"Eigentümliche Dosis an Optimismus"
Als "Jahrhundertprojekt" wird der vereinbarte Bau des Testreaktors ITER bezeichnet, dabei kann sich die Kernfusion als Sackgasse erweisen
Gestern haben die Industrienationen in Paris ein Finanzierungsabkommen über den Bau des teuersten Versuchsreaktors aller Zeiten unterzeichnet. Zehn Milliarden Euro sollen in den ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor) fließen. Auch mit den Klimaveränderungen begründete der französische Präsident Jacques Chirac sein Prestigeprojekt, dabei ist frühestens in 50 Jahren mit einem funktionierenden Reaktor zu rechnen, wenn es den Forschern überhaupt gelingt, über die Kernfusion eine positive Energiebilanz zu erreichen. In das Projekt fließt ein großer Teil der Forschungsgelder der EU, dabei könnte es sich auch als "Sackgasse" entpuppen, geben auch beteiligte Forscher zu.
Als „eine neue Etappe eines außergewöhnlichen Abenteuers“, mit dem die Menschheit sich „der Herausforderung der ökologischen Energie“ stelle, so beschrieb Chirac die Unterzeichnung des Finanzierungsabkommens gestern im Pariser Elysée-Palast. Er bezeichnete den ITER dabei als eine mögliche Antwort auf die knappen fossilen Ressourcen und im Kampf gegen die Erderwärmung und den Klimawandel. Sieben Projektpartner hatten ihre Unterschrift unter das Projekt zum Bau des Forschungsreaktors im südfranzösischen Cadarache gesetzt. Neben Chirac und dem Präsidenten der EU-Kommission José Manuel Durão Barroso waren deshalb auch Repräsentanten der beteiligten Staaten anwesend. Neben der EU sind das die USA, Japan, China, Russland, Indien und Südkorea.
Der Vertrag sieht vor, bis 2008 das Gelände in Cardarache für den Bau des ITER vorzubereiten. Jahrelang wurde über den Standort gestritten und erst im vergangenen Jahr setzte sich Frankreich durch und zog das Prestigeprojekt an Land (Frankreich strahlt. Etwa zehn Jahre werden vergehen, bis der Forschungsreaktor an der Rhone gebaut ist. Bislang hat das "Abenteuer" schon etwa fünf Milliarden Euro gekostet. 20 Jahre sollen dann im ITER Hunderte Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker arbeiten und den Fusionsreaktor dazu bringen, tatsächlich Energie zu erzeugen. Dafür werden schon jetzt weitere fünf Milliarden Euro veranschlagt. Das Abkommen sieht vor, dass die EU von den Kosten 45 Prozent übernimmt. Die übrigen Staaten beteiligen sich jeweils mit rund neun Prozent. Dabei kann es durchaus noch teurer kommen. Schließlich muss der Vertrag von den Parlamenten der jeweiligen Länder noch ratifiziert werden und hier kann es Überraschungen geben. Schließlich hatte sich die USA von 1998 bis 2003 schon einmal aus Projekt verabschiedet und Kanada ist 2004 ausgestiegen.
Wie bei den Sternen werden durch Kernfusion Wasserstoff mit Helium verschmolzen. In einem magnetischen Käfig müssen dabei Temperaturen von weit über 100 Millionen Grad Celsius erzeugt und der Brennstoff berührungslos in der Brennkammer eingeschlossen werden. Für diesen Vorgang wird viel Energie benötigt: etwa 500 Megawatt Strom für eine Zeitspanne von etwa 10 Sekunden, um den Reaktor anzufahren, danach werden weitere 50 Megawatt für etwa 12 Minuten zur Erhitzung des Plasmas benötigt und für den dauernden Betrieb weitere 120 Megawatt Strom. Würde das heiße Plasma die Reaktorwände berühren, würde es sofort abkühlen und die Fusion unmöglich machen, weshalb es durch extrem starke Magnetfelder in der Schwebe gehalten werden muss. Aus Schwerem Wasserstoff (Deuterium) und Lithium, aus dem das radioaktive Tritium entsteht, kommt es über die Deuterium-Tritium-Reaktion zu einer kontrollierten Fusion der Atomkerne. Das ist der wesentliche Unterschied zu einer unkontrollierten Reaktion, die in einer Wasserstoffbombe zum Einsatz kommt. Bei dem Prozess wird Helium gebildet und es werden große Mengen an Energie frei.
Bisher ist die Energiebilanz der Kernfusion aber negativ, die seit einem halben Jahrhundert die Phantasie der Forscher nach quasi unbegrenzt verfügbarer anregt. Zwar erzeugte 1997 die Kernfusions-Forschungsanlage JET (Joint European Torus) im britischen Culham bei Oxford 13 Megawatt Leistung, das waren aber nur 65 Prozent der Energie, die für die Fusion in der bisher größten Forschungsanlage aufgewandt werden musste. Der ITER soll nun dagegen 500 Megawatt Leistung bringen.
