Egoismus, als Solidarität getarnt
Warum Deutschlands moralische Avantgarde jeden Corona-Toten für einen zu viel und einen militärischen Sieg der Ukraine für alternativlos hält
In Deutschland herrscht Krieg, immer noch. War das inoffizielle Ziel im "Krieg gegen Corona" noch, möglichst viele Menschen vor schwerer Erkrankung oder Tod durch den Virus zu bewahren, geht es nun darum, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt – oder wenigstens nicht verliert. Um Menschenleben zu retten, sei es doch wohl nicht zu viel verlangt, mal eine Zeitlang auf ein paar Grundrechte zu verzichten, lautet bis heute das Credo der Lauterbach-Jünger.
Neuerdings gelten Menschen wie Witali Klitschko als Vorbild. Der frühere ukrainische Profiboxer sagte kürzlich in einem Interview mit der Bild:
Wir werden diesen sinnlosen Krieg gewinnen. Man kann uns nicht den Willen nehmen. Der Wille ist die stärkste Waffe. Wir werden unser Land bis zum letzten Blutstropfen verteidigen.
Wo das Wir regiert, da müssen konkrete Menschenleben geopfert werden, damit die abstrakte Ukraine siegt, nicht für sich allein, versteht sich, sondern für die Demokratie, die Freiheit und die "westliche Wertegemeinschaft". Denn wenn Putin, die neueste Reinkarnation Hitlers – nach Slobodan Milošević und Saddam Hussein – nicht gestoppt wird, dann wird er bald auch in Deutschland einmarschieren, heißt es.
Politik- und Militärexperten sind sich zwar nicht einig, ob es wirklich so kommen muss, doch ukrainische Schriftstellerinnen, polnische Politiker und deutsche Haltungsjournalisten wissen es besser. Bernd Musch-Borowska vom NDR zum Beispiel, der seinen Kommentar zum Massaker von Butscha in der Tagesschau mit den folgenden Worten abschloss:
"Die wirtschaftlichen Folgen eines Gasimport-Stopps müssen wir auf uns nehmen, denn sonst haben wir die Zerstörung, die wir heute in Irpin, Butscha und Hostomel bei Kiew sehen, bald auch bei uns. Zuerst in Warschau, Vilnius und Riga und später in Berlin, Hamburg und München."
Nur so könnten die "Faschisten" in Moskau, denen die "prosperierende" Ukraine, "deren Menschen ihre Zukunft in einem demokratischen Land mit den freiheitlichen Grundwerten der Europäischen Union sahen und das Schutzschild des westlichen Verteidigungsbündnisses, der Nato, anstrebten", gestoppt werden.
Und so trägt der gute Deutsche weiter Maske beim Einkaufen, dreht die Heizung herunter und stellt sich schon mal auf harte Zeiten ein. Der ukrainischen Armee drückt er die Daumen, mit den getöteten Zivilisten leidet er mit und fühlt sich schuldig, weil die Nato nicht direkt in den Krieg eingreift. Pazifismus ist out, Militarismus in. Man nennt dies: "Zeitenwende".
Jan Böhmermann hat sich schon perfekt darauf eingestellt. Der allseits beliebte Fernsehkomiker, dem Zeitgeist stets eine Nasenlänge voraus, pflegt mit dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, ein gemeinsames Hobby: exzessives Twittern.
Wer nicht wüsste, dass bei Böhmermann die Nazikeule für gewöhnlich recht locker sitzt, könnte meinen, hier hätten sich zwei Gesinnungsgenossen gefunden. Melnyk retweeted neben den Scharfmachern der Springer-Presse immer wieder auch Böhmermann, Böhmermann ab und an Melnyk. Beide finden sie, dass die Bundesregierung viel zu wenig tut und dass die Deutschen sich dafür schämen sollten. Womöglich imponiert Böhmermann die forsche Art des Diplomaten.
