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Ein Jahr Krieg: Belastungsprobe für die deutsch-US-amerikanischen Beziehungen

Biden und Scholz beim G7-Treffen im Schloss Elmau im Juni 2022. Bild: Presseabteilung Bundesregierung

Die Eskalation des Krieges und eine mögliche chinesische Beteiligung werden Berlin zwingen, sich für eine Seite zu entscheiden. Eine harte Probe für die transatlantische Freundschaft. Welche Rolle spielt die deutsche Industrie dabei?

Ein Jahr nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine scheint das transatlantische Bündnis wiederbelebt und stärker denn je. Ein wichtiger Bestandteil ist die strategische Beziehung zwischen den USA und Deutschland. Doch aufgrund der wirtschaftlichen und geopolitischen Spannungen der letzten zwölf Monate könnte die Partnerschaft in raue See geraten.

Suzanne Loftus ist Research Fellow am Quincy Institute.

Seit Russlands Einmarsch in der Ukraine vor einem Jahr hat der Westen historisch beispiellose Sanktionen gegen Russland verhängt, die auch den Energiesektor Deutschlands betreffen. Seit den 1980er-Jahren ist das Land auf billiges russisches Gas angewiesen, um seine riesige Industrieproduktion zu versorgen.

Die Hälfte der deutschen Wirtschaftsleistung und fast zwei Drittel der Arbeitsplätze in Deutschland entfallen auf den Mittelstand [1], d. h. auf die 2,6 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, die nur begrenzt in der Lage sind, auf plötzlich steigende Produktionskosten zu reagieren. Daher war es für Deutschland besonders schwierig, mit den Auswirkungen des plötzlichen Abbruchs der russischen Energielieferungen fertig zu werden.

Während Deutschland mit einer drohenden Rezession [2] und einem Rückgang des Lebensstandards konfrontiert ist, haben die Vereinigten Staaten teures Flüssigerdgas an Deutschland verkauft, um damit das russische Gas zu ersetzen. Die USA haben davon erheblich profitiert [3].

Prognosen zufolge wird der europäische LNG-Bedarf von 2021 bis 2040 [4] um 150 Prozent steigen [5]. Zwar fließt bereits jetzt amerikanisches LNG in Rekordmengen, doch es wird noch viel mehr davon benötigt, um die europäischen Gasmärkte wieder ins Gleichgewicht zu bringen [6].

Die Kosten, die mit dieser verstärkten Abhängigkeit von Flüssiggas verbunden sind, werden tiefgreifende Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie haben. Deutschland und Frankreich haben den USA vorgeworfen, auf Kosten der Europäer von dem Krieg zu profitieren. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire warnte davor [7], dass der Konflikt in der Ukraine zu einer wirtschaftlichen Dominanz der USA und einer Schwächung Europas führen könnte.

Darüber hinaus hat US-Präsident Joe Biden ein Subventionsprogramm (Inflation Reduction Act, kurz IRA [8]) auf den Weg gebracht, mit dem der Klimawandel bekämpft und gleichzeitig die Industrie und die Infrastruktur in den USA erneuert werden sollen.

Während die Maßnahmen zur Unterstützung der US-Industrie aus innenpolitischen Gründen verständlich sind, birgt die protektionistische Politik Washingtons die Gefahr, dass wichtige Teile der europäischen Industrie nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Die deutsche Autoindustrie ist durch das Gesetz besonders gefährdet [9].

Die IRA schreibt vor, dass für grüne Technologien wie Elektrofahrzeuge Teile aus US-amerikanischer Produktion verwendet werden müssen. Außerdem werden hohe Subventionen für grünen Wasserstoff versprochen, was für europäische Hersteller einen Anreiz darstellt, ihre Geschäfte in die Vereinigten Staaten zu verlagern [10].

Das gilt insbesondere für energieintensive Industrien, die aufgrund der niedrigeren Gas- und Stromkosten bereits beginnen, ihre Produktion nach Übersee zu verlagern. Die deutsche Sorge vor einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Wirtschaft und einer Deindustrialisierung wird sich sicherlich verstärken.

