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Eher drei bis vier Grad

Ein IAEA-Expertenteam untersucht 2013 den Kontrollraum des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi. Bild: IAEA Imagebank / CC-BY-SA-2.0

Die Energie- und Klimawochenschau: Vom Atomausstieg, einem sich rasch erwärmenden Deutschland und Grünen, die nicht viel vom "radikalen Klimaschutz" halten

Am kommenden Donnerstag jährt sich zum zehnten Mal die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima. Ab dem 11. März 2011 war es dort an der Küste nördlich von Tokio gleich in drei von vier Reaktorblöcken in Folge eines gewaltigen Erdbebens und eines von diesem verursachten Tsunami zur Kernschmelze [1] gekommen. Der vierte Reaktor des AKW Fukushima Daiichi blieb vermutlich nur deshalb verschont, weil er zum Zeit des Bebens nicht im Betrieb war.

Aus diesem Anlass gab es am vergangenen Wochenende unter anderem in Berlin und vor dem baden-württembergischen AKW Neckarwestheim Demonstrationen, um an die Katastrophe zu erinnern und an die anhaltenden Gefahren der hiesigen AKW und der mit ihnen verbundenen Atomtransporte zu erinnern.

Der baden-württembergische Atommeiler gilt bei seinen Gegnern als extrem störanfällig [2], soll aber noch bis Ende 2022 weiterlaufen. Nach Angaben [3] des Senders SWR nahmen 450 bis 500 Menschen an dem sonntäglichen Protest teil.

Demonstration vor dem baden-württembergischen AKW Neckarwestheim

Das Atomkraftwerk im Südwesten wird 2022 eines der letzten sein, das nach dem 2011 erneuerten Ausstiegs [4] aus der Atomkraftnutzung vom Netz geht. Derzeit laufen bundesweit noch sechs Reaktoren.

Kernkraftwerk Neckarwestheim. Bild: Felix Koenig / CC-BY-SA-3.0 [5]

Bis zum 31. Dezember diesen Jahres müssen die AKW Brokdorf in Schleswig-Holstein, Grohnde in Niedersachsen und Gundremmingen C in Bayern abgeschaltet werden. Ein Jahr später kommt dann das Aus für die letzten drei Reaktoren. Neben Neckarwestheim 2 sind dies das AKW Emsland in Niedersachsen und Ohu 2 in Bayern.

Dieser Ausstieg soll, wie gestern berichtet [6], den Kraftwerksbetreibern mit 2,4 Milliarden Euro versüßt werden. Darauf hatten sich diese vergangene Woche mit dem Bundeswirtschaftsministerium verständigt. Im Gegenzug stellen die Atomkonzerne alle Klagen vor Schiedsgerichten ein.

Der ehemalige sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Ulrich Kelber [7] merkt dazu auf Twitter [8] an, dass im Jahr 2000 zwischen der Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) und den Betreibern einst ein Vertrag abgeschlossen wurde, der den entschädigungslosen Ausstieg aus der Atomkraft bis Anfang der 2020er Jahre vorsah.

Der Bundestag hatte diese dann seinerzeit mit den Stimmen von SPD und Grünen in einem Gesetz fixiert, in dessen Formulierung Kelber involviert war. Dieses Gesetz war später 2010 von der schwarz-gelben Bundesregierung aufgehoben worden, nur um wenige Monate später in aller Eile ein neues Ausstiegsgesetz zusammenzuschustern. Der unnötige Vergleich ärgere ihn daher gewaltig, so der Abgeordnete.

Mehr Extremwetter

Beunruhigende Nachrichten kommen derweil vom Deutschen Wetterdienst DWD in Offenbach. Auf seiner diesjährigen Klima-Pressekonferenz [9] spricht er von einem trotz Pandemie ungebremsten Anstieg der Treibhausgasemissionen.

Damit werden wir die im Paris-Abkommen vereinbarte Temperaturerhöhung von deutlich unter zwei Grad (Celsius) über dem vorindustriellen Niveau bis zum Jahr 2100 nicht erreichen. Leider sieht es im Moment sogar nach einem Plus von drei bis vier Grad (Celsius) aus.

Gerhard Adrian, Präsident der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) und des DWD

Die globale Jahresmitteltemperatur sei seit Ende des 19. Jahrhunderts bereits um 1,1 und in Deutschland gar um 1,6 Grad Celsius gestiegen. Das vergangene Jahr war weltweit das zweitwärmste seit Beginn der Aufzeichnungen und die Meereisfläche in der Arktis erreichte im September 2020 nach 2012 ihren zweitniedrigsten Wert.

Wetterextreme würden zunehmen und sich intensivieren. Als Beispiel nannte [10] Adrian die atlantische Hurrikan-Saison 2020 die mit 30 benannten tropischen Stürmen die höchste je beobachtete Zahl aufwies. Ein anderes seien extreme Niederschläge in der afrikanischen Sahelzone, Indien und China, die zum Teil die Fünffache der sonst in den jeweiligen Regionen üblichen Jahresmenge brachten.

