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EU-Hilfen für Syrien: Der scheinheilige deutsche Außenminister

Bild: Olaf Kosinsky (kosinsky.eu)/CC BY-SA 3.0-de

Heiko Maas hat Recht, wenn er die Regierung Assad wegen Menschenrechtsverletzungen anklagt, aber er schaut nur halb hin. Kommentar

Der deutsche Außenminister Heiko Maas beklagt in der Welt zu Recht die Menschenrechtsverletzungen der Assad-Regierung gegen die syrische Bevölkerung [1]. Die Menschenrechtsverletzungen der Türkei und ihrer islamistischen Verbündeten in Nordsyrien verschweigt Maas jedoch.

Er verspricht Hilfe für die syrischen Menschenrechtsaktivisten und die Zivilbevölkerung, die unter dem Regime leiden. Davon merkt man in Nordsyrien leider nichts. Die Menschen in dieser Region bleiben sich selbst überlassen, ihre Situation blendet er aus. Dabei spielten und spielen die Menschen Nordsyriens eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den IS-Terror wie auch gegen das Assad-Regime.

Ein stabiles, friedliches, demokratisches Syrien wünscht sich Herr Maas. Hat er noch nie davon gehört, dass die demokratische Selbstverwaltung seit 2011 daran in Nordostsyrien arbeitet?

Es geht nicht um Gerechtigkeit für die Opfer, sondern um Geopolitik

Am 15. März 2011 demonstrierten Tausende Syrer verschiedener Ethnien und Konfessionen in Daraa, Aleppo, Damaskus und in Nordsyrien für Demokratie und ihre Grundrechte. Sie hofften darauf, dass der arabische Frühling wie in Tunesien oder Ägypten zu einem Wechsel an der Staatsspitze führen und den seit 1970 mit Gewalt und Unterdrückung herrschenden Assad-Clan durch eine demokratische Regierung ablösen würde.

Aber die repressive Herrschaft reagierte mit nie dagewesener Gewalt: Demonstrationen wurden von Polizei und Militär niedergeknüppelt, der allgegenwärtige syrische Geheimdienst ließ massenhaft Menschen verschwinden, und angeblich Zehntausende wurden in den Folterkellern der berüchtigten syrischen Gefängnisse zu Tode gequält.

Der aktuelle US-Bericht über die Menschenrechtssituation in Syrien [2] berichtet auf Seite 2 über die uns auch aus der Türkei bekannte Praxis des "Verschwindenlassens", über Folter mit sexueller Gewalt, über unmenschliche Haftbedingungen, über die Verweigerung medizinischer Hilfe im Gefängnis, ernste Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz, Gewalt und Diskriminierung von Homosexuellen, Lesben, und anderen sexuellen Identitäten.

Wie in der Türkei gibt es in Syrien mit dem Regime verbundene Milizen und paramilitärische Organisationen, die auf der Jagd nach Oppositionellen sind. Die Vereinten Nationen und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW [3], meist bekannt unter dem englischen Kürzel OPCW) werfen der Assad-Regierung auch den Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung vor - wobei anzumerken ist, dass es bei den Vorwürfen eines Chemiewaffenangriffs in Duma zu Ungereimtheiten und Streit innerhalb der Organisation gekommen ist (Manipulation von Syrien-Bericht: Prominente Kritik an OPCW [4]).

Der Aufstand der Bevölkerung und der sich daraus entwickelnde Krieg, bei dem sich auch auswärtige Staaten einmischten, hatte über 400.000 Todesopfer zur Folge. Maas beziffert die Zahl der geflüchteten syrischen Staatsbürger auf mehr als sechs Millionen.

Mit Ausnahme von Nordsyrien, blieb von der anfänglichen Demokratiebewegung kaum noch was übrig, viele waren im Gefängnis, setzten sich ins Ausland ab oder zogen sich ins Private zurück. Auf der Seite der Opposition gewannen mit tatkräftiger Unterstützung der Türkei zahlreiche islamistische Milizen und der sogenannte "Islamische Staat" immer mehr an Einfluss. Der Westen unterstützte sogenannte "gemäßigte Rebellengruppen", die sich Freie Syrische Armee (FSA) nannten.