Während des gesamten letzten Jahres hat die US-Regierung, gefolgt vom Nato-Generalsekretariat und einigen europäischen Regierungen, unmissverständliche politische Erklärungen abgegeben, die diesen Krieg als einen globalen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie [11] darstellen.

Der neue Elan, der hinter diesem ideologischen Kampf steht, umfasst neue Taktiken wie das "Friendshoring" [12], bei dem die westlichen Demokratien in gleich gesinnte Länder investieren und zugleich ihre Abhängigkeit von Autokratien vermindern.

Dazu gehört auch die Umleitung von Lieferketten in politisch und wirtschaftlich "sichere" Länder, um mögliche Störungen zu vermeiden. Grund für diese Politik sind die Erschütterungen der Weltwirtschaft durch die Covid-19-Pandemie und den Einmarsch Russlands in der Ukraine.

Trotz dieser neu erkannten Bedrohungen stehen die Taten der Vereinigten Staaten und Deutschlands in krassem Widerspruch zu ihren politischen Erklärungen und ihren wechselseitigen Verpflichtungen.

Die IRA enthält keine Maßnahmen, die den Schutz oder die Subventionen auf Verbündete ausweitet. Er sendet eine klare protektionistische Botschaft an Amerikas Freunde im Ausland. Die EU wiederum hat im Gegenzug ihren Green Deal Industrial Plan [13] präsentiert. Es ist ein Plan zur Bereitstellung von Subventionen für grüne Energie, der die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie angesichts des amerikanischen Protektionismus und der hohen Energiepreise stärken soll.

Die deutsche Industrie könnte bei der China-Politik die Reißleine ziehen

Zwar sind Handelsstreitigkeiten zwischen der EU und den Vereinigten Staaten nichts Neues, doch könnte dieses aktuelle "Geplänkel" um grüne Subventionen eine neue Ära des Protektionismus einläuten, die die globalen Beziehungen, den internationalen Handel und die Zusammenarbeit in einer geopolitisch angespannten Zeit beeinträchtigt.

Ebenfalls im Widerspruch zu den Grundsätzen des "Friendshoring" scheint Deutschland seine Abhängigkeit von China zu erhöhen [14], was in den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern mit Sorge gesehen wird [15]. Im November letzten Jahres besuchte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz [16] mit einer Wirtschaftsdelegation großer deutscher Unternehmen Beijing. Damit wird das anhaltende Interesse des Kanzleramts an engen Wirtschaftsbeziehungen zu China unterstrichen, obwohl die Regierungskoalition unter Scholz in Bezug auf die deutsche China-Politik tief gespalten ist [17].

Die Autoindustrie des Landes ist besonders abhängig von China, da Volkswagen mindestens die Hälfte seines Gewinns [18] auf dem chinesischen Markt erzielt. Im Jahr 2022 investierte Deutschland eine Rekordsumme von zehn Milliarden Euro [19] in die chinesische Wirtschaft.

Erschwerend kommt hinzu, dass ein bahnbrechender Bericht von Seymour Hersh [20] kürzlich nahelegte, dass die USA hinter den Bombenanschlägen auf die Nord-Stream-Pipeline im vergangenen Jahr stecken könnten.

Frühere Untersuchungen der schwedischen, deutschen und dänischen Regierung haben ergeben, dass es sich bei dem Vorfall tatsächlich um einen Sabotageakt eines staatlichen Akteurs handelte [21], der Täter aber noch unbekannt sei. Einige Monate später folgte ein Bericht der Washington Post [22], in dem es hieß, es seien keine Beweise dafür gefunden worden, dass die Tat von den Russen begangen wurde, was die Öffentlichkeit im Zweifel darüber ließ, wer der Täter wirklich sein könnte.

