verbucht diese langjährige anarchistische Forderung unter "Hass auf Politiker" und nennt sie in der taz in einem Atemzug mit körperlichen Angriffen.
Im letzten Europawahlkampf zum Beispiel. An der Fassade unseres Mehrfamilienhauses waren Plakate mit der Botschaft zum Wahlboykott angebracht worden. In der ganzen Straße nur an unserem Haus. Wie eine Markierung. Ich hatte die Polizei gerufen, um den Vorfall dokumentieren zu lassen. Der Beamte meinte allerdings, dass die Plakate auch angebracht worden sein könnten, weil unser Haus das hellste in der Straße sei. Auf der Bedrohungsskala habe ich mich mittlerweile "hochgearbeitet".
Hannah Neumann, taz
Bürgerliche Demokratie und liberaler Autoritarismus
Nun ist es verständlich, dass Politiker keine großen Freunde von Wahlboykottkampagnen sind. Es ist aber kein Zeichen für Demokratie, wenn Wahlboykott-Plakate zum Polizeieinsatz führen und eine alte anarchistische Forderung, die völlig legal ist, als Teil einer Hasskampagne gegen die Politiker verstanden wird.
Die Verdachtsfall-Entscheidung gegen die AfD ist so nur ein Baustein eines liberalen Autoritarismus. Dies ist keine Sternstunde, sondern Zeichen eines Verfalls bürgerlicher Demokratie.