Es flossen Gelder, Waffen und Ausrüstung, ungeachtet dessen, dass sich die islamistischen Milizen unter dem Dach der FSA immer mehr radikalisierten. Man betrachtete sie als kleineres Übel, ging es doch vorrangig darum, den eigenen Einfluss in der Region geltend zu machen und einen Regime-Change herbeizuführen. Schließlich schlossen sich Teile der FSA radikalislamistischen oder dschihadistischen Gruppen wie der al-Nusra-Front (die später den Namen Hayat Tahrir asch-Scham annahm) oder wahlweise dem IS an; andere kamen bei den islamistischen Söldnertruppen der Türkei unter. Die syrische Armee musste hilflos mit ansehen, wie der IS immer mehr syrisches Territorium eroberte.

Diese Entwicklungen thematisiert der deutsche Außenminister in seinem Welt-Artikel nicht. Man könnte meinen, al-Qaida, dessen Abkömmlinge Jabat a-Nusra und der IS waren, sei in Syrien vom Himmel gefallen. "Wir werden nicht schweigen angesichts der Gräueltaten, die sich in Syrien ereignet haben und für die das Regime und diejenigen, die es von außen unterstützen, die Hauptverantwortung tragen", schreibt Maas weiter. Das ist nur die halbe Wahrheit.

Ja, das syrische Regime wird von außen vor allem von Russland und dem Iran unterstützt. Beide interessieren die Verbrechen der von geführten Assad Repression gegen die eigene Bevölkerung nicht. Dass allerdings islamistische Milizen und der Islamische Staat weite Teile Syriens erobern konnten, dies muss sich der Westen, allen voran die Türkei und die Bundesrepublik zuschreiben lassen. Nur durch ihre finanzielle und logistische Unterstützung konnten sich die Islamisten in Idlib festsetzen.

Die syrische Armee versuchte seit 2015 mit Hilfe Russlands gegen die Islamisten vorzugehen, der Westen finanzierte als propagandistischen Gegenpol dagegen die Weißhelme, die, wie man ihnen vorwirft, mit den Islamisten meist gemeinsame Sache machten. Teile der Bevölkerung flohen aus der Region an die türkische Grenze. Sie hoffen bis heute, in die Türkei zu kommen. Mit deutschen Leopard-Panzern und mit Kampfbombern wurde von der Türkei das seit 2011 von Kurden, Christen und Eziden demokratisch regierte Afrin angegriffen, schließlich besetzt und inzwischen von der eingesessenen Bevölkerung "gesäubert".

In die Häuser der Vertriebenen zogen die Familien der Islamisten aus Gouta und anderen Teilen Syriens ein und plünderten deren Besitz. Der Westen, allen voran der deutsche Außenminister Heiko Maas, schwieg dazu. Er schwieg auch, als 2018 die nord- ostsyrischen Städte Serekaniye und Gire Spi von der Türkei völkerrechtswidrig besetzt wurden. Seitdem geschehen in diesen Gebieten Nordsyriens von Seiten türkischer Soldaten und ihren islamistischen Söldnern der Nationalen Syrischen Armee (NSA) täglich die gleichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Heiko Maas nur dem syrischen Regime vorwirft.

"Es liegt in unser aller Verantwortung, die Straflosigkeit zu bekämpfen und die Verantwortlichen für die in Syrien begangenen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen - egal, wer sie sind," (Hervorhebung durch d. Autorin) schreibt Maas.

Scheinheiliger kann man als deutscher Außenminister nicht argumentieren: Einerseits soll das Assad-Regime berechtigterweise wegen seiner Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden, andererseits bleiben gleiche Menschenrechtsverletzungen durch die türkische Regierung und ihre islamistischen Söldner in Nordsyrien unerwähnt.

Gerechtigkeit für die Opfer gibt es bei Maas offensichtlich nicht. Es gibt nur geopolitische Interessen, die auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung ausgetragen werden.

Der gleiche Blues auf europäischer Ebene

Auf europäischer Ebene sieht es nicht anders aus. Am 11. März verabschiedete das Europaparlament eine Entschließung, die neben den Verbrechen der Regierung Assad auch die türkische Besatzung in Nordsyrien thematisiert.