Die deutsche Regierung hat auf Hershs Anschuldigungen nicht reagiert, zumindest nicht öffentlich. Die deutschen Mainstream-Medien reagierten verspätet auf Hershs Artikel, aber nur, um ihn abzutun, ohne ernsthafte Untersuchungen zu fordern.

Das lässt zweierlei vermuten: Entweder glauben die Deutschen nicht an die Richtigkeit der Anschuldigungen und ignorieren sie einfach, oder sie sehen sich politisch nicht in der Lage, angesichts der konfrontativen geopolitischen Lage, in der sich der Westen heute befindet, irgendetwas Negatives Richtung USA zu äußern.

Sollten sich die Schilderungen von Hersh als wahr erweisen, würde es darauf hindeuten, dass es den USA daran gelegen ist, Deutschland inmitten des russischen Angriffs in der Ukraine "auf Linie zu halten", aus Angst, dass das Land seine dringend benötigten Gaslieferungen einfach weiter von Russland beziehen würde. Es würde zudem darauf hindeuten, dass die Hauptachse, die seit 1945 ein wichtiger Bestandteil der US-Macht in der Welt ist, auf viel wackligeren Füßen steht, als es nach außen hin den Anschein hat.

Ein Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine behauptet US-Außenminister Anthony Blinken bei seinem Treffen mit seinem Amtskollegen Wang Li auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass China erwägt, Russland Militärhilfe zukommen zu lassen [23]. Die Chinesen haben sich nicht offiziell dazu geäußert, aber sollten sie tatsächlich diesen Weg einschlagen, werden die Vereinigten Staaten zweifellos darauf reagieren wollen.

Mögliche Reaktionen könnten darin bestehen, Sanktionen gegen China zu verhängen, die strikte Einhaltung des Sanktionsregimes gegen Russland noch stärker zu fordern, die US-Militärhilfe für Taiwan zu erhöhen oder die militärische Präsenz der USA in Asien auszubauen.

Angesichts der wirtschaftlichen Bedenken Deutschlands könnte es den Vereinigten Staaten schwerfallen, bei ihren transatlantischen Verbündeten die nötige Unterstützung zu finden, um gegenüber China so konfrontativ zu sein, wie sie es gerne würden. Wenn der Ukraine-Krieg eskaliert und die Chinesen sich möglicherweise noch stärker einmischen, was Deutschland zwingen würde, sich für eine Seite entscheiden zu müssen, dann wird das eine echte Bewährungsprobe für die Beziehung zu den USA bedeuten.

Eines ist jedoch klar: Sollte Deutschland in so kurzer Zeit seine wirtschaftlichen Beziehungen sowohl zu Russland als auch zu China kappen, befindet sich das Land auf einem sicheren Weg Richtung wirtschaftlicher Selbstsabotage, insbesondere angesichts des erneuten amerikanischen Protektionismus.

Wie weit Deutschland bereit ist, aufgrund von Werten und geopolitischen Erwägungen zu gehen, bleibt abzuwarten. Aber die Beziehung zwischen den USA und Deutschland wird in Zukunft vor schwierigen Prüfungen stehen.

Die Bereitschaft der liberalen europäischen Regierungen, dem amerikanischen Beispiel zu folgen, war in den vergangenen zwei Jahren vornehmlich der Tatsache zu verdanken, dass ein demokratischer Präsident im Weißen Haus sitzt.

Sollte in zwei Jahren wieder eine nicht-atlantische Figur wie Donald Trump die Präsidentschaft übernehmen, könnte das die Beziehungen ernsthaft schwächen – selbst wenn die zunehmende wirtschaftliche Sorge um die deutsche Industrie die Bundesregierung dazu veranlassen sollte, eine härtere Haltung gegenüber dem Druck der USA, China zu isolieren, einzunehmen.

Das sind wichtige Faktoren, die in den USA berücksichtigt werden müssen, wenn wir angesichts des Jahrestags der russischen Invasion in die Ukraine darüber nachdenken, wie wir diesen Konflikt beenden können, bevor eine weitere Eskalation und eine größere geopolitische Konfrontation riskiert wird.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft [24]. Übersetzung: David Goeßmann.