Da Deuterium und Lithium reichlich und überall vorhanden ist, von denen zudem nur geringe Mengen gebraucht werden, sprach Chirac von der "ökologischen Energie". Zudem, so wird als weiterer Vorteil angeführt, brauche man davon nur geringe Mengen. Anders als bei der Atomenergie, mit den begrenzten Uranvorkommen, stände praktisch unbegrenzt Energie zur Verfügung. Denn bei der Fusion von nur einem Gramm Wasserstoff werde so viel Energie freigesetzt wie bei der Verbrennung von acht Tonnen Erdöl. Auch der anfallende Atommüll wäre weitaus geringer als bei Atomkraftwerken, die Halbwertszeit von nur etwa 100 Jahren auch sehr viel kürzer.
ITER ist keine Lösung für den Klimawandel und die knapper werdenden Energieressourcen
Doch das ist noch Theorie. Wenn ITER überhaupt jemals Strom produziert, muss zudem ein Demonstrationsreaktor gebaut werden. Das wäre dann erst der Prototyp für ein kommerzielles Fusionskraftwerk, das frühestens, wenn alles wie geschmiert liefe, in etwa 50 Jahren ans Netz gehen könnte. Auch für die am Projekt beteiligten Forscher ist klar, dass der ITER ein Projekt mit offenem Ausgang ist: "Die Sache könnte sich durchaus als Sackgasse erweisen - zu schwierig, zu kompliziert, zu teuer", zitiert der Schweizer Tages-Anzeiger den am Projekt beteiligten Physiker Bill Spears. "Wir haben schlicht noch keine Erfahrung mit einem brennenden Plasma. ITER wird zeigen, ob die Sache funktioniert oder nicht." Schlägt das Projekt fehl, dürfte dies das Ende der künstlichen Kernfusion sein.
Angesichts dessen ist klar, warum Chirac das Projekt als Abenteuer bezeichnet. Der ITER wäre nicht das erste Milliardengrab, denkt man an den Schnellen Brüter in Kalkar. 3,5 Milliarden Euro wurden hier ab 1973 investiert. Zwar wurde er nach vielen Verzögerungen 1986 sogar fertig gestellt, dann aber nie in Betrieb genommen. 1995 ging er für 2,5 Millionen Euro an einen niederländischen Unternehmer, der aus ihm einen Freizeitpark machte.
"Es braucht eine eigentümliche Dosis an Optimismus, um sich vorzustellen, dass die industrielle Nutzung der Fusion in weniger als 50 Jahren zur Verfügung steht", sagte der Physiker Edouard Brézin, der Präsident der Akademie der Wissenschaften. Er tritt zwar für die weitere Fusionsforschung ein, doch verwehrt er sich dagegen, die Kernfusion quasi als Lösung aktueller Probleme zu präsentieren: "Die Erschöpfung der fossilen Energieträger und besonders die Erderwärmung sind dringende Probleme, gegen die sofort Maßnahmen getroffen werden müssen." Dafür könne der ITER nicht als "Alibi dienen", kritisiert er. Andere, wie der ehemalige französische Wissenschaftsminister, gehen in ihrer Kritik noch weiter. Claude Allègre hält den ITER für ein "Prestigeprojekt", das "wenig Aussicht auf Erfolg hat". Ähnliches befürchten auch der Physiknobelpreisträger Pierre-Gilles de Gennes und sein japanischer Preiskollege Masatoshi Koshiba.
Die Fusion ist also weder eine Lösung für die knapper werdenden Rohstoffe noch für den Klimawandel. Wer so tut, verschleiert nur die Probleme und verschlimmert sie letztlich. Es liegt aber nahe, dass die Politiker ihr Scheitern beim Klimaschutz, wie es gerade in Nairobi zelebriert wurde, mit "Pharaonischen Projekten" zukleistern wollen, wie Umweltorganisationen in Frankreich kritisieren. Das größte Problem des ITER ist derzeit, dass die Forschung stark auf dieses ungewisse Großprojekt eingeschworen wird. Gegen die zehn Milliarden Euro, die allein in das Projekt gesteckt werden sollen, verblasst die Fördersumme von 770 Millionen Euro (2007 – 2013) für die Bereiche erneuerbare Energien und Energieeffizienz (Noch mehr Geld für Atomforschung?).
Doch über den Einsatz der erneuerbaren Energien, vor allem die Nutzung des großen Fusionsreaktors Sonne, könnte schon jetzt direkt Einfluss auf die Erderwärmung und eine Antwort auf die knapper werdenden Ressourcen gegeben werden und nicht erst - vielleicht - in 50 Jahren. So könnte zum Beispiel das sonnenreiche Land Spanien die für 2050 berechnete Energiemenge von 280 Terrawattstunden gleich zehnfach über erneuerbare Energie decken. Strom stände sogar in 55facher Menge zur Verfügung (Spaniens schmutzige Klimapolitik). Statt Energie zu importieren, könnte es sie exportieren. Man darf auch davon ausgehen, dass die Bilanz besser wäre, wenn man derart hohe Summen in die Forschung für erneuerbare Energien gesteckt hätte und stecken würde, wie sie einst in die Atomforschung flossen und nun in die Fusionsforschung fließen werden.