In Punkt 7 fordert das Europaparlament [5] "die Türkei auf, ihre Streitkräfte aus Nordsyrien abzuziehen, da sie diesen Landesteil außerhalb eines Mandats der Vereinten Nationen rechtswidrig besetzt." Das Europaparlament "verurteilt, dass die Türkei kurdische Syrer aus dem besetzten Nordsyrien zum Zwecke der Inhaftierung und Strafverfolgung rechtswidrig in die Türkei überführt und dadurch gegen die internationalen Verpflichtungen des Landes im Rahmen der Genfer Konventionen verstößt; fordert nachdrücklich, dass alle syrischen Häftlinge, die in die Türkei verbracht wurden, unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden; ist besorgt darüber, dass die anhaltenden Vertreibungen durch die Türkei einer ethnischen Säuberung an der syrisch-kurdischen Bevölkerung gleichkommen könnten; betont, dass durch das Eingreifen der Türkei die internationalen Bemühungen gegen den IS geschwächt wurden; betont, dass die illegale Invasion und Besetzung durch die Türkei den Frieden in Syrien, im Nahen Osten und im östlichen Mittelmeerraum gefährdet; verurteilt aufs Schärfste, dass die Türkei unter Bruch des Völkerrechts syrische Söldner in den Konflikten in Libyen und Bergkarabach eingesetzt hat…"

Am heutigen Dienstag reisen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel im Gegensatz zu Inhalt und Ton dieser Erklärung mit "Ostergeschenken" vom EU-Gipfel vergangener Woche zu Erdogan. Darin stellen die 27 EU-Staats- und Regierungschefs Erdogan eine verstärkte Wirtschaftszusammenarbeit und weitere Finanzhilfen für die Versorgung von syrischen Geflüchteten in Aussicht.

Der türkischen Regierung soll die Ausweitung der Zollunion und eine Visa-Liberalisierung für türkische Staatsangehörige angeboten werden, wenn sie sich kooperationsbereit im Konflikt mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern um die Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer zeigt. Auch hier wird die Scheinheiligkeit offenbar: Menschenrechtsverletzungen, das Ignorieren der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) spielen im Umgang mit der Türkei keine Rolle, man lenkt den Fokus auf die Aktivitäten der Türkei im Mittelmeer und klammert den Rest aus.

Treibendes Element der EU-Kommission hinter dieser Appeasementpolitik mit dem autortären Staatsoberhaupt Erdogan ist die Bundesregierung. Auch hier darf man fragen, was denn eigentlich ein EU-Parlament für eine Berechtigung hat, wenn ihre Beschlüsse von höherer Ebene ignoriert werden?

Führende Abgeordnete des Europaparlaments kritisieren die EU-Politik der 27 Staats- und Regierungschefs scharf: "Die Menschenrechte sollten ein Schlüsselelement bei der Formulierung zukünftiger Maßnahmen gegenüber der Türkei sein, ob positiv oder negativ...Die Botschaft, die derzeit an die türkische Regierung gesendet wird, ist falsch und gefährlich", denn sie vermittle die Botschaft an die Türkei, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit für die EU weniger relevant als geopolitische Interessen seien.

Diese Art der Kommunikation schadet der Glaubwürdigkeit und dem internationalen Image der EU ernsthaft und vermittelt dem großen Teil der pro-europäischen und pro-demokratischen Bürger der Türkei, die sich immer noch hoffnungsvoll der EU zuwenden, eine entmutigende Botschaft. Die in Artikel 21 des EU-Vertrags verankerte Pflicht, eine auf Grundsätzen und Werten beruhende Außenpolitik zu verteidigen und zu fördern, ist für alle EU-Institutionen und insbesondere für den Rat gleichermaßen verbindlich...Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit dürfen nicht auf dem Altar der Realpolitik geopfert werden.

Erklärung des Europaparlaments

Der blinde Fleck des Heiko Maas

Man könnte meinen, dass Heiko Maas die Landkarte Syriens nicht kennt. Nordsyrien und vor allem die völkerrechtswidrige Quasi-Annektion großer Teile Nordsyriens durch die Türkei scheint es nicht zu geben, obwohl der wissenschaftliche Dienst des Bundestags die Menschenrechtsverletzungen bestätigt [6] und den Einmarsch der Türkei in syrisches Territorium als völkerrechtswidrig beurteilt hat.