So retweetete er am 4. April den total ironischen – und inzwischen gelöschten – Tweet des Titanic-Kolumnisten "Dax Werner":
Deutschland würde ja kein russisches Gas mehr kaufen wenn der Botschafter mal anfängt Bitte und Danke zu sagen!
Dass der Herr Botschafter den ukrainischen Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera als Helden verehrt, das rechtsextreme Asow-Regiment dufte findet und hyperventiliert, wenn Bundeskanzler Scholz dazu aufruft, in Deutschland lebende Menschen aus Russland nicht zu attackieren ("Es ist ein Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine ... Es ist die stillschweigende Gesellschaft, die den Krieg de facto unterstützt ..."; Tweet vom 17. März), scheint den Fernsehclown nicht weiter zu stören.
Während Melnyk sich mit seinen nationalistischen Tiraden nicht nur Freunde macht, schafft es Böhmermann mit seinen Tweets immer wieder, offene Türen einzurennen, etwa wenn er seine Zustimmung zur Impfpflicht signalisiert oder seiner Empörung über zuletzt immer noch "300 Covid-Tote am Tag" Luft macht – natürlich ohne darauf hinzuweisen, dass der größte Teil davon mit und nicht an Corona gestorben ist.
Am 14. März twitterte Böhmermann:
Deutschland konnte ~ wegen der Wirtschaft ~ nichts mehr gegen Covid unternehmen und kann nun ~ wegen der Wirtschaft ~ dem Schlachten in der Ukraine leider nur mit Bedauern zusehen.
Und zwei Tage später:
Warum wehrt die Ukraine sich denn überhaupt? Warum wollen die freien Ukrainer denn nicht unter fremder, diktatorischer Herrschaft leben? Warum geben die nicht einfach auf? Dass solche hoffnungslos zwergenhaften Gedanken ERNSTHAFT in Köpfen herumschwirren gerade, ey!
Dabei bezog er sich offenbar auf den Fernsehphilosophen Richard David Precht, der kurz zuvor zu bedenken gegeben hatte, dass die ukrainische Staatsführung eventuell überlegen sollte, zu kapitulieren, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.
Was möchte uns der Fernsehkomiker mit seinen kryptischen Tweets mitteilen? So viel scheint sicher: Böhmermann hält es für moralisch geboten, die Wirtschaft zu ruinieren, sei es wegen Corona oder wegen der Ukraine.
Während jeder Corona-Tote einer zu viel ist, darf in der Ukraine ruhig noch eine Weile weiter gestorben werden – einerseits, da eine Kapitulation ja nicht in Frage kommt. Andererseits soll offenbar ein Gas-Embargo irgendwie dazu beitragen, Menschenleben in der Ukraine zu retten. Weil Putin dann vielleicht ein wenig früher die Waffen strecken würde?
Dem "Schlachten" in der Ukraine könnten die Deutschen dann wenigstens mit ruhigem Gewissen zuschauen, da sie ja immerhin auch etwas geopfert hätten – wobei natürlich nicht alle gleich viel opfern würden, in Deutschland.
In der Ukraine würden weiterhin viele ihr Leben opfern, nicht nur Zivilisten, sondern auch Soldaten. Darunter auch solche, die gerne vom Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch machen würden, wenn es dieses Recht in der Ukraine denn gäbe, und nicht nur für Mitglieder der Zeugen Jehovas und anderer Sekten.
Es bleibt die Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass jemand wie Böhmermann nun plötzlich Freiheit – vor den Russen – höher gewichtet als das Recht auf Leben. Vor kurzem noch hatte er den ZDF-Talkmaster Markus Lanz ultimativ aufgefordert, die Virologen Hendrik Streeck und Alexander Kekulé nicht mehr in seine Sendung einzuladen, da deren Meinungen "durchtränkt von Menschenfeindlichkeit" seien und sie auch fachlich voll daneben lägen, was alle Leute wüssten, "die Ahnung haben".