Suzanne Loftus ist Research Fellow im Eurasien-Programm des Quincy Institute. Sie ist spezialisiert auf die russische Außen- und Innenpolitik, Nationalismus und Identität sowie den strategischen Wettbewerb zwischen den Großmächten. Bevor sie zum Quincy Institute kam, arbeitete sie für das Verteidigungsministerium als Professorin für nationale Sicherheit am George C. Marshall European Center for Security Studies in Deutschland. Zuvor war sie bei den Vereinten Nationen in Genf und in der Privatwirtschaft tätig.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7527375

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/mediathek/bilaterale-gespraeche-in-bildern-2055752
[2] https://www.dw.com/en/economy-recession-rears-its-ugly-head-in-germany/a-63444401
[3] https://markets.businessinsider.com/news/commodities/us-natural-gas-exports-europe-surge-energy-crisis-trader-profits-2022-8
[4] https://www.api.org/news-policy-and-issues/news/2022/09/26/us-lng-to-meet-europe-energy-needs-in-short-and-long-term#:~:text=Without%20Russian%20pipeline%20gas%2C%20Europe's,natural%20gas%20demand%20through%202030.
[5] https://www.api.org/news-policy-and-issues/news/2022/09/26/us-lng-to-meet-europe-energy-needs-in-short-and-long-term#:~:text=Without%20Russian%20pipeline%20gas%2C%20Europe's,natural%20gas%20demand%20through%202030.
[6] https://www.api.org/news-policy-and-issues/news/2022/09/26/us-lng-to-meet-europe-energy-needs-in-short-and-long-term#:~:text=Without%20Russian%20pipeline%20gas%2C%20Europe's,natural%20gas%20demand%20through%202030.
[7] https://balkangreenenergynews.com/france-joins-germany-in-accusing-us-of-using-ukraine-war-to-overcharge-for-gas/
[8] https://www.democrats.senate.gov/imo/media/doc/inflation_reduction_act_one_page_summary.pdf
[9] https://www.ft.com/content/4024a766-3578-403b-93be-5f5efbfd93f5
[10] https://markets.businessinsider.com/news/commodities/europe-natural-gas-prices-energy-crisis-manufacturing-work-shift-us-2022-9
[11] https://thediplomat.com/2022/03/the-battle-between-democracy-and-autocracy-from-russia-to-cambodia/
[12] https://www.nytimes.com/2022/11/18/business/friendshoring-jargon-business.html
[13] https://edition.cnn.com/2023/02/01/business/europe-green-deal-industrial-plan/index.html
[14] https://www.reuters.com/world/german-dependence-china-growing-tremendous-pace-iw-2022-08-19/
[15] https://www.npr.org/2022/11/03/1133867028/germany-olaf-scholz-china-trip
[16] https://www.wsj.com/articles/olaf-scholz-goes-to-beijing-china-russia-ukraine-diplomatic-mission-xi-jinping-germany-11667413028
[17] https://www.wsj.com/articles/olaf-scholz-goes-to-beijing-china-russia-ukraine-diplomatic-mission-xi-jinping-germany-11667413028
[18] https://consent.yahoo.com/v2/collectConsent?sessionId=3_cc-session_d2576a18-9469-4d0d-96de-0c7da0a28721
[19] https://www.reuters.com/world/german-dependence-china-growing-tremendous-pace-iw-2022-08-19/
[20] https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream
[21] https://www.msn.com/en-ca/news/world/sweden-sees-deliberate-act-of-a-state-actor-in-nord-stream-sabotage/ar-AA12r4Ff
[22] https://www.washingtonpost.com/national-security/2022/12/21/russia-nord-stream-explosions/
[23] https://www.npr.org/2023/02/18/1158163576/blinken-meets-with-china-top-diplomat-first-meeting-since-balloon
[24] https://responsiblestatecraft.org/2023/02/24/one-year-later-are-us-german-relations-headed-toward-rough-seas/