Ein Großteil der Welt steht ambivalent zum Ukrainekrieg. Und das zu Recht

Russland-Afrika-Gipfel im Oktober 2019 in Sochi. Bild: Mikhail Metzel, Tass

In Asien, Afrika und der arabischen Welt herrscht die Ansicht vor, dass Europa sich in eine Katastrophe stürzt – und dass die internationale Ordnung zerfällt

In weiten Teilen Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens waren bislang zurückhaltende Reaktion auf den Krieg in der Ukraine zu verzeichnen. Es ist eine tönende Stille.

In den Vereinten Nationen haben sich 52 Mitgliedsstaaten entweder der Stimme enthalten oder einfach nicht über die UN-Resolution abgestimmt, die die russische Invasion in die Ukraine verurteilt.

Ihr Schweigen sollte nicht als Duldung der Invasion oder als Feindseligkeit gegenüber dem Westen interpretiert werden, sondern als Zeichen der Zwiespältigkeit gegenüber der sich abzeichnenden neuen Weltordnung. Diese Ambivalenz fand im Abstimmungsergebnis ihren Ausdruck.

Radha Stirling ist Gründerin der in Großbritannien ansässigen Menschenrechtsorganisation Detained in Dubai. Sie ist Kolumnistin der englischsprachigen Onlinezeitung Times of Israel, in der dieser Kommentar zuerst erschienen ist.

Für die arabische Welt kann man mit Sicherheit sagen, dass die kollektive Empörung im Westen über die Invasion eines schwächeren Landes durch ein stärkeres Land als auffällig inkonsistent angesehen wird.

Schließlich haben US-Truppen mehr als 6.000 Meilen (ca. 9.656 km) zurückgelegt, um wegen einer nicht vorhandenen Bedrohung in den Irak einzumarschieren, während Russland in ein Nachbarland eingedrungen ist, das hochgerüstet worden ist und das erwogen hat, sich einem als feindliches empfundenen Militärbündnis anzuschließen.

Die Ironie in dieser Sache wird in der arabischen Öffentlichkeit durchaus wahrgenommen.

Ferner geht man hier davon aus, dass die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland ihre Wirkung in den Entwicklungsländern auf vorhersehbar verheerende Weise entfalten werden. US-Präsident Joe Biden aber hat lediglich bekräftigt, dass sein Hauptanliegen darin besteht, sicherzustellen, die US-Amerikaner von den negativen Folgen zu beschützen – hauptsächlich an der Zapfsäule.

Etwa 30 Prozent der weltweiten Weizenversorgung könnten vom Markt verschwinden, was dazu führt, dass die Preise für lebenswichtige Lebensmittel auf ein gefährlich hohes Niveau steigen.

Das letzte Mal, als die Brotpreise derart anstiegen, war das Anlass für den Ausbruch des Arabischen Frühlings. Russland und die Ukraine sind zusammen weitgehend für die Ernährung des Nahen Ostens verantwortlich. Niemand in der Region hat daher ein Interesse, einen kriegerischen Konflikt zu befördern.

Globaler Süden will für Ukraine keine Risiken eingehen

Denn jede Verlängerung des Konflikts wird zweifellos zu katastrophaler Ernährungsunsicherheit, Instabilität und politischen Unruhen führen. Dies wäre einigen zu einem anderen Zeitpunkt mitunter zupassegekommen. Aber nach einer zweijährigen Pandemie ist niemand bereit, sich einer Welle wirtschaftlicher Probleme und Unsicherheiten auszusetzen, nur damit die Ukraine der Nato beitreten kann.

In den letzten zehn Jahren hat sich Russland zu einem wichtigen Handels- und Investitionspartner für Afrika und Asien in Bereichen wie Sicherheit, Verteidigung, Ressourcengewinnung und Energie entwickelt. Der Eifer des Westens, Russland zu bestrafen und zu isolieren, wird daher auch Länder des Globalen Südens nachhaltig treffen, die, wie bereits erwähnt, vom moralischen Imperativ, die Souveränität der Ukraine zu verteidigen, keineswegs überzeugt sind.

Die OPEC-Staaten, insbesondere am Golf, sind nun aufgefordert worden, die Ölproduktion und die Exporte nach Europa zu erhöhen, um den Kontinent aus der Abhängigkeit von russischer Energie zu befreien und den explodierenden Ölpreis zu senken.

Aber sie sehen, dass die USA keine entsprechenden Schritte unternimmt. Sie fragen sich daher zweifellos, warum von ihnen erwartet werden sollte, dass sie mehr tun als diejenigen, die das Streben nach Sanktionen befeuern, und warum sie in der Pflicht stehen sollten, Europas Kampagne gegen Russland zu subventionieren.

Zerstörung im Ukraine-Krieg (14 Bilder)

Zerbombte Trambahn in Charkiw. Bild: Mvs.gov.ua / CC-BY-4.0

Die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, angeblich zwei der engsten Verbündeten der USA am Golf, waren in Bezug auf russische Sanktionen und Washingtons Forderungen nach Energiezusammenarbeit besonders zurückhaltend.