Immerhin erklärt die Haltung, die daraus spricht, möglicherweise, weshalb sich Böhmermann und der ukrainische Botschafter so gut verstehen. Auch Melnyk macht keinen Hehl daraus, dass er Politikern und Journalisten, die seine Meinung nicht teilen, am liebsten den Mund verbieten würde.
So etwa Heribert Prantl, der in der Süddeutschen Zeitung Melnyks Verehrung für den Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher Bandera thematisiert hatte. Der Botschafter twitterte dazu am 3. April:
Weder die Russen, noch die Deutschen haben das Recht zu bestimmen, wen die Ukrainer als Helden verehren. Stepan Bandera & Hunderttausende meine Landsleute kämpften sowohl gegen Hitler, als auch gegen Stalin für den ukrainischen Staat. Lasst uns in Ruhe mit euren Belehrungen #Heribert Prantl & Co.
Zwei Tage später hetzte Melnyk gegen den ARD-Korrespondenten Georg Restle, der, den journalistischen Gepflogenheiten entsprechend, das Massaker von Butscha mit dem Zusatz "mutmaßlich" versehen hatte. Melnyk twitterte dazu:
In dieser Logik sollten Sie @georgrestle auch über "mutmaßlichen Angriffskrieg" oder lieber über eine "Spezialoperation" berichten. Dann gibt es auch kein Dementi aus Moskau, gell?
In der Ukraine hat der Präsident bekanntlich das Recht, Medien nach Gutdünken als prorussisch einzustufen und per Dekret zu verbieten, wovon Wolodimir Selenski auch vor dem Krieg schon eifrig Gebrauch gemacht hat.
Nun ist Böhmermann bei weitem nicht der einzige Kriegsdienstverweigerer und Ex-Pazifist in diesem Lande, der vom Corona-Hardliner über Nacht zum Bellizisten konvertiert ist. Peter Richter hat dieses Phänomen in der Süddeutschen kürzlich auf die Formel "Je Zivi, desto Krieg" gebracht.
Auch Jan Feddersen von der taz, der nach eigener Aussage "Kriegsdienstverweigerer, aber kein Dämonisierer der Bundeswehr" ist und "eine Welt ohne Waffen" möchte, macht für die Ukraine mal eine Ausnahme. Eine gute Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge sei wichtig, schrieb er kürzlich, doch wichtiger sei, "die Ukraine mit Waffen auszurüsten." Und weiter:
Das Ziel ist am Ende nicht: Waffenstillstand, Kompromisse, sozialpädagogischer Staatenstuhlkreis. Das wäre nur ein Etappensieg. Letztlich kommt es darauf an: dass das Putin-Regime zerstört wird, mit dem Chef in Den Haag vor dem Obersten Gerichtshof, Nürnberg 2.0 quasi, höchstselbst für seine Verbrechen einstehend. Ein "Regime Change" durch Russ:innen und ihre Alliierten, also auch mit unserem Support.
Nachdem die guten Deutschen also den Russen geholfen haben werden, sich von ihrem Hitler 2.0 aka Wladimir Putin zu befreien, dürfen sie, nach Feddersens Vorstellung, endlich Buße tun für den Bezug russischer Rohstoffe und nach Russland den zweitgrößten Teil der Reparationen für den Wiederaufbau der Ukraine übernehmen. Das kann teuer werden, da die Ukraine die bisher erlittenen Schäden schon einmal großzügig auf bis zu eine Trillion Dollar geschätzt hat.
Doch immerhin könnten sich die Deutschen so endlich auch von ihrem Hitler befreien. Bis es so weit ist, kommt laut Feddersen auf die moralische Avantgarde unseres Landes allerdings noch viel Arbeit zu, denn "noch in der moralisch abgrundtief charakterlosen Ignoranz, die seitens des deutschen Politestablishments dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, entgegengebracht wurde (und wird), schimmert die ankuschelnd-kaufmännische Liebe zum Kreml-Imperium durch."
