Kamikazedrohnen gegen Panzer: Ein Blick auf die neue Kriegsführung
Ukraine-Krieg: Interview mit Oberst Markus Reisner über Herausforderungen und Abwehrmaßnahmen im Kampf gegen FPV-Drohnen.
Markus Reisner ist ein von Medien viel gefragter Militärexperte. Der Oberst des Generalstabsdienstes des Österreichischen Bundesheers blickt auf eine lange militärische Karriere zurück: Er war fast ein Jahrzehnt bei österreichischen Spezialkräften (Jagdkommando) tätig.
Zugleich arbeitet er als Militärhistoriker und ist Vorstandsmitglied des Clausewitz Netzwerks für Strategische Studien.
Telepolis-Autor Lars Lange fragte den Experten zur Rolle des Panzers im modernen Krieg.
Herausforderungen durch FPV-Kamikazedrohnen
▶ Die Panzerwaffe wird auf dem modernen Gefechtsfeld besonders durch kleine, billige FPV-Kamikazedrohnen herausgefordert. Was sind derzeit die erfolgreichsten Abwehrmaßnahmen?
Markus Reisner: Hier kann man grundsätzlich zwischen aktiven und passiven Abwehrsystemen unterscheiden. Zu aktiven Systemen zählen: mitgeführte im elektromagnetischen Feld wirkende Störsystem unterschiedlicher Leistungsfähigkeit (unterschiedliche Frequenzbereiche!).
Hinzu kommen passive Abwehrmaßnahmen wie z.B.: improvisierte bautechnische Verstärkungen wie Stahlgitterkonstruktionen ("Cope Cage" bzw. "Turtle Tank") sowie Reaktivpanzerungen (wirkt auch bei FPV-Drohnen).
Die meisten Panzerverluste im Krieg in der Ukraine entstehen durch Minen, gefolgt von Artillerie und direktem Beschuss von Panzerabwehrlenkwaffen. Die Verluste durch FPV-Drohnen nahmen aber ab 2023 stetig zu. Beachten Sie: Sie sehen immer nur die erfolgreichen FPV-Videos!
Zukunft der Panzerabwehr: Kombination von Systemen
▶ Welche Abwehrmaßnahmen sind in naher Zukunft am erfolgversprechendsten? Wie sind unbemannte Waffenstationen zu bewerten, die moderne Panzer bereits heute mit sich führen? Können diese zu Abwehrsystemen gegen Drohnen im Nahbereich aufgerüstet werden?
Markus Reisner: Hier liegt der Schlüssel in einer Kombination unterschiedlicher aktiver und passiver Systeme. Aktive Maßnahmen: kombinierte (verschiedene FQ-Bänder abdeckende) mitgeführte im elektromagnetischen Feld wirkende Störsysteme unterschiedlicher Leistungsfähigkeit sowie Nahbereichsverteidigungssysteme (analog dem israelischen System "Trophy").
An passiven Maßnahmen sind zu nennen: improvisierte bautechnische Verstärkungen (Stahlgitterkonstruktionen unterschiedlicher Bauart und Funktion), Reaktivpanzerungen, sowie Begleitfahrzeuge mit Nahbereichsverteidigungssystemen (inkl. Störsysteme, v.a. gegen Drohnen vom Typ "Lancet")
Einsatz russischer Abstandsaktiver Schutzsysteme
▶ Russland verfügt über ein Abstandsaktives Schutzsystem (APS) für Panzer. Wird dieses System in der Ukraine eingesetzt? Kann ein APS Drohnen abwehren?
Markus Reisner: Die russischen Streitkräfte setzen vereinzelt Arena-M ein. Dies eignet sich grundsätzlich auch im Einsatz gegen FPV-Drohnen. Ein flächendeckender Einsatz von APS-Systemen ist derzeit jedoch nicht zu beobachten. Die Gründe sind vermutlich vielfältig. Dazu zählen: hohe Kosten, schwierige Instandsetzung und Versorgung, technische unausgereifter Zustand sowie mangelnde Ausbildung der Besatzungen.
▶ Was scheint der Grund dafür zu sein, dass Russland seinen modernsten Panzer, den T-14 Armata, nicht in Großserie baut?
Markus Reisner: Im Moment richten sich alle Anstrengungen auf die vereinfachte Massenfertigung bewährter Modelle (v.a. T-72B3M und B3). Hinzu kommt die Instandsetzung der eigentlich bereits ausrangierten Modelle.
Man geht davon aus, dass Russland sich bei der Instandsetzung aus einem Potential von ca. 16.000 Kampfpanzer bedienen kann. Von diesen können ca. 20 Prozent relativ leicht wieder instand gesetzt werden. Diesen Anstrengungen der russischen Rüstungsindustrie wird im Moment alles untergeordnet.
Produktion und Modernisierung russischer Panzer
▶ Ist Russland derzeit imstande, die jüngsten Verluste an Panzern, die seit dem 1. Januar dieses Jahres zu verzeichnen sind, mit dem Zulauf neuer oder modernisierter Panzern zu kompensieren?
Markus Reisner: Mit der derzeitigen Produktions- und Instandsetzungsrate von knapp 1.000 Kampfpanzern/Jahr (200 Neuproduktion/800 Instandsetzung) ist Russland in der Lage zumindest noch zwei bis drei Jahre die derzeitige Verlustrate ohne Einschränkungen zu ertragen.
Mit Stand 11. Mai 2024 stehen (gem. Oryx) 3.005 verlorenen russischen Panzern insgesamt 815 ukrainischen gegenüber. Ein Verhältnis 3,7 : 1. Die militärische Norm verlangt bei einem Angriff gegen einen vorbereiteten Gegner ein Verhältnis 4:1.
