EU-Diplomaten zu Ukraine-Krieg: Raketenangriff auf Marktplatz in Kostjantyniwka kein Versehen

Selenskyj vor UNO: Bericht der NYT bringt ihn in Bedrängnis. Bild: @ZelenskyyUa

16 Menschen getötet, Dutzende verletzt. Erst beklagten EU-Diplomaten mögliches Kriegsverbrechen. Dann sah NYT Kiew in Verantwortung. Wie reagieren Brüssel und Berlin nun?

Die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen wurde von einem Disput um ein mutmaßliches Kriegsverbrechen überschattet.

Recherchen der New York Times legen nahe, dass eine Rakete, die am 6. September auf dem Marktplatz der ostukrainischen Stadt Kostjantyniwka eingeschlagen ist, von ukrainischer Seite stammte. Die Regierung in Kiew und das Militär stellen dies in Abrede und bezeichnen entsprechende Berichte als Propaganda.

Der Fall dürfte in den USA die Kontroverse über die Perspektive des Krieges und die Notwendigkeit eines diplomatischen Auswegs anheizen und auch in der EU für Debatten sorgen.

Denn nach einem internen EU-Dokument, das Telepolis vorliegt, wertete der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) den Angriff bei einer Sitzung einen Tag später als mögliches Kriegsverbrechen – damals freilich noch von russischer Seite. Zu der Recherche der NYT, die am Montag dieser Woche öffentlich wurden, haben sich seither weder Brüssel noch Berlin geäußert.

Bei dem Einschlag des Geschosses auf den belebten Markt der ostukrainischen Stadt waren 16 Menschen getötet worden. Mehr als 30 Personen wurden teilweise schwer verletzt. Russische Truppen befinden sich rund 20 Kilometer östlich sowie etwa 30 Kilometer südlich von Kostjantyniwka.

Der Fall könnte nun Selenskyj und die westlichen Verbündeten der Ukraine in die Bredouille bringen. Bei seiner Rede vor Vertretern der UN-Mitgliedsstaaten hatte der ukrainische Präsident dafür plädiert, gemeinsam gegen den russischen Angriffskrieg vorzugehen und die Verantwortlichen zu bestrafen.

"Während Russland die Welt an den Rand eines endgültigen Krieges drängt, tut die Ukraine alles dafür, dass nach dem Ende der russischen Aggression niemand mehr wagt, eine andere Nation anzugreifen", zitiert die Nachrichtenagentur dpa aus seiner Rede. Selenskyj betonte in einer Aufzählung von Forderungen unter anderem: "Kriegsverbrechen müssen bestraft werden."

Die Recherchen der NYT sind für Kiew daher äußerst unangenehm, zumal die Zeitung ihre Recherche mit detaillierten Informationen untermauert.

Einer der tödlichsten Angriffe seit Monaten

Der Raketenangriff auf dem Marktplatz der ostukrainischen Stadt sei "einer der tödlichsten (solcher Zwischenfälle) in der Ukraine seit Monaten" gewesen, so die NYT.

Eine mit Metallsplittern beladene Rakete sei zwischen den Menschen eingeschlagen, die Fragmente hätten Fenster und Wände durchschlagen und "einige Opfer bis zur Unkenntlichkeit" verstümmelt.

Weniger als zwei Stunden später bereits habe Selenskyj russische "Terroristen" für den Angriff verantwortlich gemacht. Diese Reaktion sei von zahlreichen Medien verbreitet worden, weil sie ins Bild passte:

"Im Zuge des Einmarschs in die Ukraine hat Russland wiederholt und systematisch Zivilisten angegriffen und Schulen, Märkte sowie Wohnhäuser attackiert, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen", schreibt das Blatt.

Auch in Kostjantyniwka seien im April Häuser und ein Kindergarten bombardiert worden, wobei sechs Menschen ums Leben kamen. Weiter heißt es in dem Bericht der US-Zeitung:

Die von der New York Times gesammelten und analysierten Beweise, darunter Raketensplitter, Satellitenbilder, Zeugenaussagen und Beiträge in den sozialen Medien, deuten jedoch stark darauf hin, dass der katastrophale Angriff das Ergebnis einer fehlgeleiteten ukrainischen Luftabwehrrakete war, die von einem Buk-Raketensystem abgefeuert wurde.

Der Angriff scheint ein tragischer Unfall gewesen zu sein. Luftverteidigungsexperten zufolge können Raketen wie die auf dem Markt eingeschlagene aus verschiedenen Gründen vom Kurs abkommen, zum Beispiel aufgrund einer elektronischen Fehlfunktion oder einer beim Start beschädigten oder abgescherten Leitflosse.

New York Times

Zu dem blutigen Zwischenfall sei es inmitten von Kampfhandlungen in der Umgebung gekommen. Russische Streitkräfte hätten Kostjantyniwka erst in der Nacht zuvor bombardiert und nur wenige Minuten vor dem Einschlag der Rakete sei über einen lokalen Telegram-Kanal vor Artilleriefeuer gewarnt worden.

EU-Diplomaten über Angriff: "Versehen ausgeschlossen"

Spannend ist, wie nun die Europäische Union und auch die Bundesregierung auf den Bericht der renommierten US-Tageszeitung reagieren. Laut einem Protokoll zu einer Sitzung der Krisenreaktionsgruppe IPCR des Europäischen Rates spielte der Angriff am folgenden 7. September schließlich gleich zu Beginn der Beratungen eine Rolle.

Nach dem EU-Bericht, das unserer Redaktion vorliegt, informierten Vertreter des Europäischen Auswärtigen Dienstes im ersten Tagesordnungspunkt in einem sogenannten Lage-Update über "fortgesetzte russische Angriffe mit Marschflugkörpern und Drohnen". Dabei sei auch die Exportinfrastruktur wie Häfen, Speicher und Silos ins Visier genommen worden.

Weiter heißt es in dem Protokoll wörtlich: Beim Angriff auf einen Marktplatz in Kostjantyniwka, "fernab jedes potenziellen militärischen Ziels, könne ein Versehen ausgeschlossen" werden.

Dieser Einschätzung widerspricht nun zwar die Recherche der New York Times. Allerdings entlastet das die ukrainische Seite nicht. Auch Kampfhandlungen, die unbeabsichtigt zivile Opfer fordern, sind justiziabel. Das bekannteste und traurigste Beispiel ist der Abschuss einer Boeing 777-200ER durch eine russische Luftabwehrrakete am 17. Juli 2014 über der Ostukraine. Auch dabei kam ein Buk-System zum Einsatz, 298 Menschen starben.

Nach dem blutigen Zwischenfall in Kostjantyniwka nun leugnet die ukrainische Seite jede Beteiligung. Kiew beharrt weiterhin auf der Darstellung, der Beschuss sei von russischer Seite gekommen. "Den Angaben der Ermittler zufolge hat der Feind auf dieses zivile Objekt eine S-300-Rakete abgefeuert", sagte ein namentlich nicht genannter Vertreter des Geheimdienstes SBU dem Nachrichtenportal Ukrajinska Prawda. Der SBU beruft sich auf Raketentrümmer, die man am Einschlagort gefunden habe.

Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak bezeichnete die Recherche der US-Journalisten als Gerüchte, durch die "Verschwörungstheorien" begünstigt würden. Man dürfe nicht vergessen, dass es Russland war, "das diese Invasion der Ukraine gestartet hat, und es ist Russland, das verantwortlich für den Krieg in unserem Land ist".

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