Wie Böhmermann hatte auch Feddersen vor kurzem noch für eine Impfpflicht oder ersatzweise strenge 2G-Regelungen plädiert, um die "explodierenden Inzidenzziffern" in den Griff zu bekommen. Impfunwillige müssten dann eben damit leben, denn "ein seriöses Coronaregime" könne auf persönliche Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen.
Worauf es ankomme, sei "weniger das Individualistische, das Unbehagen am Camouflierten, Gesichtsbedeckten – sondern Solidarität." Denn: "Freiheit ist hier nur das Prinzip: sich und andere vor der Erkrankung an Corona zu bewahren. Dass das zu einer Spaltung der Gesellschaft führen kann: Na und?"
Freiheit kollektiv zu definieren, ist zwar gerade schwer in Mode, was aber nichts daran ändert, dass Zwang weder mit Freiheit noch mit Solidarität gleichzusetzen ist, auch wenn die beiden letztgenannten Begriffe besser klingen. Was uns zu dem Mysterium zurückführt, wie Böhmermann, Feddersen und zahllose andere Moralapostel es fertigbringen, das Recht auf Leben und Gesundheit im Falle der Corona-Pandemie absolut zu setzen und im Falle des Ukraine-Kriegs implizit für irrelevant zu erklären, ohne dass ihnen der Widerspruch auffällt.
Die Geringschätzung individueller Freiheitsrechte und ein Hang zum Autoritären wird hierbei sicher eine Rolle spielen. Vollends auflösen lässt sich der Widerspruch, wenn man annimmt, dass es den Corona-Maßnahmen-Hardlinern vor allem darum geht, für sich selbst so viel Sicherheit wie möglich herauszuholen. Und da die Ukraine ja, wie es heißt, auch "für uns" kämpft, wiegt unsere Sicherheit vor einem Einmarsch der Russen eben höher als die individuelle Freiheit der Ukrainer, am Leben zu bleiben.
Nach dieser Logik kann man die Frage, welche Alternativen es zwischen einer Kapitulation der Ukraine und einer Kapitulation Russlands geben könnte, getrost ignorieren, da es für unsere Sicherheit wohl am besten sein wird, wenn Putins Truppen in der Ukraine noch lange beschäftigt sind.
Das Bild, das die deutschen Medien vom Ukraine-Krieg zeichnen, macht es Gesinnungsethikern allerdings auch leicht. Soldaten, die lieber zu Hause geblieben wären, gibt es demnach nur auf russischer Seite. Beklagenswert erscheinen ohnehin nur die zivilen Opfer des Vernichtungskriegs.
Um zu erfahren, dass es in der Ukraine auch Menschen gibt, die eine Verhandlungslösung einem Krieg "bis zum letzten Blutstropfen" vorziehen würden, muss man schon die Washington Post lesen. Man hätte sich aber auch denken können, dass nicht jeder Ukrainer sein Leben aufs Spiel setzen möchte, damit die Donbass-Region de facto ukrainisch bleibt und die Krim zumindest theoretisch.
Doch da es auf individuelle Freiheit ja in Kriegszeiten nicht ankommt und sich – moralisch betrachtet – Putins Angriffskrieg auf gar keinen Fall lohnen darf, kann der Krieg wohl noch ein paar Monate oder gar Jahre weitergehen, bis zum endgültigen Sieg der Ukraine – was auch immer man sich darunter vorzustellen hat.
Zufällig sieht das auch die ukrainische Regierung so. Wie Zeit Online vermeldete, sagte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Samstag im ukrainischen Fernsehen, egal wie lange es dauern werde und wie viele Menschen noch ihr Leben verlören, sein Land werde keine Gebiete aufgeben und erst wieder in ernsthafte Verhandlungen eintreten, wenn es nach der gewonnen Donbass-Schlacht eine bessere Verhandlungsposition erreicht habe.