Beide Länder haben sich während der Krise geweigert, Anrufe des US-Präsidenten entgegenzunehmen, scheinen aber in regelmäßiger Kommunikation mit Moskau zu stehen.

Die VAE haben ihren Widerstand bekräftigt, indem sie ihre Macht über den globalen Ölmarkt zur Schau stellten.

Arabische Ölstaaten sehen sich in neuer Machtposition

Als Mitte der zweiten Märzwoche die Ölpreise um 13 Prozent fielen, weil ein lokaler Beamter die Bereitschaft des Landes in Aussicht stellte, die Produktion zu steigern, intervenierte der Energieminister der Vereinigten Arabischen Emirate umgehend. Er revidierte die Ankündigung und verwies auf ein bestehendes OPEC-Abkommen über Produktionsquoten. Der Ölpreis stieg umgehend wieder an.

Die VAE fühlen sich in der aktuellen Lage eindeutig gestärkt. Ich warne seit Jahren vor der westlichen Zurückhaltung vor den Emiraten. Dadurch wurde ein gefährlicher Rivale aufgebaut, der sich als Verbündeter ausgibt.

Die VAE haben die US-amerikanische Toleranz wiederholt auf die Probe gestellt. Und sie haben gelernt, dass sie niemals zur Rechenschaft gezogen werden. Sowohl Dubai als auch Abu Dhabi haben ihre Beziehungen zu Russland und China in den letzten zehn Jahren ausgebaut und konnten sich gleichzeitig auf den Schutz der USA verlassen. Sie glauben, dass sie inzwischen zu mächtig sind, um westliche Forderungen akzeptieren zu müssen.

Es ist kein Geheimnis, dass Saudi-Arabien und die Emirate Einwände gegen US-Verhandlungen mit dem Iran erheben und russische politische Unterstützung in ihrem Krieg gegen vom Iran unterstützte Houthi-Rebellen im Jemen gesucht haben.

Als beide Länder Drohnenangriffe durch die Houthis erlitten und wollten, dass die Gruppe als terroristische Organisation bezeichnet wird, hielt sich Russland daran, aber die USA ruderten zurück; Biden rief Abu Dhabi erst drei Wochen an, nachdem die VAE Ziel von Angriffen wurden.

Mohammed bin Zayed, der De-facto-Herrscher der Vereinigten Arabischen Emirate, sieht sein Land nicht nur als Regionalmacht, sondern auch als Global Player. Er verfolgt strategische Partnerschaften – auch mit Israel – und versucht zuletzt, die Beziehungen zur Türkei wieder zu verbessern.

Ohne Zweifel sieht er die Zusammenarbeit seines Landes mit Russland als ein Schlüsselelement in seinen Plänen für einen erweiterten Einfluss an.

Asien, Afrika und arabische Staaten sehen globale Ordnung in Zerfall

In Asien, Afrika und der arabischen Welt verstärkt sich das untrügliche Gefühl ab, dass Europa mit Blick auf die Ukraine in eine Katastrophe gezogen wird und dass die internationale Ordnung selbst im Zerfall begriffen ist. Während sich westliche Nationen kopfüber in die Krise stürzen, sind Länder im Nahen Osten, im asiatisch-pazifischen Raum und Afrika damit befasst, die Auswirkungen für ihre eigenen Völker ebenso abzuschätzen wie das Schicksal, das eine deglobalisierte Zukunft für sie bereithält.

Während die westliche Einheit in der Ukraine-Frage auf den ersten Blick als ein Zeichen der Stärke daherkommt, sieht die übrige Welt darin eine tiefgreifende Selbstsabotage, die in den kommenden Jahren durchaus zu kontinentalem Chaos führen kann; den US-amerikanischen Rückzug als führende Ordnungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschlossen.

Die zehn größten Städte der Ukraine (21 Bilder)

Viele Beobachter im Globalen Süden sehen die Russland-Sanktionen und ihre unvermeidlichen zerstörerischen Auswirkungen in Europa als Teil des seit Langem diskutierten US-amerikanischen Perspektivwechsels nach Asien. Jeder versucht derzeit abzuschätzen, wie diese neue globale Dynamik aussehen wird und man selbst seine Rolle darin definieren kann.

Es wird davon gesprochen, die Blockfreien-Bewegung aus der Zeit des Kalten Krieges wiederzubeleben, die um Bewusstsein der Entwicklungsländer nach wie vor präsent ist. Länder vom Golf bis hin in den Fernen Osten gehen aber auch davon aus, dass sie ohne westliche Hegemonie für sich selbst sorgen und neue wirtschaftliche wie politische Allianzen knüpfen müssen.

Der Krieg in der Ukraine ist für viele Akteure im Globalen Süden ein Wendepunkt, und sie haben mehr denn je das Gefühl, dass sie ihre Freunde sorgfältig auswählen müssen. Damit werden sie Recht behalten.