Ehrung für ukrainischen SS-Kämpfer: Trudeau reicht Entschuldigung nach
Politischer Druck wächst. Jüdische Organisation fordert Freigabe von Regierungsinformationen über in Kanada lebende Nazi-Kriegsverbrecher. Vorgeworfen wird Zensur.
Es ist mehr als nur ein Zwischenfall, der die Tagesordnung stört. In Kanada hat der tosende Applaus im Parlament der Hauptstadt für einen ehemaligen SS-Kämpfer, wie sich nun zeigt, eine größere wunde Stelle offengelegt.
Nach fast fünf Tagen des Zögerns reichte Premierminister Justin Trudeau am gestrigen Mittwoch eine vorbehaltlose (i. O. "unreserved") Entschuldigung im Unterhaus nach:
Im Namen aller Abgeordneten dieses Hauses möchte ich mich vorbehaltlos für den Vorfall vom Freitag entschuldigen und mich bei Präsident Selenskyj und der ukrainischen Delegation für die Situation entschuldigen, in die sie gebracht wurden. Für uns alle, die wir anwesend waren, war es ein schrecklicher Fehler, diese Person unwissentlich anerkannt (i. O. "recognized") zu haben, und eine Verletzung des Gedenkens an diejenigen, die unter dem Nazi-Regime schwer gelitten haben.
Justin Trudeau
Die Erklärung, die der Premierminister am vergangenen Montag abgegeben hatte, war anscheinend nicht ausreichend, obwohl sie in Medien, auch hierzulande, bereits als Entschuldigung gewertet wurde.
Trudeau musste nachlegen. International litt das Ansehen Kanadas unter dem peinlichen Vorfall. Das hinterließ Spuren in der Regierung. Mit dem Rücktritt des Parlamentssprechers Rota war es nicht getan. Anthony Rota hatte den 98-jährigen Jaroslav Hunka als Gast ins Parlament zur Rede von Selenskyj eingeladen und als "ukrainischen und kanadischen Kriegshelden" vorgestellt, was stehende Ovationen und eine feierliche Geste des ukrainischen Präsidenten zur Folge hatte.
Danach stellte sich heraus, dass diese Ehrung ein großer Fehler war, weil Jaroslav Hunka im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Waffen-SS-Division Galizien war. Trudeau versuchte die Wellen der Entrüstung, die nach der Ehrung auf die kanadische Regierung zurollten, mit dem Verweis auf russische Propaganda, die sich an solchen Ereignissen aufbaue, in eine andere Richtung zu lenken.
Das ist ihm nicht gelungen, obwohl es reale und konkrete Beispiele dafür gibt, wie es die konservative kanadische Publikation National Post an Beispielen darlegt. Dem steht eine Entrüstungswelle gegenüber, die die schlichten russischen Propaganda-Fabrikate, die hauptsächlich ein Spezialpublikum erreichen, überspülte.
Wuchtiger und ernster für die Regierung in Ottawa ist: Der polnische Botschafter, Witold Dzielski, forderte eine Entschuldigung. Aus Warschau kamen sogar Signale, dass man über einen Auslieferungsantrag für Jaroslav Hunka nachdenke.
Und es gab starke und laute Proteste von jüdischen Organisationen in Kanada gegen die peinliche Ehrung eines Mannes, der jahrelang die Naziuniform in einem Land trug, wo im Zweiten Weltkrieg entsetzliche Massaker unter dem deutschen Besatzungsregime gegen Juden begangen wurden und Kollaborateure dabei zugegen waren, mitmachten oder den Massenmord an Polen und Juden ideologisch unterstützten.
Die Nazi-Vergangenheit von ukrainischen Unabhängigkeitskämpfern, die nach Kanada emigrierten, soll jetzt endlich genauer untersucht werden, so die aktuelle Forderung der kanadischen jüdischen Organisation B'nai Brith.
Die Regierung solle einen "noch immer geheimen, 40 Jahre alten Bericht und andere Dokumente freizugeben, die Einzelheiten über in Kanada lebende angebliche Nazi-Kriegsverbrecher enthalten".
Hintergrund ist, dass die kanadische Regierung 1986 nur einen Teil eines Berichts über Nazis, die sich in Kanada niedergelassen haben, veröffentlicht hat. Ein anderer Teil wurde zurückgehalten. Außerdem wird ihr vorgeworfen, einen Bericht aus demselben Jahr darüber, wie Nazis nach Kanada gelangen konnten, stark zensiert habe.
"Mehr als 600 Seiten dieses Dokuments, das diese Zeitung und andere Organisationen durch das Gesetz über den Zugang zu Informationen erhalten haben, wurden zensiert", berichtet die Zeitung Ottawa Citizen.
Laut der Zeitung drängt David Matas die jüdische Interessenvertretung auf die Freigabe der Akten der Kommission und des Justizministeriums. "Wir sind gegen eine Mauer gelaufen", wird er zitiert.
Ob die Regierung jetzt die Mauern abbaut, ist die Frage. Justizminister Arif Virani wird zwar mit der Erklärung zitiert, dass Kanada "über eine Abteilung für Kriegsverbrechen verfüge, die Ermittlungen durchführe und, wenn genügend Beweise vorlägen, Anklage erheben könne".
Er gab aber keine Aussage dazu ab, dass er die Öffnung der Akten für die Öffentlichkeit unterstützt. Einwanderungsminister von den Liberalen, Marc Miller, deutete gestern an, dass man die Freigabe erneut prüfen könnte.
Miller kommentierte dies mit einem Satz, der den wunden Punkt anspricht:
Kanada hat eine wirklich dunkle Geschichte mit Nazis in Kanada. Es gab einen Punkt in unserer Geschichte, an dem es einfacher war, als Nazi ins Land zu kommen wie als Jude. Ich denke, das ist eine Geschichte, mit der wir uns versöhnen müssen.
Marc Miller, kanadischer Minister für Einwanderung