In Deutschland wird es schneller warm als im globalen Durchschnitt. Der Trend liegt hierzulande bei 1,6 Grad Celsius pro 140 Jahre, weltweit sind es 1,1 Grad Celsius. Bild [11]: Deutscher Wetterdienst DWD

Manche Extremereignisse lassen sich inzwischen mit statistischen Methoden dem Klimawandel zuordnen. Atmosphärenmodelle und viel Rechnerleistung machen es heute möglich, das Klima über lange Zeiträume mit und ohne zusätzlichen Treibhausgasen zu simulieren.

Auf diese Art lässt sich errechnen, wie häufig bestimmte Wetterextreme auftreten. So lässt sich zum Beispiel zeigen, dass sich durch den bisherigen Klimawandel die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen wie der langanhaltenden Dürre, die 2018 den Nordosten Deutschlands erfasste, schon mindestens verdoppelt hat.

"Alarmierender Hinweis"

Tatsächlich ist die Dürre in den DWD-Aufzeichnungen bisher einzigartig. Das Ergebnis sei ein "ein alarmierender Hinweis zum Beispiel für die Land- und Forstwirtschaft in dieser Region", so der DWD-Vorstand für den Bereich Klima und Umwelt Tobias Fuchs.

Doch Deutschland ist reich und kann sich jederzeit Lebensmittel auf dem Weltmarkt beschaffen, wenn die hiesige Landwirtschaft aufgrund des Klimawandels nicht mehr genug abwerfen sollte. Anderswo ist man weniger glücklich.

2019 waren 690 Millionen Menschen unterernährt, heißt es [12] bei der UN-Agrarorganisation FAO, zehn Millionen mehr als 2018 und 60 Millionen mehr als 2014. Seit 2014 nehme die Zahl der Hungernden zu, und die globale Gemeinschaft sei weit von ihrem Ziel entfernt, bis 2030 den Hunger aus der Welt zu schaffen.

Der Klimawandel kann die Situation nur verschlimmern und daher ist es folgerichtig, wenn UN-Generalsekretär António Guterres ihn zur Chefsache macht.

Am Dienstag vergangener Woche appellierte er erneut an die Regierungen, mehr zu tun. Konkret forderte er, [13] "die tödliche Sucht nach Kohle zu beenden" und alle noch geplanten Kohlekraftwerke aufzugeben. Mit der Nutzung der Kohle im Stromsektor Schluss zu machen, sei "der wichtigste Schritt, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen".

Ozean wärmer

Das könnte eventuell noch schwieriger werden, als bisher gedacht. Eine neue Analyse der Temperaturen der Weltmeere legt nahe, dass sie sich um 0,1 Grad Celsius stärker gegenüber der vorindustriellen Zeit erwärmt haben, als man dies bisher annahm. Das berichtet [14] die Internetplattform Carbon Brief, die sich auf Nachrichten rund um Klimawissenschaften sowie Klima- und Energiepolitik spezialisiert hat.

Oder mit anderen Worten: Die globale Erwärmung ist bereits etwas weiter fortgeschritten, als man es wahrhaben wollte. Damit wäre die verbleibende Menge an Treibhausgasen wie Kohlendioxid, die noch in die Atmosphäre geblasen werden kann, bis 1,5 Grad Celsius globale Erwärmung erreicht sind, geringer als bisher angenommen.

Nach Berechnungen von Carbon Brief blieben der Menschheit beim derzeitigen Emissionsniveau noch sechs bis zehn Jahre statt neun bis 13, wie bisher kalkuliert.

Das ist das Ergebnis eines verbesserten Datensatzes [15] der Oberflächentemperaturen der Meere, den der britische Wetterdienst vorgelegt hat. Die Plattform zitiert allerdings auch Wissenschaftler, die davor warnen, zu viel in den verbesserten Datensatz hineinzuinterpretieren.

Die Risikoabschätzungen, die zu Formulierung des 1,5-Grad-Ziels führten, würden nicht durch verbesserte historische Datensätze beeinflusst. Sie bezögen sich vielmehr auf Veränderungen relativ zum gegenwärtigen Zustand des Klimasystems.

So oder so ist die Zeit knapp und der Budget-Ansatz ein anschauliches Maß, das die Dringlichkeit verdeutlicht. Er beschreibt, wieviel Kohlendioxid noch emittiert werden darf, wenn die Erwärmung gemäß der Pariser Ziele [16] (deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau und nach Möglichkeit auf nicht mehr als 1,5 Grad Celsius) begrenzt werden soll.

Bitte keine Zahlen

Andere können sich unter den Zahlen jedoch nichts vorstellen, wie etwa die Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) auf die Frage eines Journalisten [17]. Oder sie nennen derlei Berechnungen abwertend [18] "klimabudgetäres Klein-Klein", in dem man sich nicht verlieren dürfe, wie der gerade aus der Unionsfraktion und Partei hinauskomplimentierte CSU-Abgeordnete Georg Nüßlein behauptet, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Bestechlichkeit ermittelt.