Von den Gräueltaten der Türkei und ihrer islamistischen Söldner in Nordsyrien, die in dem US-Bericht ebenfalls ausführlich erwähnt werden, hat Außenminister Maas noch nie etwas gehört? Im Gegenteil, er sieht positive Signale [7] aus der Türkei. Durch welche Brille schaut er, wenn er zu diesem realitätsfernen Urteil kommt?

Welche positiven Signale meint Heiko Maas? Den Ausstieg aus der Istanbul-Konvention, der einen sprunghaften Anstieg von Frauenmorden zur Folge hatte? Das drohende HDP-Verbot? Den Bau eines weiteren Präsidentenpalastes, angesichts dessen, dass sich die Bevölkerung kaum noch Essen leisten kann? Die Todeskommandos, die in Europa gegen türkische Oppositionelle unterwegs sind? Die islamistischen Netzwerke von Ditib, Milli Görüs und den Muslimbrüdern, die in Deutschland über verschiedene Unterorganisationen Millionen an Fördergeldern erhalten?

Alle Kriegsverbrecher gehören vor den Internationalen Strafgerichtshof

Die Forderung, "dass der Internationale Strafgerichtshof die Möglichkeit bekommen muss, die in Syrien mutmaßlich begangenen Verbrechen zu untersuchen und Anklage gegen die Täter zu erheben," ist zu unterstützen. Das fordern die Politiker der demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens schon lange. Die Selbstverwaltung lädt immer wieder die Internationale Gemeinschaft ein, sich selbst ein Bild über die Situation in ihren Gefängnissen und Geflüchteten-Camps zu machen (siehe US-Bericht, S. 11).

Deswegen darf man nicht nur die Verbrechen des syrischen Regimes, sondern muss auch die der Türkei und ihrer islamistischen Söldner untersuchen und Anklage erheben. Denn nicht nur die Menschenrechtsverletzungen der syrischen Regierung sind gut dokumentiert, auch die der Türkei in Nordsyrien sind es. Der neueste US-Bericht bestätigt dies auf Seite 3 und 20ff. Es wird u.a. vom Einsatz sexueller Gewalt, Folter, Vertreibung, Verschleppung von Zivilisten in die Türkei, die Sperrung der Wasserversorgung für die Zivilbevölkerung (in Serekaniye, Anm. der Autorin), die Rekrutierung von Kindersoldaten und die Zerstörung kultureller und religiöser Heiligtümer berichtet.

"Der Einsatz chemischer Waffen, egal unter welchen Umständen, ist eine ernste Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit."

Stimmt, deshalb gehört die Türkei für ihren Einsatz von weißem Phosphor gegen die Bevölkerung von Serekaniye [8] bei ihrem völkerrechtswidrigen Einmarsch 2018 ebenfalls vor den Internationalen Strafgerichtshof. Nehmen wir Herrn Maas beim Wort: " ...wir werden nicht ruhen, bis sie für ihre Verbrechen bestraft sind."

Und wir werden ihn an seine Worte in dem Welt-Artikel erinnern:

"Bei der Aufarbeitung dieses Jahrzehnts der Gräueltaten darf es keine blinden Flecken geben. Gerechtigkeit für die Opfer ist von essenzieller Bedeutung für den Wiederaufbau eines stabilen, friedlichen Syriens und einer glaubhaften, tragfähigen politischen Lösung im Einklang mit Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates."


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6005620

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article229437279/Krieg-in-Syrien-Es-geht-um-Gerechtigkeit-fuer-die-Opfer.html?#Comments
[2] https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/SYRIA-2020-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf
[3] https://den-haag-cw.diplo.de/ovcw-de/die-ovcw-und-ihre-organe/1092902
[4] https://www.heise.de/tp/features/Manipulation-von-Syrien-Bericht-Prominente-Kritik-an-OPCW-5078613.html
[5] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0088_DE.html
[6] https://www.bundestag.de/resource/blob/663322/fd65511209aad5c6a6eae95eb779fcba/WD-2-116-19-pdf-data.pdf
[7] https://www.heise.de/tp/features/Die-positiven-Signale-aus-der-Tuerkei-5057425.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Einsatz-tuerkischer-Phosphorbomben-in-Nordsyrien-belegt-4651489.html