Im Moment gehen Analysten davon aus, dass sich im Einsatz in der Ukraine ca. 3.000 russische Kampfpanzer befinden. Hinzu kommen weitere 400, welche im Raum nördlich Charkiw bereitgestellt sind.
Der improvisierte "Turtle-Tank": Eine Notlösung
▶ Russland erprobt derzeit eine improvisierte Panzerung, die so genannte Schildkröte ("Turtle-Tank"). Dabei wird der Panzer noch einmal fast vollständig in eine angeschweißte, hüttenähnliche Panzerung gehüllt. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Markus Reisner: Diese Entwicklung ist aus der Not geboren und stellt einen erfolgreichen russischen Versuch dar, sich gegen den Einsatz von FPV-Drohnen zu schützen. Der Panzer wird jedoch faktisch zu einem "Sturmgeschütz" degradiert.
Er büßt an Beweglichkeit (Gewicht!) und Feuerkraft (Einschränkungen die Turmrotation betreffend) ein. Derart umgebaute Kampfpanzer werden zudem meist mit einem Minenräumsystem ausgestattet und stellen damit meist die Spitze eines Sturmelements dar. In einem derartigen Einsatz sind sie vorrangiges Ziel.
Veränderte Kriegsführung: Panzer unterstützen Infanterie
▶ Die Panzer, die wir heute in der Ukraine im Einsatz sehen, sind vom Design her aus den 1970er-Jahren. Sie wurden hauptsächlich entwickelt, um gegen andere Panzer kämpfen zu können. In dieser Rolle finden wir sie heute nur noch sehr selten. Was ist die neue Rolle der Panzer in der Ukraine?
Markus Reisner: Im derzeit in der Ukraine vorherrschenden Abnützungskrieg fehlen im Moment groß angelegte Manöver von mechanisierten Verbänden. Jede umfangreiche Bereitstellung (beider Seiten) wird durch Aufklärungsdrohnen erkannt und dies führt sofort zum massierten Einsatz von FPV-Drohnen oder Artillerie.
Der Panzer fungiert daher derzeit vor allem als Unterstützungswaffe für die Infanterie. In gemischten zug- bis kompaniestarken Angriffsgruppen wird versucht, Gelände in Besitz zu nehmen und zu halten. Der Kampfpanzer fungiert hier als Durchbruchs und Feuerunterstützungsplattform.
Der Einsatz leichter, ungeschützter Fahrzeuge
▶ Eine bemerkenswerte Entwicklung ist der Einsatz des chinesischen Desertcross auf russischer Seite, ein kleines und leichtes Geländefahrzeug, das jedoch keinerlei Schutz bietet. Das Fahrzeug ist nicht einmal mit Blech verkleidet, und trotzdem sehen wir Sturmangriffe mit diesem Gerät.
Gehen der russischen Seite die gepanzerten Fahrzeuge aus? Oder was steckt hinter dem Einsatz des Desertcross?
Markus Reisner: Hier wird versucht beim Verbringen/Absetzen der Infanterie hohe Beweglichkeit im Gegensatz zu starker Panzerung zur Anwendung zu bringen. Dies stellt eine Notlösung dar und führt bei frühzeitigem Erkennen meist ausnahmslos zur Vernichtung des eingesetzten Trupps.
Ist der Trupp jedoch schnell genug und agiert unerkannt, kann ein Einsatz gelingen. Ähnliche Gefechtstechniken und Taktiken werden auch mit Motorrädern umgesetzt. Auch hier ist es das Ziel überraschend und schnell zu agieren, bevor es noch zu Gegenmaßnahmen des Verteidigers kommt. Derartige Taktiken gegen z. T. noch auf den 2. Weltkrieg (Motorradaufklärungsbataillon oder -regiment) zurück.
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Die Rolle von Bodendrohnen im Ukraine-Krieg
▶ Im Bereich der Flugdrohnen hat es in den letzten zwei Jahren eine rasante Entwicklung gegeben. Wie sieht dagegen die Entwicklung bei unbemannten Bodenfahrzeugen aus, spielen Bodendrohnen im Ukraine-Krieg eine Rolle?
Markus Reisner: Ihre Rolle nimmt stetig zu. Sie eignen sich im Besonderen als Unterstützungselement zur Erkundung und Aufklärung. Ist ein Abschnitt durch den Einsatz eines unbemannten Landroboters als minder befestigt oder kaum verteidigt erkannt, ist es möglich bemannte Systeme nachzuschieben. Kommt es zu einer massiven Abwehrreaktion, ist nur der Verlust des Roboters zu beklagen, nicht aber der Soldaten.
Der Panzer der Zukunft: Verbesserter Eigenschutz gegen Drohnen
▶ Wie wird der Panzer der Zukunft aussehen? Wird es den Panzer, wie wir ihn heute kennen, überhaupt noch geben? Wird es in 10 Jahren noch hochentwickelte Technologienationen geben, die bemannte Panzer bauen?
Markus Reisner: Die Rolle des Panzers bleibt auch in Zukunft bis auf weiteres unverändert. Mit hoher Feuerkraft, Beweglichkeit und Panzerung ausgestattet, eignet er sich im Besonderen zur kampfkräftigen Inbesitznahme eines Angriffsziels.
Um diese Fähigkeiten zu behalten, und um der Bedrohung durch Kamikazedrohnen entgegentreten zu können, muss jedoch in Zukunft der Eigenschutz des Kampfpanzers wesentlich verbessert werden. Durch bordeigene Systeme (aktive/passive Abwehrsysteme), sowie durch begleitende Fähigkeitsträger (z. B. Nahbereichsfliegerabwehr, Störsysteme).