Nüßlein vertrat die Ansicht, dass es für den Weg zur Klimaneutralität statt der von den Wissenschaftlern des Umweltrates der Bundesregierung vorgeschlagenen Zielmarken des Emissionsbudgets "mehr Markt und Wettbewerb" braucht. Wie er sich Wettbewerb vorstellt, scheint er ja zwischenzeitlich demonstriert zu haben.

Auch der neue CDU-Vorsitzende Armin Laschet scheint nicht nur im Maskengeschäft seine ganz eigenen Vorstellungen von Wettbewerb zu haben. Seine schwarz-gelbe Landeskoalition bereitet derzeit neue Abstandsregeln für Windkraftanlagen vor.

Selbst zu kleinsten Siedlungen außerhalb von Dörfern soll noch ein Mindestabstand von 1.000 Metern gelten. Der Bund für Umwelt und Naturschutz sieht darin den Versuch, Nordrhein-Westfalen zur Verbotszone für Windkraft zu machen. Nur noch auf 0,22 Prozent der Landesfläche sei unter derlei Bedingungen ein weiterer Ausbau möglich, weshalb der Verband Unterschriften unter eine Petition [19] sammelt.

Der BUND verweist darauf, dass das Kohlekraftwerk Datteln in nur 400 Meter Abstand zu den nächsten Wohnhäusern errichtet wurde und dass die Tagebaugruben der Braunkohle bis auf 100 Meter an Dörfer heranrückten. Man habe daher Klage gegen die Änderung des Landesentwicklungsplanes eingereicht, in dem die Abstandsregelung für Windkraftanlagen fixiert werden soll.

Grüner hält nichts von Klimaschutz

So sieht also das Personal aus, mit dem die Grünen gerne nach der Bundestagswahl im Bund koalieren wollen. Ob das funktionieren kann? Für den grünen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ist das keine offene Frage. Er wirbt offensiv dafür, sein Schwaben-Modell nach Berlin zu exportieren.

Da wundert es denn auch nicht weiter, dass er verkündet, regionaler Klimaschutz lohne sich nicht wirklich. Man habe "andere Aufgaben als radikal Klimaschutz zu machen. Der Effekt ist global zu gering", beschied er [20] kürzlich einer Journalistin, die ihn nach dem Klimawandel gefragt hatte. Dieser sei ja, wie sie meinte, "eigentlich ein Kernthema der Grünen".

Am kommenden Sonntag werden die Wählerinnen und Wähler im Südwesten über diese Politik abstimmen. Meinungsumfragen [21] zeigen die CDU im Ländle auf einem historischen Tiefststand und die Grünen mit 35 Prozent auf dem Weg zur Volkspartei.

Allerdings wird nicht nach den Wahlabsichten für die neugegründete Klimaliste [22] gefragt, die den Grünen mit "echter grüner Politik" auf dem Gebiet ihres "Kernthemas" Konkurrenz machen will. Wir dürfen gespannt sein, ob sie den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schafft und welche Konstellationen sich daraus ergeben.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Fukushima-fuenf-Jahre-danach-3378696.html
[2] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/heilbronn/gutachter-fordert-kernkraftwerk-neckarwestheim2-abschalten-100.html
[3] https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/heilbronn/demo-atomkraftwerk-neckarwestheim-fukushima-100.html
[4] https://www.heise.de/tp/news/Atomausstieg-Schlamperei-macht-sich-bezahlt-5074856.html
[5] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de
[6] https://www.heise.de/tp/news/Atomausstieg-Schlamperei-macht-sich-bezahlt-5074856.html
[7] https://www.spdfraktion.de/abgeordnete/kelber
[8] https://twitter.com/UlrichKelber/status/1367890373704638469?s=20
[9] https://www.dwd.de/DE/presse/pressekonferenzen/DE/2021/PK_09_03_2021/pressekonferenz.html;jsessionid=B806E2850CEDD292629F567E6E8A485E.live21073
[10] https://www.dwd.de/DE/presse/pressekonferenzen/DE/2021/PK_09_03_2021/pressemitteilung_20210309.pdf?__blob=publicationFile&v=6
[11] https://www.dwd.de/DE/presse/pressekonferenzen/DE/2021/PK_09_03_2021/pressemitteilung_20210309.pdf?__blob=publicationFile&v=6
[12] http://www.fao.org/3/ca9692en/online/ca9692en.html#chapter-executive_summary
[13] https://unfccc.int/news/un-chief-calls-for-immediate-global-action-to-phase-out-coal
[14] https://www.carbonbrief.org/analysis-major-update-to-ocean-heat-record-could-shrink-1-5c-carbon-budget
[15] https://www.metoffice.gov.uk/hadobs/hadsst4/
[16] https://unfccc.int/process-and-meetings/the-paris-agreement/the-paris-agreement
[17] https://twitter.com/for_essen/status/1178392840226914304?s=20
[18] https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen/klimaschutz-braucht-wettbewerb
[19] https://www.bund-nrw.de/themen/klima-energie/aktiv-werden/appell-laschets-windkraft-verbot-stoppen/
[20] https://twitter.com/Maurice_Conrad/status/1368143431348985856?s=20
[21] https://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/baden-wuerttemberg.htm
[22] https://www.klimaliste-bw.de/